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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Urteil verkündet am 28.07.2003
Aktenzeichen: 6 U 15/03
Rechtsgebiete: BGB, ZPO


Vorschriften:

BGB § 823
BGB § 847
ZPO § 516 Abs. 3
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Tenor:

Die Berufung der Beklagten zu 1) gegen das am 21. November 2002 verkündete Urteil der 9. Zivilkammer des Landgerichts Bielefeld wird zurückgewiesen.

Von den Kosten der Berufungsinstanz trägt der Kläger die außergerichtlichen Kosten des früheren Beklagten zu 2). Von den Gerichtskosten und den eigenen außergerichtlichen Kosten des Klägers trägt dieser 1/6. Die übrigen Kosten der Berufungsinstanz trägt die Beklagte zu 1).

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Entscheidungsgründe:

I.

Der damals 15 Monate alte Kläger ist am 19.05.1999, als er für kurze Zeit unbeaufsichtigt war, in den Gartenteich des Grundstücks F-Straße #1 in S gefallen und hat dabei einen schweren Hirnschaden erlitten.

Die Beklagte zu 1) ist die Großmutter des Klägers. Sie hatte es an jenem Tag auf Wunsch der Mutter übernommen, auf den Kläger aufzupassen, und war mit ihm bei dem früheren Beklagten zu 2), ihrem Sohn und Onkel des Klägers, der mit seiner Familie das Hausgrundstück F-Straße #2 bewohnt, zu Besuch.

Der Kläger begehrt im vorliegenden Verfahren unter dem Gesichtspunkt einer Verletzung der Aufsichtspflicht ein angemessenes Schmerzensgeld (Vorstellung 100.000,00 DM), eine angemessene monatliche Schmerzensgeldrente (Vorstellung 1.000,00 DM) und die Feststellung der materiellen und weiteren immateriellen Schadensersatzpflicht.

Die Beklagte zu 1) hat geltend gemacht, daß ihr eine Aufsichtspflichtverletzung nicht angelastet werden könne, weil der Kläger zuletzt mit dem früheren Beklagten zu 2) auf einem angrenzenden Hof gespielt habe, so daß die Aufsichtspflicht konkludent auf den Beklagten zu 2) übertragen worden sei.

Das Landgericht hat nach Zeugenvernehmung durch Teilgrund- und -endurteil gegenüber der Beklagten zu 1) dem Feststellungsantrag stattgegeben und die übrigen Klageanträge dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt. Es sei nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme davon auszugehen, daß der Beklagte zu 2) ausdrücklich mitgeteilt habe, daß er zum Nachbarn gehe, so daß die Aufsichtspflicht wieder bei der Beklagten zu 1) gelegen habe. Die Klage gegen den Beklagten zu 2) ist abgewiesen worden.

Mit der Berufung erstrebt die Beklagte zu 1) die Abweisung der gegen sie gerichteten Klage. Der Aussage der Ehefrau des früheren Beklagten zu 2) über die behauptete Information seitens des früheren Beklagten zu 2) könne nicht geglaubt werden. Davon sei im Ermittlungsverfahren nie die Rede gewesen. Die Zeugin habe außerdem - was unstreitig ist - anläßlich des erstinstanzlichen Termins gegenüber einem anderen Zeugen geäußert, daß im Falle einer Verurteilung des früheren Beklagten zu 2) die Deckung ihrer Haftpflichtversicherung nicht ausreiche und dann das Haus verkauft werden müsse. Dies zeige das Interesse der Zeugin am Ausgang des Rechtsstreits. Sie selbst - die Beklagte zu 1) - habe auch die Örtlichkeiten einschließlich des Gartenteichs nicht gekannt.

Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze und vorgelegten Unterlagen verwiesen.

II.

Die Berufung der Beklagten zu 1) ist unbegründet.

Das Landgericht hat mit Recht eine Haftung der Beklagten zu 1) für die beim Kläger eingetretene Körper- und Gesundheitsverletzung bejaht. Zwar kommen vertragliche Ansprüche nicht in Betracht, weil die Übernahme der Aufsicht über den Kläger als Gefälligkeit zu werten ist, bei der keine Rechtsbindung gewollt war (vgl. BGH NJW 1968, 1874). Die Haftung ergibt sich aber aus §§ 823, 847 BGB, weil die Beklagte zu 1) es unterlassen hat, die tatsächlich übernommene Aufsicht über den Kläger im gebotenen Umfang auszuüben, was für die Schädigung des Klägers ursächlich geworden ist.

Ein Kleinkind im damaligen Alter des Klägers bedarf ständiger Aufsicht, damit es sich nicht den Gefahren seiner Umgebung aussetzt, die es aufgrund seiner Unerfahrenheit und Unbesonnenheit noch nicht erkennen und beherrschen kann (vgl. BGH NJW 1994, 3348). Es mußte daher sichergestellt werden, daß der Kläger sich nicht unbeaufsichtigt auf ein anderes Grundstück begeben konnte.

Die Beklagte zu 1) kann auch nicht damit gehört werden, daß sie den Gartenteich und die Zugangsmöglichkeit zu ihm nicht gekannt habe. Die Beklagte zu 1) war mit dem Kläger in einem Einfamilienhausgebiet zu Besuch. Bei Einfamilienhäusern mit Gärten ist das Vorhandensein eines Teiches nicht gänzlich ungewöhnlich. Die daraus resultierenden Gefahren für Kleinkinder liegen auf der Hand. Ebenso ist nicht ungewöhnlich, daß zwischen Nachbargrundstücken keine vollständig abgeschlossene Umfriedung besteht. Angesichts des kleinkindlichen Erkundungsdrangs mußte daher hier eine lückenlose Beaufsichtigung des Klägers stattfinden.

Die Aufsichtspflicht der Beklagten zu 1) entfiel nur insoweit, als der frühere Beklagte zu 2) seinerseits die Aufsicht übernommen hatte. Das mag der Fall gewesen sein, als der frühere Beklagte zu 2) sich mit den Kindern zum Spiel auf den angrenzenden, vom Garten des Grundstücks F-Straße #2 nicht einsehbaren Hof begab. Dieser Geschehensabschnitt war aber zum Zeitpunkt des Verschwindens des Klägers zur Überzeugung des Senats abgeschlossen. Der Beklagte zu 2) war mit dem Kläger und den anderen Kindern in den Garten des Hauses F-Straße #2 zurückgekommen und hatte ausdrücklich gegenüber der Zeugin L2 und der Beklagten zu 1) erklärt, er gehe jetzt zum Nachbarn. Damit war seine Übernahme der Aufsichtspflicht wieder beendet. Denn diese Mitteilung konnte nur so verstanden werden, daß er jetzt nicht mehr auf die Kinder achten könne. Damit lag die Aufsichtspflicht über den Kläger wieder bei der Beklagten zu 1).

Die Überzeugung des Senats von diesem Geschehensablauf gründet sich auf die in diesem zentralen Punkt übereinstimmenden Aussagen der Zeugen C und E L2. Die Zeugin C L2 hat wie schon in erster Instanz auch vor dem Senat erklärt, daß der frühere Beklagte zu 2) mit allen Kindern, also auch dem Kläger, in den Garten des Hauses F-Straße #2 zurückgekommen sei und gesagt habe, er gehe jetzt zum Nachbarn. Die Zeugin hat einen glaubwürdigen Eindruck hinterlassen. Schon in erster Instanz hatte sie nicht die damalige Darstellung des Beklagten zu 2), er habe ausschließlich im Garten mit den Kindern gespielt, bestätigt, sondern eingeräumt, daß ihr Mann mit den Kindern auf dem Hof war. Auch in ihrer jetzigen Vernehmung hat sie keine besondere Belastungstendenz gegenüber der Beklagten zu 1) erkennen lassen. So hat sie angegeben, daß die Beklagte zu 1) mit dem Rücken zum Garten gesessen habe, so daß sie eine durch den Garten gehende Person nicht ohne weiteres habe sehen können.

Zusätzlich konnte in der Berufungsinstanz der frühere Beklagte zu 2) als Zeuge vernommen werden. Die Klage gegen ihn ist rechtskräftig abgewiesen, nachdem die ursprünglich seitens des Klägers gegen das insoweit klageabweisende Urteil des Landgerichts eingelegte Berufung bereits längere Zeit vor der mündlichen Verhandlung zurückgenommen worden ist. Zwar war hinsichtlich des früheren Beklagten zu 2) im Zeitpunkt seiner Vernehmung noch die Kostenentscheidung für die Berufungsinstanz zu treffen. Diese war insoweit jedoch durch § 516 Abs. 3 ZPO zwingend vorgegeben, konnte also durch den Inhalt seiner Aussage nicht beeinflußt werden. Gleiches gilt für die erstinstanzlich noch offene Kostenentscheidung, die dem Schlußurteil vorbehalten worden war. Insoweit können auf den früheren Beklagten zu 2) infolge der rechtskräftigen Klageabweisung gegen ihn keine Kosten zukommen. Für beide Instanzen kam also irgendeine Kostenbelastung des früheren Beklagten zu 2) nicht in Betracht. Wenn aber eine den früheren Streitgenossen belastende abschließende Kostenentscheidung nicht denkbar ist, ist seine Vernehmung als Zeuge möglich (vgl. OLG Celle, OLGR 1996, 45; KG, MDR 1981, 765). Die von der Beklagten zu 1) mit Schriftsatz vom 04.06.2003 erwähnte Entscheidung des hiesigen 34. Zivilsenats steht dem nicht entgegen, weil in jenem Fall die noch ausstehende Kostenentscheidung den zu vernehmenden Streitgenossen noch belasten mußte.

Der frühere Beklagte zu 2) hat als Zeuge ebenfalls eindeutig ausgesagt, daß er vor seinem Gang zum Nachbarn alle Kinder mit in den Garten zurückgenommen und ausdrücklich erklärt habe, er gehe jetzt zum Nachbarn. Der Senat verkennt nicht, daß die Aussage dieses Zeugen in Randbereichen von der Aussage seiner Ehefrau, der Zeugin C L2 abweicht, nämlich hinsichtlich der Sitzposition der Beklagten zu 1) und zu der Frage, ob diese ursprünglich ebenfalls auf dem Hof war. Diese Abweichungen beeinflussen die Glaubhaftigkeit der Angaben zum Kerngeschehen jedoch nicht. Wenn die Aussagen der Zeugen in allen Einzelheiten übereingestimmt hätten, wäre der Verdacht einer Absprache näherliegender gewesen. Da zudem der Vorfall inzwischen mehr als vier Jahre zurückliegt, ist es nicht ungewöhnlich, daß die Erinnerung in Nebenpunkten verblaßt.

Gegen die Aussagen beider Zeugen spricht auch nicht der Gesichtspunkt, daß sie grundsätzlich am Ausgang des Rechtsstreits interessiert sind bzw. waren. Dieser Umstand hat inzwischen deutlich an Gewicht verloren, weil eben die Klage gegen den früheren Beklagten zu 2) jetzt rechtskräftig abgewiesen ist. Eine eigene Inanspruchnahme stand daher im Zeitpunkt der Vernehmung der Zeugen vor dem Senat nicht mehr im Raum. Im übrigen gilt der Gesichtspunkt der Gefahr des Überschreitens der Höchstgrenze der Haftpflichtversicherung für die Beklagte zu 1) in entsprechender Weise.

Für die Darstellung der Zeugen L2 spricht dagegen, daß ihre Schilderung angesichts der Örtlichkeiten sehr plausibel ist. Der nächste Weg für den Beklagten zu 2) von dem Hof, auf dem er mit den Kindern gespielt hatte, zu seiner eigenen Garage und der daneben liegenden des betreffenden Nachbarn führte nach den vorgelegten Skizzen eben durch den Garten des Grundstücks F-Straße #2 und die dort vorhandene Tür in der Mauer. Es gibt keinen Grund dafür, daß der frühere Beklagte zu 2) den Umweg über die Straße gewählt haben sollte. Wenn er aber durch den Garten ging, ist es lebensnah, daß der frühere Beklagte zu 2) den auf der Terrasse sitzenden Personen - der Beklagten zu 1) und der Zeugin C L2 - auch mitteilte, wohin er ging.

Der Umstand, daß von dem Hinweis, er gehe zum Nachbarn, weder in den Polizeiberichten noch bei den Ermittlungen des Zeugen H für die Haftpflichtversicherung die Rede war, besagt demgegenüber nichts zwingendes. Nach der Aktennotiz des Zeugen H vom 29.05.2000 war der frühere Beklagte zu 2) bei dem geschilderten Gespräch vom 24.05.2000 gar nicht anwesend. Daß ausdrücklich nach irgendwelchen Erklärungen des früheren Beklagten zu 2) gefragt worden wäre, ergibt sich weder aus der Aktennotiz noch wird es sonst behauptet. Zu einer erneuten Vernehmung des Zeugen H besteht kein Anlaß. Der Senat legt dessen erstinstanzliche Aussage zugrunde, an seiner Glaubwürdigkeit bestehen keine Zweifel.

Bei den polizeilichen Ermittlungen unmittelbar nach dem Vorfall ging es vorrangig um den Weg des Klägers. Wer zu dem Zeitpunkt des Verschwindens des Kindes die Aufsichtspflicht hatte, war ersichtlich kein Thema. Aus dem Ermittlungsbericht des Kriminalhauptkommissars C (Bl. 6 d. Strafakten) ergibt sich aber, daß der frühere Beklagte zu 2) schon damals angegeben hat, er habe sich im Gartenbereich aufgehalten und sei von dort durch die Tür in der Mauer zum Nachbarn gegangen. Wie die von der Polizei angefertigte Skizze belegt, ist man immer davon ausgegangen, daß der Kläger nicht vom Hof, sondern aus dem Garten verschwunden ist, denn der aufgezeichnete mutmaßliche Weg des Klägers geht in der Skizze nicht vom Hof aus, sondern vom Garten des Grundstücks F-Straße #2. Im übrigen ist auch in der Klageschrift ausgeführt, daß der Kläger aus dem Garten verschwunden ist und nicht vom Hof.

Die Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 97 Abs. 1, 516 Abs. 3, 708 Ziff. 10, 713 ZPO. Die Voraussetzungen für eine Zulassung der Revision sind nicht erfüllt.

Ende der Entscheidung

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