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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Urteil verkündet am 15.06.2007
Aktenzeichen: 9 U 183/06
Rechtsgebiete: StVG, BGB, PflgVG, StVO


Vorschriften:

StVG § 7
BGB § 823
PflgVG § 3 Ziff. 1
StVO § 3 Abs. 2 a
StVO § 25 Abs. 3
Kauert ein 11 1/2-jähriges Kind mit seinem Roller in Höhe einer Querungshilfe zur Fahrbahn hin am Boden, weil es die Schnürbänder seiner Schuhe richtet, muss der sich nahende Fahrzeugführer gemäß § 3 Abs. 2 a StVO darauf einrichten, dass das Kind plötzlich unachtsam die Fahrbahn betreten könnte, weil dessen Gebahren - offensichtliche Unaufmerksamkeit gegenüber dem Fahrverkehr - kein Vertrauen auf verkehrsgerechtes Verhalten begründet.
Tenor:

Die Berufungen des Klägers sowie der Beklagten gegen das am 31. Juli 2006 verkündete Urteil der 3. Zivilkammer des Landgerichts Essen werden zurückgewiesen.

Die Kosten des Berufungsverfahrens werden dem Kläger zu einem Drittel und den Beklagten zu zwei Dritteln auferlegt.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Jede Partei darf die Zwangsvollstreckung der anderen gegen Sicherheitsleistung i. H. v. 110 % des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht zuvor der jeweilige Vollstreckungsgläubiger in gleicher Höhe Sicherheit leistet.

Gründe:

A.

Der am 24.11.1992 geborene Kläger begehrt im Wege des Feststellungsantrags vollen materiellen und immateriellen Schadensersatz aus einem Verkehrsunfall vom 23.7.2003 gegen 15:00 Uhr auf der N-Straße ( B 51 ) innerorts von T3, bei dem er mit dem von der Beklagten zu 1 ( nachfolgend nur Beklagte ) geführten Pkw Fiat Punto kollidierte, als er versuchte, mit einem Tretroller ( sog. "City-Roller" ) die Fahrbahn an einer durch eine Mittelinsel und abgesenkte Bordsteine gebildeten Querungshilfe von - aus Sicht der Beklagten - rechts nach links zu überqueren. Das Landgericht hat nach Vernehmung von Zeugen und sachverständiger Beratung durch den Dipl.-Ing. T dem Klagebegehren zu zwei Dritteln aus §§ 7 StVG, 823 BGB, 3 Ziffer 1 PflVG entsprochen. Es hat bei seiner Haftungsabwägung gemäß §§ 254 BGB, 9 StVG der Beklagten eine im Hinblick auf das für sie am Fahrbahnrand erkennbare Kind unangemessene Geschwindigkeit und dem Kläger ein leichtfertiges Queren der Fahrbahn unter Missachtung des herannahenden Fahrzeugverkehrs als Verschulden angelastet.

Wegen des Sach- und Streitstandes bis zum Abschluss der ersten Instanz wird auf das angefochtene Urteil einschließlich seiner Entscheidungsgründe Bezug genommen.

Mit ihren Berufungen verfolgen beide Seiten ihre erstinstanzlichen Anträge weiter und beantragen demgemäß auch, das jeweils gegnerische Rechtsmittel zurückzuweisen. Unter Wiederholung und Vertiefung ihres erstinstanzlichen Sachvortrags reklamieren sie eine Abwägung der Haftungsanteile von 100 : 0 jeweils zu ihren Gunsten.

Der Kläger vertritt die Auffassung, die Beklagte habe, nachdem sie ihn aus einer Entfernung von 28 m in einer von dem Sachverständigen beschriebenen Signalposition habe wahrnehmen können, sein Loslaufen schon aufgrund ihrer Annäherung an eine straßenbauliche Querungshilfe und mehr noch auf Grund der Querung der Fahrbahn an dieser Stelle durch ein ältere Dame - nach seiner Behauptung unmittelbar - vor ihm gewärtigen und sich durch Herabsetzen der Geschwindigkeit darauf einstellen müssen. Ihn selbst treffe hingegen kein Verschulden, da er in der gegebenen Situation darauf habe vertrauen dürfen, die Fahrbahn gefahrlos überqueren zu können. Dies habe er quasi in der "Sogwirkung" der vorausgegangenen Passantin, veranlasst durch eine Geschwindigkeitsherabsetzung der Beklagten getan.

Die Beklagten wollen das Eigenverschulden des Klägers insbesondere unter Berücksichtigung seines schon fortgeschrittenen Kindesalters von 11,5 Jahren zur Unfallzeit schwerer als vom Landgericht gewichtet sehen und stellen ein Verschulden der Beklagten zu 1 in Form des Unterlassens einer Angleichsbremsung schon bei Ansichtigwerden des Klägers, zu dem jene keine Veranlassung gehabt habe, in Abrede. Die Vollbremsung habe sie allenfalls bei Erkennen der Signalposition des Klägers mit einem zurückgestellten Bein 1,5 sec. und 16,7 m vor der Kollision einleiten müssen, wofür ihr indes eine Reaktionszeit von 1 sec. statt der vom Sachverständigen berechneten 0,8 sec. zuzubilligen gewesen sei. In diesem Fall hätte bei der in keinem Fall zu vermeidenden Kollision die Geschwindigkeit des Pkw noch über den errechneten 14 km/h gelegen und wäre - so ihr daran anknüpfender erstinstanzlicher Vortrag - durch den Anstoß mit der Fahrzeugfront die Verletzung des Klägers im Ergebnis nicht minder schwer gewesen.

Der Senat hat die Beklagte persönlich gehört. Dazu wird auf den Berichterstattervermerk zum Protokoll der Berufungsverhandlung vom 15. Juni 2007 verwiesen.

B.

Die wechselseitigen Berufungen aller drei Parteien bleiben erfolglos, weil die Abwägung der Haftungsanteile, die das Landgericht gemäß §§ 9 StVG, 254 BGB vorgenommen hat, sich im Ergebnis als zutreffend erweist. Auch der Senat gewichtet den von den Beklagten zu verantwortenden Verursachungsanteil doppelt so schwer wie den eigenen des Klägers.

Haftungsbegründend ist gemäß § 7 I StVG zunächst die von den Beklagten zu verantwortende Betriebsgefahr des Pkw Fiat Punto. Höhere Gewalt i. S. v. § 7 II StVG machen die Beklagten zu Recht nicht geltend.

Diese Betriebsgefahr ist vorliegend durch ein Verschulden der Erstbeklagten über das einfache Maß hinaus erhöht. Die Beklagte hat fahrlässig gegen § 3 II a StVO verstoßen, indem sie nicht durch Verminderung der Fahrgeschwindigkeit und stete Bremsbereitschaft die Gefährdung des kindlichen Klägers ausgeschlossen hat. Sie hätte bei gebotener Aufmerksamkeit den Kläger am Fahrbahnrand aus einer Entfernung von mindestens 30 m wahrnehmen können, wie durch das Sachverständigengutachten überzeugend festgestellt worden ist. Obwohl die fotografisch dokumentierten Versuche des Gutachters dazu in einer gänzlich anderen Fahrbahnumgebung durchgeführt wurden, erweisen sie allein aufgrund der objektiven Größenverhältnisse, aus welcher Entfernung der Kläger - selbst in gebückter Haltung - zwischen den Blumenkübeln an der Bordsteinabsenkung aus der Sitzposition eines in Richtung Ortsmitte fahrenden Pkw-Führers sichtbar wurde. Dem Landgericht ist im Ergebnis auch darin zu folgen, dass die Beklagte nicht erst auf das Loslaufen ca. 1,5 sec vor der Kollision reagieren musste, sondern schon bei Ansichtigwerden des Klägers in der von dem Sachverständigen für eine Unfallvermeidung als ausreichend errechneten Entfernung von etwa 25 m durch eine Angleichsbremsung auf ihn hätte reagieren und sich mit seiner weiteren Beobachtung für eine Vollbremsung hätte bereit halten müssen. Zwar muss sich auch im Lichte von § 3 II a StVO der Kraftfahrer nicht immer und unter allen Umständen darauf gefasst machen, dass sich ein in der Nähe der Fahrbahn befindliches Kind unbesonnen verhalten werde (OLG Brandenburg, NZV 2000, 122; OLG Oldenburg, ZfS 91, 321). Das gilt jedenfalls für ältere Kinder wie den Kläger, bei denen Kenntnisse der elementaren Verkehrsregeln vorausgesetzt werden können und darauf vertraut werden kann, dass sie ihr Verhalten im Straßenverkehr danach ausrichten werden. Auch gegenüber diesen Kindern gilt prinzipiell der Vertrauensgrundsatz. Der Bundesgerichtshof hat daher nur dann, wenn das Verhalten der Kinder oder die Situation, in der sie sich befinden, Auffälligkeiten zeigen, die zu Gefährdungen führen können, von dem Kraftfahrer verlangt, dass er besondere Vorkehrungen zur Abwendung der Gefahr trifft ( BGH NZV 2001, 35; auch OLG Hamm, DAR 2006, 272 ).

Eine Auffälligkeit im Sinne dieser Rechtsprechung war hier jedoch für die Beklagte in dem Verhalten des Klägers gegeben. Der Zeuge N hat nämlich ausgesagt, dass der Kläger unmittelbar vor seinem Loslaufen in die Fahrbahn - "in Sekundenschnelle" - in gebückter Haltung an seinen Schuhbändern hantierte. Diese Aussage haben sich die Beklagten ausdrücklich zu eigen gemacht; der Kläger als eine ihm günstige stillschweigend. Damit musste für die Beklagte, wenn sie die gebotene Sorgfalt angewendet hätte, deutlich gewesen sein, dass das Kind, welches seinen Tretroller dem Fahrbahnrand zugeführt hatte, seine Aufmerksamkeit gleichwohl nicht dem Verkehr auf der Fahrbahn widmete. In dieser Situation verlangt § 3 II a StVO zum Ausschluss jeder Gefährdung der durch diese Vorschrift geschützten Kinder, deren plötzliches unbesonnenes Queren der Fahrbahn in Rechnung und die eigene Fahrweise darauf einzustellen.

Damit erweist sich zugleich der Angriff der Berufung als haltlos, der Beklagten sei eine Reaktionszeit von 1 sec und nicht nur 0,8 sec, wie sie der Sachverständige zugrunde legt, zuzubilligen.

Unfallursächlich ist aber auch ein mitwirkendes Verschulden des Klägers in Form seiner unachtsam, unter Verstoß gegen § 25 III StVO vorgenommenen Fahrbahnquerung.

Richtig erkennt das Landgericht, dass der Kläger sich leichtfertig verhalten und dadurch in erster Linie zu dem Unfallhergang beigetragen hat. Ihm ist mithin ein grobes Verschulden anzulasten, denn als normal entwickeltes Kind besaß er mit 11 Jahren und 8 Monaten die erforderliche Einsichtsfähigkeit dafür, dass man nicht ohne auf herannahenden Fahrzeugverkehr zu achten einfach auf die Fahrbahn einer Straße treten darf. Für ihn war bei Anspannung der gebotenen Aufmerksamkeit der herankommende Fiat ebenso gut erkennbar, wie seine Anwesenheit am Fahrbahnrand für die Beklagte. Die Argumentation seiner Berufungsbegründung, den Kläger treffe keinerlei Verschulden, weil er an einer Querungshilfe einer vorausgegangenen Passantin über die Straße gefolgt sei, greift nicht. Die Mittelinsel verringert als geschützte Unterbrechungszone das Risiko der Querung für den Fußgänger zeitlich, sie schafft diesem aber keinerlei Vorrecht vor dem Fahrzeugverkehr. Dass die vorausgehende Passantin unmittelbar vor dem Kläger ging und diesen beeinflusst hätten, kann nach den Zeugenaussagen schon nicht festgestellt werden. Nach den Aussagen C und N muss die Passantin die Mittelinsel schon erreicht gehabt haben, bevor der Kläger an den Fahrbahnrand trat. Aber selbst wenn etwas anderes erweislich wäre, könnte ein "Sogeffekt" ihn nicht entlasten, denn § 25 III StVO verlangt gerade eine eigene Beachtung des Fahrzeugverkehrs.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 92 I, 97 I ZPO.

Das Urteil ist gemäß §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO vorläufig vollstreckbar.

Gründe für eine Zulassung der Revision gemäß § 543 Abs. 2 ZPO liegen nicht vor.

Ende der Entscheidung

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