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Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Urteil verkündet am 05.04.2005
Aktenzeichen: 9 U 41/03
Rechtsgebiete: BGB, FahrschAusbO


Vorschriften:

BGB § 823 Abs. 1
BGB § 847 a. F.
FahrschAusbO § 5 Abs. 1
FahrschAusbO § 5 Abs. 1 S. 1
FahrschAusbO § 5 Abs. 1 S. 2
FahrschAusbO § 5 Abs. 1 S. 3
FahrschAusbO § 5 Abs. 1 S. 4
FahrschAusbO § 5 Abs. 11
Stürzt eine Motorradfahrschülerin bei Bremsübungen aus 50 km/h, kann für den Schaden der Fahrlehrer verantwortlich gemacht werden, wenn die Fahrschülerin nicht mit geeignetem Schulungsfahrzeug oder ausreichenden Bremsverzögerung herangeführt worden ist.

Die Fahrschülerin muss sich ein Mitverschulden (hier 50%) anspruchsmindernd entgegen halten lassen, wenn sie sich auf riskante Bremsübungen trotz unsicheren Fahrgefühls (weil man sich den Anforderungen nicht gewachsen glaubt) und Kenntnis der theoretisch vermittelten Sturzgefahr einlässt.


Oberlandesgericht Hamm Im Namen des Volkes Urteil 9 U 41/03 OLG Hamm

Verkündet am 5. April 2005 In dem Rechtsstreit hat der 9. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Hamm auf die mündliche Verhandlung vom 05. April 2005 durch für Recht erkannt: Tenor:

Auf die Berufung der Klägerin wird unter Zurückweisung des weitergehenden Rechtsmittels das am 5. September 2002 verkündete Urteil der 12. Zivilkammer des Landgerichts Dortmund abgeändert. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin ein Schmerzensgeld von 1.750,00 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 %-Punkten über dem Basiszinssatz ab 5. April 2005 zu zahlen.

Die Beklagte wird weiter verurteilt, an die Klägerin 484,78 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 %-Punkten über dem Basiszinssatz ab 5. April 2005 zu zahlen. Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin 50 % ihres künftigen materiellen Schadens aus dem Unfall vom 22. Mai 2001 in dem Industriegebiet M in C sowie ihren künftigen immateriellen Schaden aus diesem Unfall unter Berücksichtigung eines Eigenverantwortungsanteils der Klägerin von 50 % zu ersetzen, und zwar den materiellen Schaden, soweit Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind oder übergehen. Sämtliche von der Beklagten zu erbringenden Leistungen haben aus der Entschädigungsforderung des früheren Beklagten F gegen dessen Haftpflichtversicherer, die F VaG, zu erfolgen. Im übrigen wird die Klage abgewiesen. Die Kosten des Rechtsstreits werden gegeneinander aufgehoben. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Gründe:

I. Der frühere Beklagte F war Betreiber einer Fahrschule. Die damals 26jährige Klägerin nahm bei ihm im Frühjahr 2001 Unterricht zur Erlangung einer Fahrerlaubnis für Motorräder. Am 22. Mai 2001 kam sie bei der Übung von Notbremsungen mit dem Motorrad zu Fall und erlitt eine Tibiakopffraktur. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits wenigstens sechs Übungsstunden vorausgegangen, während derer die Klägerin sich mit dem Motorrad auch im öffentlichen Straßenverkehr bewegt hatte. Der frühere Beklagte hatte die entsprechenden Hinweise und Aufforderungen per Funk erteilt und die Klägerin angewiesen, das Fahrzeug bis auf eine Geschwindigkeit von 50 km/h zu beschleunigen, um es dann abrupt abzubremsen. Diese Übung wurde aus geringeren Geschwindigkeiten mehrfach erfolgreich wiederholt, bis die Klägerin nach einer erneuten Anweisung, das Motorrad noch energischer als zuvor und unter Einsatz der Vorderradbremse abzubremsen, mit dem Fahrzeug zu Fall kam. Die Parteien streiten über die Verantwortlichkeit für den Unfall. Die Klägerin behauptet, der Unfall sei darauf zurückzuführen, dass der frühere Beklagte sie mit seinen Anweisungen erkennbar überfordert habe. Sie habe sich unsicher gefühlt, was er habe erkennen können und müssen. Die Notbremsungen hätten auch nicht ihrem Ausbildungsstand entsprochen. Mit der Klage hat sie ein angemessenes Schmerzensgeld in der Größenordnung von mindestens 4.000,00 Euro, Ersatz eines mit 969,56 EUR bezifferten materiellen Schadens sowie die Feststellung einer Haftung des früheren Beklagten für sämtliche weiteren materiellen und künftigen immateriellen Schäden begehrt. Der frühere Beklagte ist diesem Begehren entgegengetreten und hat bestritten, die Klägerin bei der Ausbildung überfordert zu haben. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Es hat eine Pflichtverletzung des früheren Beklagten verneint und den Unfall ausschließlich auf das Eigenverschulden der Klägerin zurückgeführt. Mit der hiergegen gerichteten Berufung verfolgt die Klägerin ihre Klageänträge in vollem Umfang weiter und rügt die Beweiswürdigung des Landgerichts. Am 01. März 2004 - während der Berufungsinstanz - wurde über das Vermögen des früheren Beklagten das Insolvenzverfahren eröffnet und die Rechtsanwältin Dr. M zur zur Insolvenzverwalterin bestellt. Die Klägerin richtet ihre Klageanträge nunmehr gegen die Insolvenzverwalterin mit der Maßgabe, dass die begehrten Leistungen aus der Entschädigungsforderung des früheren Beklagten gegen dessen Haftpflichtversicherer zu erfolgen haben. II. Die zulässige Berufung ist zu einem Teil begründet. Der Klägerin steht wegen des Motorradsturzes vom 22. Mai 2005 gegen die Beklagte als Insolvenzverwalterin gemäß §§ 823 Abs. 1, 847 BGB a.F. unter Berücksichtigung ihres Eigenverantwortungsanteils von 50 % ein Schmerzensgeldanspruch in Höhe von 1.750,00 Euro sowie nach einer Haftungsquote von 50 % ein Anspruch auf materiellen Schadenersatz in Höhe von 484,78 Euro zu. Ferner kann sie die Hälfte ihres künftigen materiellen Schadens ersetzt verlangen. Diese Ansprüche sind nach § 157 VVG im Wege der abgesonderten Befriedigung aus der Entschädigungsforderung des früheren Beklagten F gegen dessen Haftpflichtversicherer zu erfüllen. 1. Den früheren Beklagten F trifft an dem Sturz der Klägerin ein Verschulden. a) Ziel und Umfang der Fahrschülerausbildung sind in der Fahrschul-Ausbildungsordnung vom 31.05.1976, i.d.F. der VO vom 18.08.1998 <BGBl. I S. 2335 (FahrschAusbO) sowie den Anlagen zu dieser Verordnung grundsätzlich festgelegt. Nach § 5 Abs. 1 S. 1 bis 4 FahrschAusbO ist der praktische Unterricht auf die theoretische Ausbildung zu beziehen und systematisch aufzubauen. Er besteht aus einer Grundausbildung sowie besonderen Ausbildungsfahrten und hat sich an den in den Anlagen aufgeführten Inhalten zu orientieren. Nach § 5 Abs. 11 ist ein gegliederter Ausbildungsplan aufzustellen, nach dem der Unterricht ausgerichtet sein muss. Welchen Ausbildungsstoff ein solcher Stufenlehrplan für die praktische Ausbildung von Motorradfahrern enthalten muss, lässt sich den Anlagen 3 und 4 entnehmen. Die genaue zeitliche Reihenfolge fachgerechter praktischer Übungen ist in der FahrschAusbO und ihren Anlagen nicht geregelt, jedoch in dem von der Studienstelle der Bundesvereinigung der Fahrlehrerverbände e.V. herausgegebenen Curricularen Leitfaden (3. Aufl. 2000) ausgeführt. Danach gliedert sich die praktische Ausbildung in eine Grundstufe (z.B. mit Balance-Übungen, Anfahr- und Anhalteübungen sowie Vorübungen zum Kreisfahren), eine Aufbaustufe (z.B. Vergleichsbremsungen aus 30 km/h, Beschleunigen, Schalten, Bremsen u.a. aus 50 km/h , Ausweichen, Steigung und Gefälle), eine Leistungsstufe (z.B. An- und Einfahren, Fahrstreifenwechsel, Einordnen und Abbiegen) und eine Stufe der Sonderfahrten (z.B. Autobahnfahrten). Nach gefestigter Rechtsprechung hat der Fahrlehrer im Rahmen der ihm obliegenden fach- und sachgerechten Ausbildung seiner Fahrschüler dafür zu sorgen, dass diesen keine Aufgaben gestellt werden, die sie nicht oder noch nicht bewältigen können, weil sie ihrem Ausbildungsstand und ihren Fähigkeiten noch nicht entsprechen (Senat NJW-RR 2004, 1096 = NZV 2004, 403 m.w.N.). An die Erfüllung dieser Pflicht ist insbesondere bei der Ausbildung von Zweiradfahrern wegen der erhöhten Sturzgefahr einspuriger Fahrzeuge und der begrenzten Möglichkeit der Fahrlehrer, in Gefahrsituationen in das Fahrgeschehen einzugreifen, ein strenger Maßstab anzulegen. b) Bei Anwendung dieser Grundsätze auf den Streitfall hat der frühere Beklagte F insoweit gegen die ihm obliegende Ausbildungspflicht verstoßen, als er trotz des von ihm selbst erkannten Problems der Klägerin mit der Vorderradbremse des Motorrades die Bremsübung nicht aus einer geringeren Geschwindigkeit als 50 km/h hatte wiederholen lassen, um ihr eine allmähliche Gewöhnung an den Bremsvorgang zu ermöglichen und dessen problemlose Beherrschung sicherzustellen. Der vom Senat hinzugezogene kraftfahrzeugtechnische Sachverständige Prof. S hat hierzu ausgeführt, bei Bremsversuchen mit einem Zweirad gebe es außer der Verwendung besonders hergerichteter Schulungsfahrzeuge (ABS-System, Stützräder, funkgesteuertes Ventil zur Vermeidung einer Vollbremsung) nur die Möglichkeit, dass der Schüler an die Bremsung geduldig herangeführt werde. Vor dieser Übung hätte der frühere Beklagte F sich sicher sein müssen, dass die Fahrschülerin nicht stürzen werde. Ein vorheriges zweimaliges Bremsen habe nicht ausgereicht, um ein Bremsmanöver aus höherer Geschwindigkeit riskieren zu können. Auch durch das Üben von Ausgleichbremsungen habe die Fahrschülerin keine Erfahrung für eine Vollbremsung sammeln können. Dieses Versäumnis einer vorsichtigeren Steigerung des Schwierigkeitsgrades der Bremsübungen begründet wegen der Gefahr schwerer Verletzungen den gegen den früheren Beklagten F gerichteten Schuldvorwurf. 2. Die Klägerin hat ihren Motorradunfall mitverschuldet. Da ihr die Gefährlichkeit des Bremsvorganges zuvor theoretisch vermittelt worden war und sie sich bei der Betätigung der Vorderradbremse unsicher fühlte, hätte sie eine Bremsung aus 50 km/h ohne vorherige weitere Bremsübungen aus geringeren Geschwindigkeiten von sich aus verweigern müssen. Von ihr als erwachsener Frau hätte erwartet werden können, dass sie ihre Sicherheitsbelange eigenverantwortlich entschiedener wahrnahm, da sie am ehesten in der Lage war, aus ihrem Gefühl heraus zu beurteilen, ob das Bremsmanöver für sie riskant war oder nicht. Sie hätte die ihr gefährlich erscheinende Übung, die sie aus eigener Entscheidung durchführte, jederzeit abbrechen können. Da sie mithin ohne Not ein Unfallrisiko auf sich genommen hat, muss sie für dessen Realisierung im Ergebnis miteinstehen. Bei der gemäß § 254 Abs. 1 BGB vorzunehmenden Abwägung der beiderseitigen Verursachungs- und Verschuldensbeiträge wiegen die Anteile beider Parteien gleich schwer, so dass nach der Beurteilung des Senats eine Schadenteilung sachgerecht erscheint. 3. Der Klägerin steht für ihren Sturz nach § 847 BGB a.F. ein Schmerzensgeld in Höhe von 1.750,00 Euro zu. Sie hat nach den zu den Akten gereichten Arztberichten des R Hospitals in C infolge des Unfalles eine Tibiakopffraktur des linken Knies erlitten, die über längere Zeit starke Druck- und Bewegungsschmerzen im linken Knie mit mäßiggradiger Schwellung im Bereich des Knies und proximalen Unterschenkels links zur Folge hatte. Sie musste deshalb vom 22.05. bis 01.06. sowie vom 27.08. bis 30.08.2001 stationär behandelt werden. Der postoperative Verlauf führte zu einer reizfreien Wundheilung und war insgesamt komplikationslos. In Anbetracht dieses Verletzungsbildes und des hälftigen Mitverschuldens der Klägerin ist der zuerkannte Schmerzengeldbetrag nach der Beurteilung des Senats erforderlich, aber auch ausreichend. Der in Rechnung gestellte materielle Schaden, bestehend aus Eigenbeteiligungen an der Behandlung der Verletzungen (172,52 Euro) und Lohnausfall (797,04 Euro), ist in Anbetracht des verspäteten gegnerischen Bestreitens in Höhe von insgesamt 969,56 Euro ersatzfähig. Dies ergibt unter Berücksichtigung des Mitverschuldens der Klägerin einen Schadenersatzanspruch in Höhe 484,78 Euro. 4. Der Feststellungsantrag ist zulässig, da nach der Art der Verletzung künftig mit einer Arthrose im Kniegelenk als nicht fernliegender Spätfolge des Unfalls gerechnet werden muss, und in dem zuerkannten Umfang auch begründet. 5. Die Beklagte ist durch Beschluss des Amtsgerichts - Insolvenzgericht - Dortmund - zur Insolvenzverwalterin über das Vermögen des früheren Beklagten F bestellt worden und daher in die Parteistellung des früheren Beklagten eingetreten. Da für die Schadenersatzforderungen der Klägerin nach § 157 VVG ein Absonderungsrecht besteht, sind diese Forderungen aus der Entschädigungsforderung des früheren Beklagten gegen seinen Haftpflichtversicherer, die F VaG, zu befriedigen. III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 1 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO. Die Voraussetzungen für eine Zulassung der Revision liegen nicht vor.

Ende der Entscheidung

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