Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Urteil verkündet am 16.11.2004
Aktenzeichen: 9 U 110/04
Rechtsgebiete: StVG, StVO


Vorschriften:

StVG § 7
StVG § 17 Abs. 1
StVO § 1 Abs. 2
StVO § 6
StVO § 7 Abs. 4
StVO § 7 Abs. 5
Kommt es nach zweispurigem Abbiegen bei zweistreifiger Fortführung des Verkehrs in Fahrtrichtung am Anfang der nunmehr befahrenen Straße zu einer Kollision zwischen einem Fahrzeug auf dem linken Fahrstreifen und einem solchen, dessen Fahrzeugführer an einem auf dem rechten Fahrstreifen stehenden Pkw vorbeifahren will und deshalb auf den linken Fahrstreifen wechselt, ist die Betriebsgefahr des spurtreuen Fahrzeugs auch dann nicht haftungsbegründend, wenn der andere sich entgegen § 1 Abs. 2 StVO nicht präventiv auf einen nach der Verkehrslage nahe liegenden Fahrstreifenwechsel des Fahrzeugführers auf dem rechten Fahrstreifen einstellt.
Tenor:

Die Berufung des Klägers gegen das am 25. Februar 2004 verkündete Urteil der 15. Zivilkammer des Landgerichts Dortmund wird zurückgewiesen.

Die Kosten des Rechtsmittels werden dem Kläger auferlegt.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe: I. Die Parteien streiten über die Verantwortlichkeit für einen Unfall, der sich am 19.02.2003 gegen 16.35 Uhr in E ereignet hat. An diesem Tage befuhr der Kläger mit seinem Pkw (Audi A 4 Avant) den Innenstadtring (Wall) und bog von dort auf dem rechten von zwei Fahrstreifen in die gleichfalls zweispurige C-Straße ein. Dort musste er in Höhe der Hausnummer 10 (Schule) ein auf der rechten Fahrspur abgestelltes Fahrzeug links umfahren. Dabei kam es zur Kollision mit dem auf dem linken Fahrstreifen der C-Straße in dieselbe Richtung fahrenden Pkw des Bekl. zu 1). Die Verantwortlichkeit für diesen Unfall ist zwischen den Parteien streitig. Der Kläger behauptet, er habe den Fahrstreifenwechsel vorgenommen, nachdem er den linken Blinker betätigt und sich vergewissert habe, dass der rückwärtige Fahrraum frei gewesen sei. Dabei sei der Beklagte erst aufgefahren, als er an dem stehenden PKW Golf bereits vorbeigefahren und im Begriff gewesen sei, wieder nach rechts einzuscheren. Mit seiner Klage hat er einen mit 7.313,28 Euro bezifferten Schaden geltend gemacht. Die Beklagten sind diesem Begehren entgegengetreten. Sie bestreiten die Unfalldarstellung des Klägers und behaupten, dieser sei völlig überraschend - ohne Betätigung seines linken Fahrtrichtungsanzeigers - auf die linke Spur gewechselt und noch vor dem Erreichen des rechts stehenden VW Golf von dem Kläger-Pkw angestoßen worden. Das Landgericht hat nach Zeugenvernehmung und Anhörung der Fahrzeugführer die Klage abgewiesen. Es hat ein verkehrswidriges Verhalten des Klägers (Verstoß gegen § 7 Abs. 5 StVO) bejaht, einen Fahrfehler des Beklagten zu 1) als nicht bewiesen angesehen und die (einfache) Betriebsgefahr des Beklagten-Fahrzeuges vollständig zurücktreten lassen. Mit der hiergegen gerichteten Berufung verfolgt der Kläger seinen bisherigen Klageantrag in vollem Umfang weiter und greift dabei insbesondere die Beweiswürdigung des Landgerichts an. II.

Die zulässige Berufung ist unbegründet. Dem Kläger steht gegen die Beklagten ein Schadenersatzanspruch nach § 7 StVG in Verb. mit § 3 Nr. 1 PflVG nicht zu. Da eine die Haftung für einfache Betriebsgefahr ausschließende Unabwendbarkeit weder zugunsten des Klägers noch der Beklagten bewiesen ist, sind nach § 17 Abs. 1 StVG die beiderseitigen unfallursächlich gewordenen Betriebsgefahren der beteiligten Kraftfahrzeuge gegeneinander abzuwägen, wobei verkehrswidriges Verhalten der Fahrer die Betriebsgefahr des jeweils geführten Fahrzeuges je nach Gewicht eines Verstoßes erhöht. Diese Abwägung führt hier zu dem Ergebnis, dass der Kläger für seinen Unfallschaden in vollem Umfang selbst verantwortlich ist. 1. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme hat der Kläger beim Ausscheren zum Zwecke des Vorbeifahrens an einem haltenden Fahrzeug nicht in dem gebotenen Maße auf den rückwärtigen Verkehr geachtet (Verstoß gegen § 6 Satz 2 StVO) und beim Fahrstreifenwechsel einen anderen Verkehrsteilnehmer gefährdet (Verstoß gegen § 7 Abs. 5 StVO). Der Sachverständige Dipl.-Ing. I hat in seinem klaren und überzeugenden unfallanalytischen Gutachten festgestellt, dass der Unfall sich bereits beim Ausscheren des Kläger-Pkw und damit diesseits der durch den haltenden Pkw Golf des Zeugen L2 gebildeten Engstelle ereignet hat. Soweit die Zeugin O, Mutter und Beifahrerin des Klägers, die Behauptung des Klägers bestätigt hat, die Kollision sei erst beim Wiedereinscheren nach rechts (jenseits des Hindernisses) erfolgt, ist ihre Aussage durch die zwingenden Schlussfolgerungen des Sachverständigen widerlegt. Dieser ist aufgrund der Beschädigungen der Fahrzeuge, der Endstellung des Beklagtenfahrzeuges und der Splitterlage zu dem Ergebnis gelangt, dass die Kollision bereits zum Zeitpunkt des Ausscherens des Kläger-Pkw erfolgt sein muss. Es kommt hinzu, dass der in dem parkenden VW Golf sitzende Zeuge L eine vor ihm stattfindende Kollision hätte bemerken müssen, jedoch - nach seiner glaubhaften Aussage - keine derartigen Beobachtungen gemacht hat. Da der Kläger nach den Feststellungen des Sachverständigen den auf der Überholspur von hinten heranfahrenden Beklagten-Pkw während seines gesamten Fahrvorganges durch Rückschau hätte wahrnehmen können, hätte er seinen Spurwechsel auf die linke Fahrspur zurückstellen müssen. Indem er dies nicht getan hat, sind ihm Verstöße gegen die §§ 6 Satz 2 und 7 Abs. 5 StVO vorzuwerfen. 2. Der Senat verkennt nicht, dass auch der Beklagte zu 1) sich nicht völlig verkehrsgerecht verhalten hat. Zwar kann ihm kein Verstoß nach § 7 Abs. 4 StVO ("Reißverschlussverfahren") zur Last gelegt werden, da der Kläger nach dieser Vorschrift in jedem Fall zunächst ein Fahrzeug des durchgehenden Fahrstreifens, d.h. hier den Beklagten-Pkw, hätte passieren lassen müssen, wie bereits das Landgericht zutreffend ausgeführt hat. Der Beklagte zu 1) hat jedoch die allgemeine Vorsichtsregel des § 1 Abs. 2 StVO nicht in dem gebotenen Maße beachtet, da er nach den Feststellungen des Sachverständigen den auf dem rechten Fahrstreifen parkenden VW Golf sowohl bei einem weiten Abstand der Fahrzeuge der Parteien (Klägervortrag) als auch - erst recht - bei einem Abstand von nur 1/2 Fahrzeuglänge (Beklagtenvortrag) rechtzeitig hätte wahrnehmen und sich auf einen Spurwechsel des Klägers hätte einstellen können. 3.

Bei der Abwägung der von beiden Fahrzeugen in die Kollision eingebrachten Verursachungsbeiträge nach § 17 Abs. 1 S. 2 StVG (a.F.) wiegt der Anteil des Kläger-Pkw so schwer, dass demgegenüber der Beitrag des Beklagten-Fahrzeuges vollständig zurücktritt. Das Gefährdungsverbot bei Vornahme eines Fahrstreifenwechsels (§ 7 Abs. 5 StVO) stellt eine Kernregel dar, deren Beachtung für den Straßenverkehr von grundlegender Bedeutung ist und deren Missachtung die Betriebsgefahr des betreffenden Kraftfahrzeuges daher ganz entscheidend erhöht. Es kommt hinzu, dass der Kläger durch seinen Fahrfehler die kritische Situation überhaupt erst geschaffen hat, während dem Beklagten zu 1) nur vorgeworfen werden kann, diese von ihm vorgefundene Situation nicht angemessen bewältigt zu haben. Diese völlig unterschiedlich zu gewichtenden Kausalbeiträge rechtfertigen eine alleinige Verantwortlichkeit des Klägers. Nach alledem war das angefochtene Urteil zu bestätigen und die Berufung zurückzuweisen. III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf den §§ 708 Nr. 10 ZPO, 711, 713 ZPO. Die Voraussetzungen einer Zulassung der Revision nach § 543 Abs. 1 ZPO liegen nicht vor.

Ende der Entscheidung

Zurück