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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Beschluss verkündet am 12.11.2002
Aktenzeichen: 4 Ws 167/02
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 322
StPO § 302
Zur Auslegung einer Erklärung des Angeklagten als Rechtsmittelverzicht.
4 Ws 167/02 OLG Hamm

Beschluss

Strafsache

wegen Betruges

(hier: sofortige Beschwerde des Angeklagten gegen einen Verwerfungsbeschluss gemäß § 322 Abs. 1 StPO).

Auf die sofortige Beschwerde des Angeklagten gegen den Beschluss der 3. kleinen Strafkammer des Landgerichts Paderborn vom 2. Juli 2002 hat der 4. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 12. 11. 2002 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht und die Richter am Oberlandesgericht nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft beschlossen:

Tenor:

Der angefochtene Beschluss wird, soweit die Berufung des Angeklagten gegen das Urteil des Amtsgerichts Lippstadt vom 19. März 2002 als unzulässig verworfen worden ist, auf Kosten der Landeskasse aufgehoben.

Gründe:

I.

Der Angeklagte ist durch Urteil des Amtsgerichts Lippstadt vom 19. März 2002 wegen Betruges zu einer Freiheitsstrafe von acht Monaten unter Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt worden.

Ausweislich des Protokolls haben der im Hauptverhandlungstermin anwaltlich nicht vertretene Angeklagte und der Vertreter der Staatsanwaltschaft erklärt: "Wir verzichten auf die Einlegung eines Rechtsmittels".

Die Erklärung wurde vorgelesen und genehmigt.

Mit Schreiben seines nunmehrigen Verteidigers vom 21. März 2002 hat der Angeklagte gegen das Urteil "Rechtsmittel" eingelegt, das mit weiterem Schreiben vom 18. April 2002 als Berufung bezeichnet worden ist.

Das Amtsgericht Lippstadt hat die Berufung mit Beschluss vom 2. Mai 2002 als unzulässig, da verspätet, verworfen und diesen Beschluss mit weiterem Beschluss vom 28. Mai 2002 "wegen eines offensichtlichen Fassungsversehens in seinen Gründen" dahingehend "neu gefasst", dass das angefochtene Urteil aufgrund Rechtsmittelverzichts in Rechtskraft erwachsen und die dagegen eingelegte Berufung unzulässig sei.

Mit Beschluss vom 2. Juli 2002 hat die 3. kleine Strafkammer des Landgerichts Paderborn die Beschlüsse des Amtsgerichts Lippstadt vom 2. und 28. Mai 2002 aufgehoben und die Berufung des Angeklagten gegen das Urteil des Amtsgerichts Lippstadt vom 19. März 2002 gemäß § 322 Abs. 1 StPO als unzulässig verworfen,

da der Angeklagte nach erteilter Rechtsmittelbelehrung wirksam auf die Einlegung eines Rechtsmittels verzichtet habe.

II.

Die - erkennbar nur - gegen die Verwerfung der Berufung gerichtete sofortige Beschwerde des Angeklagten ist gemäß §§ 311 Abs. 2, 322 Abs. 2 StPO statthaft und zulässig und im tenorierten Umfang begründet.

Ein wirksamer Rechtsmittelverzicht des Angeklagten bezüglich des amtsgerichtlichen Urteils vom 19. März 2002 liegt nicht vor.

Auf Veranlassung des Senats haben die am Hauptverhandlungstermin vom 19. März 2002 beteiligten Gerichtspersonen Richter am Amtsgericht A. als Vorsitzender und Justizangestellte M. als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle zur Frage des Rechtsmittelverzichts dienstliche Äußerungen abgegeben, die wie folgt lauten:

"Auf Anfrage des Oberlandesgerichts Hamm zur Frage der Rechtsmittelbelehrung und eines etwaigen Rechtsmittelverzichtes äußere ich mich dienstlich wie folgt:

Der Angeklagte wurde nach dem Urteil wie folgt belehrt:

"Sie können das alles als ungerecht empfinden. Darum haben Sie die Möglichkeit, von heute an innerhalb einer Frist von einer Woche gegen das Urteil vorzugehen, und zwar mit der Berufung oder der Revision. Im Fall der Berufung schicke ich die Akten zum Landgericht in Paderborn. Dort findet dann eine komplett neue Gerichtsverhandlung statt. Im Fall der Revision lege ich die Akten dem Oberlandesgericht in Hamm vor. Dort wird geprüft, ob wir hier die Paragrafen richtig angewendet haben. Beide Rechtsmittel sind schriftlich oder mündlich zur Niederschrift beim Amtsgericht einzulegen. Für die Revision gilt noch eine Besonderheit: Sie muss innerhalb einer Frist von einem Monat nach Zugang des schriftlichen Urteils - Sie kriegen das Urteil ja noch einmal durch die Post - schriftlich durch einen Rechtsanwalt begründet werden, soll sie Aussicht auf Erfolg haben."

Darauf erwiderte der Angeklagte: "Das hat ja doch alles keinen Zweck."

Ich habe entgegnet: "Natürlich, dafür sind die anderen Gerichte doch da!"

Der Angeklagte sprach daraufhin: "Nein."

In diesem Moment erklärte der Sitzungsvertreter: "Ich erkläre ebenfalls Rechtsmittelverzicht."

Daraufhin las die Protokollführerin die Formel vor:

"Der Angeklagte und der Vertreter der Staatsanwaltschaft erklärten: Wir verzichten auf die Einlegung eines Rechtsmittels."

Hier habe ich den Angeklagten noch einmal gefragt: "Ist das richtig so?"

Seine Antwort war: "Ja."

Daraufhin hat die Protokollführerin erklärt: "vorgelesen und genehmigt."

...

Lippstadt, den 18. September 2002

Unterschrift

Richter am Amtsgericht."

Die Protokollführerin hat sich dienstlich wie folgt geäußert:

Zur Rechtsmittelerklärung hat der Angeklagte erst erklärt, das hätte ja sowieso keinen Zweck.

Der Vorsitzende hat dann noch Mal gefragt, ob er wirklich das Urteil annehmen wolle.

Der Angeklagte muss das bejaht haben, denn sonst hätte ich mir in meinen Protokoll keinen Rechtsmittelverzicht sowohl vom Angeklagten und vom Staatsanwalt vermerkt.

Daraufhin habe ich die Formel:

Der Angeklagte und der Vertreter der Staatsanwaltschaft erklärten:

"Wir verzichten auf die Einlegung eines Rechtsmittels."

vorgelesen.

Nach dem Vorlesen haben weder Staatsanwalt noch der Angeklagte hiergegen Einwand erhoben.

Lippstadt, 06. September 2002

Unterschrift

Justizangestellte"

Der Rechtsmittelverzicht eines Angeklagten ist nur dann wirksam, wenn der Wille, von der Anfechtung des Urteils abzusehen, eindeutig und zweifelsfrei zum Ausdruck kommt. Bleiben Zweifel, ob das Erklärte dem wirklich Gewollten entspricht, liegt ein wirksamer Rechtsmittelverzicht nicht vor (vgl. KK-Ruß, StPO, 4. Aufl., § 302 Rdnr. 11 m.w.N.).

Der dienstlichen Äußerung des Amtsrichters folgend hat der Angeklagte auf die ihm erteilte Rechtsmittelbelehrung zunächst erklärt, das habe doch alles keinen Zweck. Auf die Entgegnung des Amtsrichters, dafür seien die anderen Gerichte doch da, hat der Angeklagte mit "Nein" geantwortet. Bis zu diesem Zeitpunkt hat der Angeklagte weder wörtlich noch sinngemäß auf die Einlegung eines Rechtsmittels verzichtet, sondern lediglich seine Auffassung von der fehlenden Erfolgsaussicht eines Rechtsmittels kundgetan. Die anschließende Äußerung des Sitzungsvertreters der Staatsanwaltschaft, er erkläre ebenfalls Rechtsmittelverzicht, beruht daher ebenso wie die von der Protokollführerin - ohne Veranlassung des Vorsitzenden - protokollierte Erklärung "Wir verzichten auf die Einlegung eines Rechtsmittels" auf einer vorschnellen und möglicherweise falschen Interpretation einer bislang unklaren und missverständlichen Aussage des Angeklagten. Die nachträgliche bloße Bejahung der Frage des Vorsitzenden, ob das so richtig sei, ist nicht als Rechtsmittelverzicht wirksam. Der Rechtsmittelverzicht bedarf der Schriftform. Die im Sitzungsprotokoll vermerkte Erklärung genügt grundsätzlich dem Formerfordernis, sofern der Vermerk dem Angeklagten vorgelesen und sodann von diesem genehmigt worden ist (vgl. KK-Ruß, a.a.O., Rdnr. 8 u. 9 m.w.N.). Wesentlicher Zweck dieses Formzwanges ist es, den zur Einlegung eines Rechtsmittels Berechtigten im Hinblick auf die Unwiderruflichkeit einer Rechtsmittelverzichtserklärung (vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 45. Aufl., Rdnr. 9 m.w.N.) vor unüberlegten Entschlüssen zu bewahren (vgl. BGHSt 18, 257, 260). Dieser Zweck würde unterlaufen, wenn das bloße "Ja" auf eine Frage, die - zumindest möglicherweise - auf einer Fehlinterpretation der vorherigen Äußerungen des Angeklagten beruht, als wirksamer schriftlicher Rechtsmittelverzicht gewertet würde.

Die richterliche Fürsorgepflicht hätte es unter diesen Umständen geboten, durch eine klare und konkrete Befragung des Angeklagten auf dessen eindeutige und unmissverständliche Willenserklärung zur Frage eines Verzichts auf eine Anfechtung des soeben verkündeten Urteils hinzuwirken.

Da nach alledem nicht festgestellt werden kann, dass die protokollierte Rechtsmittelverzichtserklärung dem vom Angeklagten bei seinen Äußerungen wirklich Gewollten entspricht, liegt ein wirksamer Rechtsmittelverzicht nicht vor.

III. Der angefochtene Beschluss unterliegt daher insoweit mit der Kostenfolge aus §§ 467, 473 StPO der Aufhebung.

Das Landgericht wird nunmehr - ggf. unter Beiordnung eines Pflichtverteidigers - über die rechtzeitig eingelegte Berufung des Angeklagten zu entscheiden haben.

Ende der Entscheidung

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