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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Beschluss verkündet am 19.12.2002
Aktenzeichen: 5 BL 126/02
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 121
StPO § 122
Die aus der völlig unzureichenden Vorbereitung der Hauptverhandlung resultierende Verzögerung des Verfahrens rechtfertigt nicht die weitere Fortdauer der Untersuchungshaft.
Beschluss Strafsache gegen R.T.

wegen räuberischen Diebstahls (hier: Haftprüfung durch das Oberlandesgericht).

Auf die Vorlage der (Doppel-)Akten zur Entscheidung nach den §§ 121, 122 StPO hat der 5. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 19. 12. 2002 durch die Richter am Oberlandesgericht nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft, des Angeklagten und seines Verteidigers

beschlossen:

Tenor:

Der Haftbefehl des Amtsgerichts Dortmund vom 22. Juni 2002 (78 Gs 734/02) und der diesen Haftbefehl aufrechterhaltende Beschluss des Schöffengerichts Dortmund vom 12. November 2002 (76 Ls 116 Js 314/02 (121/02)) sowie der Haftbefehl des Amtsgerichts Dortmund vom 3. Mai 2002 (79 Gs 625/02) werden aufgehoben.

Gründe:

I.

Der Angeklagte befindet sich in vorliegender Sache aufgrund des Haftbefehls des Amtsgerichts Dortmund vom 22. Juni 2002 (78 Gs 734/02) seit diesem Tage ununterbrochen in Untersuchungshaft. Mit diesem Haftbefehl wird ihm zur Last gelegt, in der Nacht vom 21. auf den 22. Juni 2002 einen (schweren) räuberischen Diebstahl begangen zu haben, indem er bei einem Einbruch in ein Fleischerfachgeschäft mit einer 35 cm langen Schere auf den Ladeninhaber, der ihn bei der Tat überrascht hatte, losging, um sich im Besitz des erbeuteten Bargeldes zu erhalten. Dieser Vorwurf ist Gegenstand der Anklage der Staatsanwaltschaft Dortmund vom 15. August 2002 (116 Js 314/02).

Mit weiteren Anklagen der Staatsanwaltschaft Dortmund vom 18. Juni 2002 (115 Js 217/02) und vom 2. September 2002 (116 Js 279/02) werden dem Angeklagten jeweils drei (insgesamt sechs) Einbruchsdiebstahlstaten - begangen in der Zeit vom 29. Dezember 2001 bis zum 9. Juni 2002 - vorgeworfen. In dem Verfahren 115 Js 217/02 StA Dortmund hatte das Amtsgericht Dortmund am 3. Mai 2002 einen Haftbefehl (79 Gs 625/02) gegen den Angeklagten erlassen, dessen Vollzug aber mit Beschluss vom selben Tage ausgesetzt. Dieser Haftbefehl ist bis heute nicht vollzogen worden.

Das Schöffengericht hat die oben genannten drei Anklagen zur Hauptverhandlung zugelassen, das Hauptverfahren insoweit jeweils eröffnet, die Verfahren zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden und Hauptverhandlungstermin auf den 12. November 2002 anberaumt. In der Hauptverhandlung, die an diesem Tag stattgefunden hat, hat der Vertreter der Staatsanwaltschaft beantragt, ein Gutachten über die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Angeklagten gemäß §§ 20, 21 StGB sowie hinsichtlich der Frage seiner Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder einer Entziehungsanstalt gemäß §§ 63, 64 StGB einzuholen. Das Schöffengericht hat daraufhin beschlossen, der Angeklagte solle "gemäß §§ 20, 21, 63, 64 StGB untersucht werden", den Haftbefehl "aus den Gründen seiner Anordnung" aufrechterhalten und die Hauptverhandlung ausgesetzt. Mit Verfügung vom 14. November 2002 hat der Vorsitzende des Schöffengerichts sodann die Akten durch Vermittlung der Staatsanwaltschaft Dortmund dem Sachverständigen Dr. D., "m.d.B. um Erstattung eines Gutachtens zur den Fragen §§ 20, 21, 63, 64 StGB" zukommen lassen und eine Wiedervorlagefrist von zwei Monaten verfügt. In einem in derselben Verfügung enthaltenen Vermerk hat der Vorsitzende des Schöffengerichts u.a. folgendes niedergelegt:

"Der Beschl. Bl. 102 unten erfolgte ausschließlich auf Wunsch der StA. Gericht und Vert. wollten ein Urteil bei dem voll geständigen Angekl. Die 6-Mon.-Frist läuft am 21.12.02 ab. ......

Hier ist ein neuer HVT in diesem Jahr nicht mehr möglich. Haftfortdauer halte ich aber für unbedingt erforderlich."

II.

Sämtliche im vorliegenden Verfahren ergangenen Untersuchungs-Haftanordnungen waren aufzuheben, weil die Voraussetzungen, unter denen die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus gemäß § 121 Abs. 1 StPO angeordnet werden kann, nicht vorliegen. Weder die besondere Schwierigkeit noch der besondere Umfang der Ermittlungen noch ein anderer wichtiger Grund i.S.d. § 121 Abs. 1 StPO rechtfertigen die weitere Fortdauer der Untersuchungshaft. Zwar ist der Angeklagte der ihm mit den Haftbefehlen zur Last gelegten Taten aufgrund der darin und der in den Anklageschriften angeführten Beweismittel dringend verdächtig, wobei nach dem (vorläufigen) Ergebnis der Hauptverhandlung vom 12. November 2002 allerdings anstelle des dem Angeklagten zur Last gelegten räuberischen Diebstahls ein Einbruchdiebstahl in Frage kommen dürfte. Er hat sich zudem in der Hauptverhandlung vor dem Schöffengericht am 12. November 2002 "voll geständig" gezeigt. Auch liegt der Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO) vor, da die Gefahr besteht, dass der Angeklagte sich im Falle seiner Freilassung dem Straf- verfahren entziehen wird. Denn der in der Vergangenheit wiederholt auch in einschlägiger Weise strafrechtlich in Erscheinung getretene Angeklagte hat im Falle seiner Verurteilung mit der Verhängung einer erheblichen (Gesamt-)Freiheitsstrafe zu rechnen, so dass ein hoher Fluchtanreiz gegeben ist, zumal er nach dem gegenwärtigen Stand der Ermittlungen drogenabhängig ist und über keine nennenswerten sozialen Bindungen und auch nicht über eine Arbeitsstelle verfügt. Der weitere Vollzug der Untersuchungshaft wäre angesichts der zu erwartenden Freiheitsstrafe auch nicht unverhältnismäßig. Gleichwohl können die an sich gerechtfertigten amtsgerichtlichen Haftbefehle keinen Bestand haben, da das Verfahren von dem Schöffengericht Dortmund nicht mit der in Haftsachen gebotenen Beschleunigung gefördert worden ist.

Das Bundesverfassungsgericht betont in ständiger Rechtsprechung, dass der verfassungsrechtliche Freiheitsanspruch (Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG) des noch nicht verurteilten Beschuldigten den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlichen und zweckmäßigen Freiheitsbeschränkungen ständig als Korrektiv entgegenzuhalten ist und sich das Gewicht des Freiheitsanspruchs gegenüber dem Strafverfolgungsinteresse mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft vergrößert (vgl. BVerfGE 20, 45, 49 f; 36, 264, 260; 53, 152, 158 f). Dem trägt die Vorschrift des § 121 Abs. 1 StPO dadurch Rechnung, dass der Vollzug der Untersuchungshaft vor Ergehen eines Urteils wegen derselben Tat über sechs Monate hinaus nur aufrechterhalten werden darf, wenn die besondere Schwierigkeit oder der besondere Umfang der Ermittlungen oder ein anderer wichtiger Grund das Urteil noch nicht zulassen und die Fortdauer der Untersuchungshaft rechtfertigen. Die Bestimmung des § 121 Abs. 1 StPO lässt also nur in begrenztem Umfange eine Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus zu und ist dementsprechend eng auszulegen (vgl. BVerfGE 36, 264, 271; 53, 152, 158 f). Den verfassungsrechtlichen Ansprüchen an die Zügigkeit der Bearbeitung in Haftsachen wird nur dann genügt, wenn die Strafverfolgungsbehörden und Gerichte alle zumutbaren Maßnahmen getroffen haben, um die Ermittlungen so schnell wie möglich abzuschließen und ein Urteil herbeizuführen (vgl. OLG Hamm StV 2000, 90, 91; OLG Brandenburg StV 2000, 37; OLG Frankfurt StV 1995, 423; OLG Düsseldorf StV 1990, 503).

Diesen Erfordernissen wird die Sachbehandlung durch den Vorsitzenden des Schöffengerichts im vorliegenden Verfahren in keiner Weise gerecht. Dieser hätte nämlich spätestens mit der Zulassung der Anklage und der Eröffnung des Hauptverfahrens in dem Verfahren 116 Js 314/02 StA Dortmund durch Beschluss vom 17. September 2002 und der gleichzeitig erfolgten Anberaumung des Hauptverhandlungstermins auf den 12. November 2002 die Untersuchung des Angeklagten auf seine strafrechtliche Verantwortlichkeit zur Tatzeit und hinsichtlich der Erforderlichkeit seiner Unterbringung in einer Entziehungsanstalt veranlassen müssen. Denn nicht zu übersehende Hinweise auf die Erforderlichkeit einer derartigen Begutachtung des Angeklagten ziehen sich vom Beginn des Ermittlungsverfahrens quasi wie ein roter Faden durch die Akten. Danach ist der Angeklagte den Polizeibehörden als Konsument harter Drogen bekannt, stand er zur Tatzeit unter Heroin, ist ihm im Polizeigewahrsam von dem untersuchenden Arzt "BtM-Abusus" attestiert worden, nimmt er nach eigenen Angaben Drogen und geht die Aussage des Mittäters N. dahin, dass "das Geld, das der R. bei seinen Einbrüchen erbeutet hat, er für seine Drogensucht benötigt. Er hat Drogen dafür gekauft". Ferner heißt es in der Anklageschrift vom 15. August 2002, dass der Angeklagte aus anderen Verfahren als Betäubungsmittelkonsument bekannt ist und nach eigenen Angaben vor der Tat Heroin konsumiert hat. Schließlich hat die Staatsanwaltschaft Dortmund in ihrem Antrag vom 5. September 2002 zu einem Haftprüfungsantrag des Angeklagten ausgeführt, dieser sei wegen Drogensucht mehrfach einschlägig vorbestraft und die Drogensucht bestehe nach wie vor. Dass die auf der Hand liegende Notwendigkeit einer Untersuchung des Angeklagten übersehen worden ist, ist umso weniger nachvollziehbar, als sich für das Schöffengericht aus den Ermittlungsakten des Verfahrens 115 Js 217/02 StA Dortmund bereits zu einem wesentlich früheren Zeitpunkt Hinweise für eine Betäubungsmittelabhängigkeit des Angeklagten ergeben haben, aus denen auf die Möglichkeit einer jedenfalls eingeschränkten Schuldfähigkeit und auch die Notwendigkeit der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt ohne weiteres zu schließen war. In diesem Verfahren hat der Vorsitzende des Schöffengerichts die Anklage der Staatsanwaltschaft Dortmund vom 18. Juni 2002 bereits am 1. August 2002 zur Hauptverhandlung zugelassen und das Hauptverfahren insoweit eröffnet. Dass die zur sachgerechten Vorbereitung der auf den 12. November 2002 anberaumten Hauptverhandlung unabdingbaren Maßnahmen unterlassen worden sind, lässt sich nur damit erklären, dass dem Vorsitzenden des Schöffengerichts entweder der Inhalt der Ermittlungsakten nicht bekannt war oder dass er hieraus nicht die sich aufdrängenden Schlussfolgerungen gezogen hat. Jedenfalls rechtfertigt die aus der völlig unzureichenden Vorbereitung der Hauptverhandlung resultierende Verzögerung des Verfahrens nicht die weitere Fortdauer der Untersuchungshaft, zumal der Vorsitzende des Schöffengerichts sich - obwohl dies nahegelegen hätte und auch möglich gewesen wäre - nicht bemüht gezeigt hat, die durch seine fehlerhafte Sachbehandlung entstandene Verzögerung auszugleichen. Das Gegenteil ist der Fall. Denn ohne auf die nach aller Erfahrung mögliche kurzfristige Gutachtenerstattung und damit eine vor Ablauf der Frist von sechs Monaten Untersuchungshaft durchzuführende neue Hauptverhandlung Bedacht zu nehmen, hat er lediglich eine Wiedervorlagefrist von zwei Monaten verfügt. Dementsprechend befinden sich die Verfahrensakten, wie eine Anfrage des Senats bei der Geschäftsstelle des Schöffengerichts ergeben hat, nach wie vor ohne Erledigung des Gutachtenauftrags bei dem Sachverständigen.

Da die sich insgesamt ergebende nicht unerhebliche Verzögerung des Verfahrensabschlusses die Folge der in mehrfacher Hinsicht fehlerhaften Sachbehandlung durch den Vorsitzenden des Schöffengerichts ist, ist eine Haftverlängerung über sechs Monate hinaus nicht gerechtfertigt. Der Senat ist daher von Gesetzes wegen gehalten, die im vorliegenden Verfahren ergangenen Untersuchungshaftanordnungen aufzuheben. Dies kann auch schon vor Ablauf der 6-Monats-Frist erfolgen, wenn die Verlängerung der Haft nicht gerechtfertigt ist und - wie hier - ausgeschlossen werden kann, dass die Hauptverhandlung noch vor Fristablauf beginnt (vgl. KK-Boujong, StPO, 4. Aufl., § 121 Rdnr. 27 m.w.N.).

Ende der Entscheidung

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