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Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Urteil verkündet am 24.09.2004
Aktenzeichen: 9 U 158/02
Rechtsgebiete: BGB, StrWG NW, GG


Vorschriften:

BGB § 839
StrWG NW § 9
StrWG NW § 9a
GG Art. 34
Eine jährliche zweimalige Sichtprüfung von Straßenbäumen (im belaubten und unbelaubten Zustand) nach der sog. VTA-Methode erfüllt grundsätzlich die an eine sachgerechte Erfüllung der Verkehrssicherungspflicht zu stellenden Anforderungen (Bestätigung der st. Senatsrechtsprechung).

Austriebe größerer Zahl, Wülste am Stamm, Rindenveränderungen sowie ältere Ästungswunden in 5 m Höhe an einer älteren Kastanie stellen nicht ohne einer über die Sichtkontrolle hinausgehenden fachmännischen Untersuchung eines solchen Baumes nicht den Vorwurf der Verletzung der Verkehrssicherungspflicht.


Tenor:

Die Berufung des Klägers gegen das am 24. April 2002 verkündete Urteil der 11. Zivilkammer des Landgerichts Essen wird zurückgewiesen.

Die Kosten des Berufungsverfahrens werden dem Kläger auferlegt.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Dem Kläger wird nachgelassen, die Zwangsvollstreckung der Beklagten durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages abzuwenden, sofern nicht die Beklagte ihrerseits vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe: I. Am 03.12.1999 gegen 13.00 Uhr, befuhr die Tochter des Klägers, Frau F, mit dem Pkw des Klägers die C Straße in F 1 in Richtung Süden. Auf dem Beifahrersitz saß die Ehefrau des Klägers und Mutter der Fahrerin. Rechts neben der Straße befindet sich in dem Bereich zwischen X-Weg und N Weg eine ansteigende Böschung, auf deren Kuppe in einem Abstand von ca. 4 Metern vom Fahrbahnrand ein Fußgang entlang der C Straße verläuft. Die Böschung ist mit Bäumen und Unterholz bepflanzt. Zur Unfallzeit herrschte starker Wind mit Windstärken von 6 bis 7, in Böen teilweise 9 Beaufort. Während der Fahrt der Frau F unterhalb der Böschung stürzte eine durch den starken Wind abgeknickte - 60 bis 80 Jahre alte - Rosskastanie von der Böschung auf die Fahrbahn der C Straße und dort auf das gerade vorbei fahrende Fahrzeug des Klägers. Der Wagen wurde quer zur Fahrtrichtung in Höhe des Fahrer- und Beifahrersitzes von dem abgeknickten Baumstamm getroffen, wobei beide Insassinnen schwer verletzt wurden. Die Ehefrau des Klägers verstarb am 30. August 2001 nach einem unfallbedingten "apallischen Syndrom". Die Parteien streiten über die Verantwortlichkeit für diesen Unfall. Die Bäume in dem Unfallbereich waren zuletzt am 25. Oktober 1999 durch Mitarbeiter des Grünflächenamtes der Beklagten einer Sichtprüfung - ohne Defektbefund - unterzogen worden. Der Kläger behauptet, der Schadensbaum habe an Weißfäule und einer völligen Durchmorschung des Stammkerns gelitten. Dies hätten die Mitarbeiter der Beklagten bei der sorgfältiger Sichtprüfung im Oktober 1999 feststellen können. Der Baum habe zahlreiche äußere Defektsymptome gezeigt, die, wenn auch in größerer Höhe am Stamm gelegen, zumindest mit einem Fernglas sichtbar gewesen wären. Bei sorgfältiger Prüfung wären Morschungen, offene Höhlungen, Nottriebe, Kalluswülste und Rindenveränderungen erkennbar gewesen, welche die Baumkontrolleure hätten veranlassen müssen, unter Zuhilfenahme von Fernglas, Leiter oder Hubarbeitsbühne eine nähere Inaugenscheinnahme vorzunehmen und die Erforderlichkeit weiterer Untersuchungen zu prüfen. Mit dem Unterlassen dieser Überprüfung habe die Beklagte die ihr obliegende Verkehrssicherungspflicht verletzt. Mit seiner Klage hat der Kläger für materiellen Schaden aus eigenem und übergegangenem Recht einen Kapitalbetrag in Höhe von 107.656,30 DM sowie eine Geldrente von monatlich 1.950,00 DM - beginnend ab September 2001 bis einschließlich Mai 2012 - und ein angemessenes Schmerzensgeld von mindestens 180.000,00 DM begehrt. Die Beklagte ist diesem Begehren entgegengetreten und hat zum Zeitpunkt der letzten Sichtkontrolle erkennbare Defektsymptome, die Anlass zu weiteren Überprüfungen hätten geben müssen, in Abrede gestellt. Ferner hat sie sich zur Höhe der geltend gemachten materiellen Schadensposten mit Nichtwissen erklärt und das Schmerzensgeldbegehren als wesentlich überhöht bewertet. Das Landgericht hat nach Verwertung der Beiakten 4 OH 3/00 LG Essen und 70 Js 234/99 StA Essen im Wege des Urkundenbeweises sowie mündlichen Erläuterungen der Sachverständigen Dipl.-Ing. N1 und I zu den in den Beiakten erstatteten schriftlichen Gutachten die Klage abgewiesen. Es ist bei der kontroversen Beurteilung der Frage eines Vorhandenseins von hinreichenden Defektsymptomen durch die Gutachter der - diese Frage verneinenden - Auffassung des Sachverständigen I gefolgt und hat deshalb eine Pflichtverletzung der mit der Kontrolle beauftragten Bediensteten der Beklagten als nicht bewiesen angesehen. Mit der hiergegen gerichteten Berufung verfolgt der Kläger seine bisherigen Klageanträge in vollem Umfang weiter, wobei er die Beweiswürdigung des Landgerichts angreift. Der Senat hat ein Obergutachten des Sachverständigen N2 eingeholt. II. Die zulässige Berufung ist unbegründet. Auch das vom Senat eingeholte Obergutachten hat nicht zur Feststellung einer - hier ausschließlich nach § 839 BGB i.V.m. §§ 9, 9a StrWG NW, Art. 34 GG in Betracht kommenden - Haftung der Beklagten für den durch die umstürzende Rosskastanie verursachten schweren Unfall geführt. Der Kläger hat auch in der Berufungsinstanz eine Verkehrssicherungspflichtverletzung der Beklagten nicht bewiesen. 1. Nach gefestigter Rechtsprechung hat der Straßenverkehrssicherungspflichtige die Verkehrsteilnehmer möglichst wirksam auch vor solchen Gefahren zu schützen, die von Straßenbäumen - etwa durch Umstürzen oder Abknicken der Baumstämme oder durch Astbrüche - ausgehen. Dieser Schutz ist jedoch nicht lückenlos, da Stabilitätsgefahren eines Baumes nicht immer von außen erkennbar sind und dieses grundsätzliche Risiko schon wegen der ökologischen Bedeutung des Baumbestandes noch keine prophylaktische Entfernung sämtlicher Bäume aus der Nähe von Straßen rechtfertigt. Auch eine eingehende fachmännische Untersuchung sämtlicher Bäume - mit z.T. aufwändigen Geräten und Belastungen des Gehölzes (z.B. durch Einsatz eines Fractometers) - kann nicht gefordert werden, da dies in Anbetracht der umfangreichen Baumbestände der Gebietskörperschaften deren wirtschaftliche Möglichkeiten bei weitem sprengen und zahlreiche Baumschäden überhaupt erst verursachen würde. Daher kann nach ganz herrschender Auffassung in Rechtsprechung und Literatur zunächst einmal nur verlangt werden, sämtliche Straßenbäume sorgfältig daraufhin zu überprüfen, ob sie entweder ganz offen einen Stabilitätsmangel erkennen lassen (z.B. nach Blitzeinschlag in die Baumkrone) oder äußere Anzeichen aufweisen, die nach aller Erfahrung auf einen solchen Mangel zumindest hinweisen (z.B. Pilzbefall). Diese äußere Gesundheits- und Zustandsprüfung ist in Form einer fachlich qualifizierten und vom Boden aus durchgeführten Inaugenscheinnahme des Baumes ohne Geräte (Ausnahme allenfalls: Fernglas bei besonders hohen Kronen) vorzunehmen. Dabei hat sich zumindest im Bereich des Senats die seit 1991 bekannte VTA-Methode ("Visual Tree Assessment") bewährt, nach der die Bäume bei der Sichtkontrolle gezielt auf verdächtige biologische und mechanische Defektsymptome hin überprüft werden (vgl. Hötzel, Agrarrecht 1996, 76 ff.). Der Senat hält in ständiger und auch vom Bundesgerichthof nicht beanstandeter Rechtsprechung im Regelfall eine jährlich zweimal - in belaubtem und unbelaubtem Zustand - durchgeführte äußere Sichtprüfung, bezogen auf Gesundheit und Standsicherheit des Baumes, für erforderlich, aber auch ausreichend, wenn dabei keine konkreten Defektsymptome des jeweiligen Baumes - wie etwa spärliche oder trockene Belaubung, dürre Äste, äußere Verletzungen, Wachstumsauffälligkeiten oder Pilzbefall - erkennbar sind (vgl. etwa Senatsurteil v. 04.02.2003 - 9 U 144/02, VersR 2003, 1452 m.w.N.; vgl. auch BGH VersR 2004, 877 - 878 - m.w.N.). Hingegen ist bei Vorliegen der vorerwähnten Verdachtsanzeichen eine eingehende fachmännische Untersuchung (z.B. mit Schallmessung, Freigraben und -spülen, Einsatz von Resistograph und Fractometer) vorzunehmen (Senatsurteil a.a.O.). 2. Im Streitfall haben sich nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme an der schadenursächlichen Rosskastanie zum Zeitpunkt der letzten Sichtkontrolle (25. Oktober 1999) keine Defektsymptome feststellen lassen, die bei sachkundiger Einschätzung des äußeren Erscheinungsbildes des Baumes auf Stabilitätsprobleme hätten hinweisen und eine eingehende fachmännische Untersuchung hätten erforderlich machen können. a) Zwar hat der - zuvor auch im Rahmen des Beweissicherungsverfahrens 4 OH 3/00 LG Essen tätig gewesene - Sachverständige N1 in dem vorliegenden Verfahren die Baumart "Kastanie" bereits grundsätzlich in ihrer Statik als besonders gefährdet angesehen und konkrete Wachstumserscheinungen des Schadensbaumes wie "Reaktionsholz", "Wülste am Stamm" und "Rindenveränderungen" als Defektsymptome bewertet. Dem ist jedoch der - zuvor auch in dem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren 70 Js 234/99 StA Essen beauftragte - Sachverständige I entgegengetreten und hat sowohl die Baumart als auch die festgestellten Wachstumsauffälligkeiten der hier schadenursächlichen Rosskastanie im Hinblick auf die Statik des Baumes als unbedenklich eingeschätzt. b) Diese Beurteilung des Sachverständigen I ist von dem wegen des Gutachterstreites in der Berufungsinstanz als Obergutachter hinzugezogenen Sachverständigen N2, Leiter des Instituts für Materialforschung II des Forschungszentrums Karlsruhe, bestätigt worden. Der u.a. auf das Bruchverhalten der Bäume und die Phänomenologie der Holzzersetzung durch Pilze spezialisierte Obergutachter N2 hat mit vertiefter und überzeugender Argumentation deutlich gemacht, dass die mit "Reaktionsholz" und "Angsttriebe" beschriebenen Triebe des Schadenbaumes lediglich auf Assimilatebedarf und Lichteinfall hindeuten und keine Defektsymptome darstellen. Er hat ferner einleuchtend ausgeführt, dass "Wülste" in Form von Zuwachsstreifen etwa im Falle von Baumverletzungen einen Kraftfluss um die Wunde herum oder an ihr vorbei lenken sollen und damit grundsätzlich ein Anzeichen für die Selbstreparatur des Baumes und nicht für eine Instabilität darstellen. Die festgestellte "Rindenanomalie" weist gleichfalls nicht auf einen (fortbestehenden) Defekt hin, sondern ist nach der einleuchtenden Begründung des Sachverständigen als Streifen minder aktiven Kambiums ("Versorgungsschatten") natürlich zu erklären. Der Sachverständige N2 hat lediglich die teilweise verheilte und bereits zum Zeitpunkt der Sichtkontrolle (25. Oktober 1999) erkennbare "alte" Ästungswunde in etwa fünf Metern Höhe als mögliches Defektsymptom des Schadensbaumes in Erwägung gezogen, jedoch bei näherer Besichtigung auch insoweit einen Krankheitsverdacht letztlich verneint. Er hat dies überzeugend insbesondere mit der Eigenschaft des Baumes begründet, das Eindringen von Pilzen durch den Aufbau mechanischer und chemischer Schutzbarrieren zu verhindern. Die mechanische Abschottung der Verletzungsstelle erfolgt dabei durch das Errichten von Schutzspannungen, die dem Eindringen von Pilzen entgegenwirken, wobei sei mit der Tiefe der Öffnung noch stark zunehmen. Die chemische Barriere besteht aus einer Flüssigkeit, die aus dem Verletzungsbereich des Baumes abgesondert wird und in die die Pilze nicht hineingehen. Gleichfalls einleuchtend hat der Sachverständige als weiteren Grund gegen die Annahme eines Krankheitsherdes im Ästungsbereich noch den Erfahrungssatz berücksichtigt, dass der zu der Baumfäule führende Pilz typischerweise im Bereich des Stammfußes und nicht in Höhe der Ästungsstelle (etwa fünf Meter) auftritt. All diese Erwägungen tragen die dendrologische Schlussfolgerung des Sachverständigen, er selbst hätte im Bereich der alten Ästungswunde weder gebohrt noch sonstige weitergehende Untersuchungsmaßnahmen ausgeführt, zumal nahezu alle Rosskastanien Ästungswunden aufweisen und an dem Stamm des Baumes keine Stammschwellungen in Form von Reparaturanbauten vorhanden waren. 3. Auf dieser tatsächlichen Grundlage kann das Unterlassen einer über das VTA-Verfahren hinausgehenden fachmännischen Untersuchung rechtlich nicht als Verletzung der gebotenen Baumkontrolle bewertet werden, da das Abknicken des Stammes bei der aus ex-ante Sicht vorzunehmenden Prognose nicht vorhersehbar war. Der eingetretene schwerste Körperschaden ist daher nicht auf Unrecht der Beklagten zurückzuführen, sondern stellt sich als besonders tragische Realisierung des allgemeinen Lebensrisikos dar. Das klageabweisende Urteil ist mithin auch in der Berufungsinstanz zu bestätigen. III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf den §§ 708 Nr. 10, 711 und 713 ZPO. Gründe für eine Zulassung der Revision gemäß § 543 Abs. 2 ZPO n.F. liegen nicht vor.

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