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Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Beschluss verkündet am 22.05.2006
Aktenzeichen: 6 WF 302/05
Rechtsgebiete: ZPO, BGB


Vorschriften:

ZPO § 127 Abs. 2 S. 2
ZPO § 127 Abs. 2 S. 3
ZPO § 568 S. 2 Nr. 1
BGB §§ 1601 ff.
BGB § 1603 Abs. 2 S. 1
BGB § 1610 Abs. 2
BGB § 1613 Abs. 1
BGB § 1613 Abs. 2 Nr. 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Tenor:

Auf die sofortige Beschwerde der Antragsteller vom 8.8.2005 wird, nach mit diesem Beschluss zugleich vorab gern. § 568 S. 2 Nr. 1 ZPO erfolgter Übertragung des Beschwerdeverfahrens durch den Einzelrichter auf den Senat, unter Zurückweisung des Rechtsmittels im Übrigen der Beschluss des Amtsgerichts - Familiengericht - Brakel vom 4.7.2005 abgeändert.

Den Antragstellern wird unter Beiordnung von Rechtsanwalt aus ratenfreie Prozesskostenhilfe bewilligt, soweit sie beantragen, den Antragsgegner - über die bereits durch Jugendamtsurkunden titulierten Unterhaltsbeträge hinaus - zur Zahlung von 460 € Mehrbedarf je Antragsteller nebst 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu verurteilen.

Gründe:

Die heute 16 Jahre alten Antragsteller nehmen - vertreten durch ihre Mütter - den Antragsgegner, ihren leiblichen Vater aus geschiedener Ehe rnit der Mutter, auf Zahlung von je 755,67 € "Sonderbedarf für Nachhilfeunterricht in der Zeit vorn 1.6.2004 bis zum 30.6.2005 und von je 102,15 € für eine Klassenfahrt nach Hamburg in der Zeit vom 31.8.2005 bis zum 2.9.2005, sowie auf Zahlung vorgerichtlicher Anwaltskosten in Höhe von 111,88 € in Anspruch. Die tatsächlich entstandenen Kosten für den Nachhilfeunterricht betrugen 1.511,35 € je Kind und für die Klassenfahrt je 204,30€ je Kind.

Mit der angefochtenen Entscheidung hat das Familiengericht den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe mangels hinreichender Erfolgsaussicht (§ 114 ZPO) zurückgewiesen. Es hat seine Entscheidung damit begründet, dass der Antragsgegner nicht leistungsfähig sei.

Dagegen richtet sich die Beschwerde der Antragsteller.

II.

Die gem. § 127 II 2, 3 ZPO zulässige sofortige Beschwerde hat in der Sache nur im tenorierten Umfang Erfolg. Im Übrigen ist ihr keine Erfolgsaussicht beschieden.

a) Den Antragstellern steht gegen den Antragsgegner kein Anspruch auf angemessene Beteiligung an den Kosten für Sonderbedarf gemäß den §§ 1601 ff., 1610 II BGB zu, denn bei den entstandenen Kosten für den Nachhilfeunterricht und die Klassenfahrt handelt es sich nicht um Sonderbedarf i. S. d. § 1613 II Nr. 1 BGB. Zum Sonderbedarf gehören alle, zur Deckung des Lebensbedarfs notwendigen, unregelmäßigen außergewöhnlich hohen Kosten (§§ 1610 II, 1613 II Nr. 1BGB). Wann ein Bedarf außergewöhnlich hoch ist, läßt sich nur nach den Umständen des Einzelfalls beurteilen. Dabei sind die Höhe des laufenden Unterhalts, der Lebenszuschnitt der Beteiligten und die Art und der Umfang der besonderen Aufwendungen zu berücksichtigen. Unregelmäßig ist nur der Bedarf, der nicht mit Wahrscheinlichkeit vorauszusehen war und deswegen bei der Bemessung der laufenden Unterhaltsrente nicht berücksichtigt werden konnte, denn die Vorschrift des § 1613 I BGB räumt dem Schutz des Unterhaltsschuldners vor Ansprüchen, mit deren Geltendmachung er nicht mehr rechnen musste, Vorrang vor den Interessen des Unterhaltsgläubigers ein, der seinen Bedarf vorausschauend kalkulieren kann. Deswegen kann der unterhaltsberechtigte Unterhalt für die Vergangenheit grundsätzlich nur von dem Zeitpunkt an fordern, in welchem er den Unterhaltsschuldner zur Auskunftserteilung über seine Einkommens- und Vermögensverhältnisse aufgefordert oder in Verzug gesetzt hat (BOH FamRZ 2006, 612f.)

Die Kosten für die Klassenfahrt sind deswegen kein Sonderbedarf, weil sie nicht außergewöhnlich hoch und mit Wahrscheinlichkeit vorauszusehen waren. Der Beklagte hat sich durch Urkunden des Jugendamts des Kreises vom 18.10.2004 zur Zahlung von 256,83 € Kindesunterhalt für jeden Antragsteller verpflichtet. Dass die Klassenfahrt im Sommer 2005 stattfinden würde, war den Antragstellern, bzw. ihrer Mutter bereits im Herbst 2004 bekannt, zumal sie den Antragsgegner am 9.10.2004 auf die bevorstehende Klassenfahrt hingewiesen haben will. Die Antragsteller hatten daher ausreichend Gelegenheit (mit monatlich rund 20 €) Rücklagen für die Klassenfahrt zu bilden und, soweit dies mit dem laufenden Unterhalt nicht möglich war, den Antragsgegner auf höheren Unterhalt in Anspruch zu nehmen.

Hinsichtlich der Kosten für den Nachhilfeunterricht fehlt es an einem ausreichenden Vortrag der Antragsteller zur Unvorhersehbarkeit. Die Nötwendigkeit von Nachhilfestunden wird im allgemeinen durch die Entwicklung der schulischen Leistungen angekündigt. Sie tritt daher regelmäßig nicht unerwartet auf. Außerdem vergeht ein gewisser Zeitraum, bis ein geeigneter Nachhilfelehrer gefunden und entsprechende Stunden vereinbart worden sind. Unvorhersehbar ist der Nachhilfeunterricht daher nur dann, wenn er wegen vorübergehender Schulschwierigkeiten oder längerfristiger Erkrankung kurzfristig notwendig wird und keine geeigneten Vorkehrungen für die Inanspruchnahme des Unterhaltsschuldners auf Erhöhung des laufenden Kindesunterhalts (gegebenenfalls auch als Mehrbedarf) mehr getroffen werden können (vgl. OLG Hamm FamRZ 1991, 857; OLG Zweibrücken FamRZ 1994, 770; OLG Köln FamRZ 1999, 531). Nach dem Vortrag der Antragsteller haben sich ihre schulischen Leistungen bereits seit der Trennung ihrer Eltern im Januar 2004 kontinuierlich verschlechtert, mit der Folge, dass im Juni 2004 die Nachhilfe erforderlich wurde. Damit bestand für sie ausreichend Zeit, den Antragsgegner auf höheren laufenden Unterhalt in Anspruch zu nehmen. Dafür reicht der bloße Hinweis ihrer Mutter an den Antragsgegner vom 5.6.2004 auf die entstehenden Nachhilfekosten nicht aus. Jedenfalls kann aufgrund des Sachvortrages der Antragsteller nicht davon ausgegangen werden, dass sie den Antragsgegner vor Zugang des Schreibens ihres Prozessbevollmächtigten vom 19.11.2004 mit den laufenden Unterhaltszahlungen in Verzug gesetzt haben.

b) Den Antragstellern steht aber - nach ihrem Sachvortrag und entsprechender Auslegung ihres Antrages - wegen der Nachhilfekosten ein Anspruch auf angemessene Beteiligung an den Kosten für Mehrbedarf gemäß den §§ 1601 ff. BGB gegen den Antragsgegner zu. Mehrbedarf ist derjenige Teil des Lebensbedarfs (§ 1610 II BGB), der regelmäßig, jedenfalls während eines längeren Zeitraums, anfällt und das Übliche derart übersteigt, dass er mit den Regelsätzen nach der Düsseldorfer Tabelle nicht erfasst werden kann, aber vorhersehbar ist und deshalb bei der Bemessung des laufenden Unterhalts berücksichtigt werden kann (Wendl/Staudigl-Scholz, Das Unterhaltsrecht in der familiengerichtlichen Praxis, 6. A. § 2 Rz. 1 33). Er ist konkret zu ermitteln und führt - wenn beide Elternteile eigenes Einkommen haben - zu einer anteiligen Erhöhung der Barunterhaltspflicht des nicht betreuenden Elternteils (Wendl/Staudigl-Scholz, a. a. 0., Rz 323, 325). Diese Voraussetzungen sind erfüllt. Die kalkulierbaren, über einen Zeitraum von 13 Monaten anfallenden Nachhilfekosten betrugen monatlich 114,95 €. Selbst unter Berücksichtigung einer Erhöhung des Kindesunterhalts auf einen - dem Einkommen des Antragsgegners von 1382,21 € entsprechenden - Tabellenbetrag von 304 € (nach der 2. Einkommensgruppe, 3. Altersstufe der Düsseldorfer Tabelle vom 1.7.2003) hätten die Antragsteller die Kosten für den Nachhilfeunterricht voraussichtlich nicht von dem laufenden Barunterhalt aufbringen können, zumal damit noch nicht einmal ihr Existenzminimum von seinerzeit 307 € (384 €/77 € Kindergeldanteil) abgedeckt war.

Mehrbedarf kann jedoch erst ab Verzugseintritt mit Schreiben des Prozessbevollmächtigten der Antragsteller vom 19.11.2004 ab Beginn des Monats November 2004 (§ 1613 I 2 BGB) gefordert werden. Dass die geforderten Kosten darin als Sonder- und nicht als Mehrbedarf bezeichnet worden sind, schadet nicht. Es errechnet sich danach für einen Zeitraum von 8 Monaten von November 2004 bis einschließlich Juni 2005 ein rückständiger Mehrbedarf je Antragsteller von rund 920 €, welchen sie zur Hälfte vom Antragsgegner erstattet verlangen. Ob und in welchem Verhältnis eine Aufteilung des Mehrbedarfs auf die Eltern der Kläger vorzunehmen ist, erfordert eine umfassende Prüfung der Umstände des Einzelfalls, die im summarischen Verfahren nicht vorgenommen werden kann und daher dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben muss. Jedenfalls erscheint eine hälftige Inanspruchnahme des Antragsgegners für die entstandenen Nachhilfekosten nicht unangemessen, auch wenn - wie der Antragsgegner behauptet - die, mietfrei bei ihren Eltern wohnende, Kindesmutter eigene Einkünfte in Höhe vön monatlich 780 € netto erzielt.

c) Der Antragsgegner kann sich nicht ohne weiteres auf seine Leistungsunfähigkeit berufen. Zwar wird Mehrbedarf nur geschuldet, wenn und soweit dem Pflichtigen wenigstens der notwendige Selbstbehalt verbleibt. Von seinen laufenden Einkünften ist er - unter Berücksichtigung der titulierten Kindesunterhaltsbeträge und des Bedarfs des weiteren nichtehelichen Kindes (geb. am ) - nicht in der Lage, sich an dem Mehrbedarf der Kläger ohne Gefährdung seines notwendigen Selbstbehalts von 840 € (bis Juni 2005) zu beteiligen. Insoweit wird auf die zutreffenden Ausführungen des Familiengerichts verwiesen. Er muß sich auch nicht zusätzliche Einkünfte aus einer Nebentätigkeit anrechnen lassen, denn eine generelle Verpflichtung zur Aufnahme einer Nebentätigkeit besteht (auch im Fall der gesteigerten Erwerbsobliegenheit nach § 1603 II 8GB) nicht. Eine Verpflichtung zur Durchführung einer zusätzlichen Nebentätigkeit kommt vielmehr nur dann in Betracht, wenn besondere Umstände vorliegen, die die Aufnahme einer solchen Tätigkeit ausnahmsweise als zumutbar erscheinen lassen (OLG Koblenz FamRZ 2004, 829, 830; KG FamRZ 2003, 1208, 1209). Dabei ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten (BVerfG FamRZ 2003, 661, 662). Die Antragsteller haben keine Gründe vorgetragen, die die Aufnahme einer zusätzlichen Nebentätigkeit neben seiner vollschichtigen Tätigkeit rechtfertigen können.

Die Antragsteller haben jedoch dargelegt, dass der Antragsgegner - zumindest im Zeitpunkt der Trennung ihrer Eltern - über einsetzbares Vermögen verfügte. Nach den, im Beschwerdeverfahren vorgelegten, Versicherungsnachweisen bestand eine Kapitallebensversicherung des Antragsgegners beim die seit 1991 bis zur Beitragsfreistellung am 1.11.1998 mit monatlich 103,50 DM bespart wurde. Außerdem war der Antragsteller Berechtigter aus einer weiteren Kapitallebensversicherung bei der Versicherung mit einer garantierten Versicherungssumme im Zeitpunkt der Beitragsfreistellung am 1.3.2003 in Höhe von 1.560 DM. Gemäß § 1603 II 1 BGB ist der unterhaltsverpfiichtete Elternteil gegenüber seinen minderjährigen Kindern verpflichtet, alle verfügbaren Mittel zu seinem und der Kinder Unterhalt gleichmäßig zu verwenden. Dazu gehört auch die Verwertung des Vermögensstamms, sofern diese nicht unwirtschaftlich oder unbillig ist. Ob dem Antragsgegner die Verwertung der Beträge aus den Lebensversicherungen für den Mehrbedarf der Antragsteller zumutbar ist, hängt von den Umständen des Einzelfalls, insbesondere von der Werthaltigkeit der Forderungen und davon ab, ob sie der Antragsteller zur Deckung des eigenen Lebensunterhalts oder zur Erfüllung anderer berücksichtigungsfähiger Verbindlichkeiten benötigte (Wendl/Staudigl, a. a. 0., § 1 Rz. 410, 419 m. w. N.). Jedenfalls kann sich der Antragsgegner nicht ohne weiteres darauf berufen, die an ihn ausgezahlten Beträge aus den Kapitallebensversicherungen zur Tilgung (nicht näher bezeichneter) ehebedingter Schulden verwandt haben zu dürfen. Ob eine Verbindlichkeit im Verhältnis zum geschuldeten Kindesunterhalt (wozu auch der Mehrbedarf zählt) im Einzelfall zu berücksichtigen ist, kann nur im Rahmen einer umfassenden Interessenabwägung nach billigem Ermessen entscheiden werden. Insoweit sind insbesondere der Zweck der Verbindlichkeit, der Zeitpunkt und die Art ihrer Entstehung, die Dringlichkeit der beiderseitigen Bedürfnisse, die Kenntnis des Unterhaltsschuldners vom Grund und von der Höhe der Unterhaltsschuld und seiner Möglichkeiten von Bedeutung, die Leistungsfähigkeit ganz oder teilweise wiederherzustellen. Dabei verwehrt die Kenntnis von der Unterhaltsverpflichtung (oder das Rechnenmüssen damit) bei der Begründung der Verpflichtung dem Unterhaltsverpflichteten in der Regel eine Berufung auf seine völlige oder teilweise Leistungsunfähigkeit infolge der Schulden, es sei denn, es handelt sich um notwendige, nicht anders finanzierbare Anschaffungen für den Beruf oder die allgemeine Lebensführung (Kalthoener / Büttner / Niepmann, Die Rechtsprechung zur Höhe des Unterhalts, 9. A., Rz. 1000 m. w. N. in Fn. 1097). Hierzu fehlt es bisher an einem ausreichend substantiierten Vortrag des insoweit darlegungs- und beweisbelasteten Antragsgegners.

d) Soweit die Antragsteller dagegen vorgerichtlich entstandene Anwaltskosten als Verzugsschaden gegen den Antragsgegner geltend machen wollen, ist der beabsichtigten Klage keine Erfolgsaussicht beschieden. Es fehlt an einem ausreichend schlüssigen Vortrag dazu, für welche konkrete Tätigkeit ihres Prozessvertreters diese Kosten entstanden sind, mit der Folge, dass das Vorliegen der Verzugsvoraussetzungen nicht festgestellt werden kann. Ob dieser Anspruch in die Zuständigkeit der Familiengerichte fällt, kann daher dahingestellt bleiben.

Ende der Entscheidung

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