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Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Urteil verkündet am 04.08.2006
Aktenzeichen: 9 UF 32/06
Rechtsgebiete: ZPO, BGB, EGBGB


Vorschriften:

ZPO § 310 Abs. 2
ZPO § 538 Abs. 2 S. 1
BGB §§ 1591ff.
BGB § 1592 Nr. 2
BGB § 1600 Abs. 1 Nr. 2
BGB § 1600 Abs. 2
BGB § 1600 Abs. 2 1. HS
BGB § 1600 Abs. 2 2. HS
BGB § 1600 Abs. 3
BGB § 1600 Abs. 3 S. 1
BGB § 1600 Abs. 3 S. 2
BGB § 1600 Abs. 3 S. 2 2. Var.
BGB § 1600b Abs. 1
BGB § 1600e Abs. 1 2. Var.
BGB § 1630 Abs. 3
BGB § 1632 Abs. 4
BGB § 1682
BGB § 1685 Abs. 2
EGBGB Art. 229 § 10
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Tenor:

1. Das Urteil des Amtsgerichts - Familiengericht - Minden vom 02. November 2005 wird abgeändert. Die Klage wird abgewiesen.

2. Die Kosten des Rechtsstreits hat der Kläger zu tragen.

3. Die Revision wird für den Kläger zugelassen.

Gründe:

I.

Der Kläger ist der leibliche Vater der am 19.04.2004 geborenen Beklagten zu 1), wie aufgrund des erstinstanzlich eingeholten Sachverständigengutachtens feststeht und zwischen den Parteien nicht streitig ist.

Der Beklagte zu 2) lebt mit der Kindesmutter zusammen. Er erkannte die Vaterschaft für die Beklagte zu 1) am 14.05.2004 an.

Das Amtsgericht hat antragsgemäß festgestellt, dass nicht der Beklagte zu 2) der Vater der Beklagten zu 1) ist, sondern der Kläger. Das Urteil enthält weder Tatbestand noch Entscheidungsgründe. Gegen das Urteil richtet sich die Berufung der Beklagten zu 1), nicht des Beklagten zu 2).

Die Beklagte zu 1) beantragt, die angefochtene Entscheidung abzuändern und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Er verteidigt das angefochtene Urteil.

Einziger Streitpunkt ist das Bestehen einer sozialfamiliären Bindung zwischen den Beklagten. Die Beklagte zu 1) trägt dazu vor, ihre Mutter und der Beklagte zu 2) lebten bereits seit ihrer Geburt zusammen. Der Beklagte zu 2) habe bereits während der Schwangerschaft die Kindesmutter zu sämtlichen Vorsorgeuntersuchungen und Arztbesuchen begleitet. Er habe die finanzielle Verantwortung für Mutter und Kind übernommen und erledige die behördlichen Angelegenheiten für das Kind. Er verantworte gemeinsam mit der Mutter die Erziehung und Betreuung des Kindes und verbringe sowohl seine gesamte Freizeit als auch seinen Urlaub mit Mutter und Kind. Er gehe mit dem Kind zum Arzt, versorge es nachts, wasche es und mit spiele mit ihm. Daran habe sich auch nichts geändert, seit er erfahren hat, dass er nicht der leibliche Vater des Kindes ist.

Der Kläger bestreitet "die Entwicklung der Beziehungen zwischen den Beklagten" mit Nichtwissen und meint, es komme für die Beurteilung des Vorliegens einer sozialfamiliären Bindung auf den Zeitpunkt der Erhebung der Klage an, hier Anfang August 2004. Zu diesem Zeitpunkt habe jedenfalls noch kein längeres Zusammenleben in häuslicher Gemeinschaft zwischen den Beklagten vorgelegen.

II.

Die Berufung ist zulässig (1.) und begründet (2.).

1.

a) Der Senat hat trotz des vorliegenden Verstoßes gegen § 310 Abs. 2 ZPO in der Sache zu entscheiden, weil keine der Parteien die Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils und Zurückverweisung beantragt hat, § 538 Abs. 2 S. 1 ZPO.

b) Dass der Beklagte zu 2) sich nicht am Berufungsrechtsstreit beteiligt hat, ist unschädlich, denn er ist wegen § 1600e Abs. 1 2. Var. BGB notwendiger Streitgenosse der Beklagten zu 1) (vgl. Wieser, FamRZ 2004, 1773). Er ist durch die rechtzeitige Berufung der Beklagten zu 1) selbst Partei im Rechtsmittelverfahren (vgl. BGH, FamRZ 1976, 376; OLG Karlsruhe, ZIP 1991, 101).

2.

Die Berufung ist begründet, denn das Amtsgericht - Familiengericht - hat der Klage zu Unrecht stattgegeben.

Die Klage ist unbegründet. Zwar ist der Kläger nach § 1600 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 2. HS BGB anfechtungsberechtigt, denn er hat eidesstattlich versichert, der Kindesmutter während der gesetzlichen Empfängniszeit beigewohnt zu haben, und er ist der leibliche Vater der Beklagten zu 1). Die weiteren Voraussetzungen der Anfechtung nach § 1600 Abs. 2 BGB liegen aber nicht vor.

a) Die Vorschrift ist hier anwendbar. Denn auf das Rechtsverhältnis zwischen dem Kläger und den Beklagten, alle deutsche Staatsbürger, finden die §§ 1591ff. BGB in ihrer aktuellen Fassung Anwendung. Der hier einschlägige § 1600 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 und 3 BGB ist am 30.04.2004 und damit 11 Tage nach der Geburt der Beklagten zu 1) in Kraft getreten, wie sich aus Art. 3 des Gesetzes zur Änderung der Vorschriften über die Anfechtung der Vaterschaft und das Umgangsrecht von Bezugspersonen des Kindes, zur Registrierung von Vorsorgeverfügungen und zur Einführung von Vordrucken für die Vergütung von Berufsbetreuern vom 23.04.2004 ergibt (BGBl I, 598). Eine Übergangsregelung ist nicht vorgesehen, Art. 229 § 10 EGBGB betrifft lediglich die Frage des Fristbeginns im Sinne von § 1600b Abs. 1 BGB im Falle einer Anfechtung nach § 1600 Abs. 1 Nr. 2 BGB. Die Neuregelung gilt deshalb auch für bereits zum Zeitpunkt des Inkrafttretens bestehende kindschaftsrechtliche Verhältnisse (BGH, FamRZ 2005, 705 zu § 1685 Abs. 2 BGB).

b) Nach dem unstreitigen Vorbringen der Parteien besteht zwischen den Beklagten eine sozialfamiliäre Bindung, so dass die Anfechtung des Klägers nach § 1600 Abs. 2 1. HS BGB nicht möglich ist. Eine sozialfamiliäre Bindung besteht, wenn der rechtliche Vater - hier der Beklagte zu 2), § 1592 Nr. 2 BGB - für das Kind tatsächliche Verantwortung trägt, § 1600 Abs. 3 S. 1 BGB. Das ist in der Regel der Fall, wenn der rechtliche Vater mit der Mutter des Kindes verheiratet ist oder mit dem Kind längere Zeit in häuslicher Gemeinschaft zusammen gelebt hat, § 1600 Abs. 3 S. 2 BGB.

aa) Im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung lebten Kind und rechtlicher Vater seit mehr als zwei Jahren zusammen. Das ist unstreitig, weil vom Kläger nicht substantiiert bestritten. Dieser Zeitraum ist ausreichend, um von einem "längeren" Zusammenleben in häuslicher Gemeinschaft im Sinne des § 1600 Abs. 3 S. 2 2. Var. BGB ausgehen zu können.

Was unter einem "längeren" Zusammenleben im Sinne der Norm zu verstehen ist, hat der Gesetzgeber offen gelassen und die Auslegung im Einzelfall der Praxis überlassen (BT-Drucks. 15/2353, S. 11). Die Auslegung richtet sich grundsätzlich nach den gleichen Kriterien wie in den insoweit gleich lautenden §§ 1630 Abs. 3, 1632 Abs. 4, 1682 und 1685 Abs. 2 BGB (vgl. Pieper, FuR 2004, 385, 386; MüKo/Wellenhofer-Klein, BGB, Ergänzungsband Stand 01.02.2006, Rdnr. 12c; Höfelmann, FamRZ 2004, 745, 749, Fn. 49). Nach einem Zeitraum von zwei Jahren ist nach allen bekannten Stimmen jedenfalls von einem "längeren" Zusammenleben auszugehen (vgl. z.B. BGH, FamRZ 2005, 705 m. Anm. Luthin zu § 1685 Abs. 2 S. 2 BGB; Staudinger/Rauscher, BGB, Stand der Bearbeitung: Juli 2004, § 1600 Rn. 46; MüKo/Huber, aaO, § 1630 Rn. 19 und § 1632 Rn. 41; MüKo/Wellenhofer-Klein, aaO, § 1685 Rn. 10). Das muss erst recht für ein noch so kleines Kind wie die Beklagte zu 1) gelten. Diese hat ihr ganzes bisherigen Leben mit dem Beklagten zu 2) zusammen gelebt und diesen als ihren Vater erlebt. Aus ihrer Sicht stellt sich dieses häusliche Zusammenleben also nicht nur als "länger" andauernd dar, sondern als alternativlos erlebte Realität. Die Beklagte zu 1) ist in die damals bereits bestehende häusliche Gemeinschaft ihrer Mutter mit dem Beklagten zu 2) hinein geboren worden. Diese Gemeinschaft besteht noch heute, mehr als zwei Jahre später.

bb) Maßgeblich für die Beurteilung, ob ein "längeres" Zusammenleben vorliegt, ist entgegen der Auffassung des Klägers nicht der Zeitpunkt der Klageerhebung, sondern der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (so auch ausdrücklich Staudinger/Rauscher, aaO, Rn. 41). Das Gesetz nennt keinen Zeitpunkt, und es ist nicht ersichtlich, warum hier von dem grundsätzlich maßgeblichen Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Verhandlung abgewichen werden sollte. Sinn und Zweck der Regelungen in § 1600 Abs. 2 und 3 BGB ist es, die Familie als sozialen Verbund zu schützen und damit das Vertrauensverhältnis, das sich zwischen einem Kind und seinen Bezugspersonen entwickelt. Dieses Vertrauensverhältnis soll nicht durch das Dazwischentreten eines Dritten gefährdet werden. Je länger das Zusammenleben dauert, desto stärker entwickelt sich das Vertrauensverhältnis zwischen Vater und Kind und desto intensiver wird folglich die sozialfamiliäre Bindung. Das Kind soll umso weniger aus dieser Bindung gerissen werden, je mehr es sich an sie gewöhnt hat. Entscheidend ist demnach der faktische Grad der entstandenen Bindung. Es ist deshalb kein Grund erkennbar, insoweit mit dem Zeitpunkt der Klageerhebung eine Zäsur zu setzen. Im Gegenteil ergibt sich sogar aus der Formulierung des Gesetzes, wonach es ausreicht, wenn der rechtliche Vater mit dem Kind längere Zeit in häuslicher Gemeinschaft "zusammengelebt hat" (§ 1600 Abs. 3 S. 2 BGB), dass es noch nicht einmal darauf ankommt, dass das Zusammenleben im Zeitpunkt der Entscheidung noch besteht. Entscheidend ist vielmehr die tatsächlich entstandene Bindung, die auch bei einer späteren Trennung des rechtlichen Vaters von der Kindesmutter nicht ohne weiteres wieder erlischt.

cc) Dass dadurch die Anfechtung wegen der durch die Einholung eines Gutachtens verursachten Länge des Verfahrens praktisch unmöglich wird, wenn Kind und rechtlicher Vater während der Prozessdauer weiter zusammen leben, ist im Interesse des Kindes, welches das Gesetz eindeutig in den Vordergrund stellt, hinzunehmen.

dd) Umstände, die trotz des längeren Zusammenlebens gegen die Regelvermutung des § 1600 Abs. 3 S. 2 BGB sprechen, sind nicht ersichtlich. Darlegungs- und beweispflichtig wäre insoweit der Kläger. Das ergibt sich bereits aus der negativen Tatbestandsformulierung in § 1600 Abs. 2 BGB, wonach die Anfechtung nach § 1600 Abs. 1 Nr. 2 BGB voraussetzt, dass zwischen Kind und rechtlichem Vater keine sozialfamiliäre Bindung besteht, und ist im Übrigen, soweit ersichtlich, allgemeine Meinung (Höfelmann, aaO, 749; MüKo/Wellenhofer-Klein, aaO, § 1600, Rdnr. 12c; Palandt/Diederichsen, BGB, 65. Aufl. 2006, § 1600 Rdnr. 7). Der Kläger hat keine derartigen Umstände vorgetragen. Allerdings folgt aus der Darlegungslast nicht, dass der Kläger alle denkbaren Gründe dafür nennen müsste, dass eine solche Bindung nicht besteht. Vielmehr gelten hier, wie in vergleichbaren Fällen, in denen eine negative Tatsache behauptet und bewiesen werden muss, die Grundsätze der sekundären Darlegungslast (vgl. nur BGH, NJW 1999, 579; NJW-RR 1993, 746). Das bedeutet, dass zunächst die Beklagten die Voraussetzungen einer sozialfamiliären Bindung darlegen müssen und der Kläger dann darzulegen und zu beweisen hat, dass dieser Vortrag nicht zutrifft. Die Beklagten sind ihrer sekundären Darlegungslast nachgekommen. Ihrem Vortrag ist ohne weiteres zu entnehmen, dass die Beklagte zu 1) schon seit ihrer Geburt in einer familiären Struktur gemeinsam mit ihrem rechtlichen Vater, dem Beklagten zu 2), lebt und dass dieser seit je her - gemeinsam mit der Kindesmutter - die tatsächliche Verantwortung für das Kind trägt. Dieses Vorbringen ist unstreitig, denn der Kläger trägt dagegen nichts vor. Das Bestreiten der positiven Darlegungen der Beklagten mit Nichtwissen ist angesichts der dem Kläger obliegenden Darlegungslast unsubstantiiert.

IV.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 ZPO.

V.

Die Revision war zuzulassen gemäß § 543 Abs. 2 Nr. 2 ZPO, weil die Frage, welcher Zeitpunkt für das "längere" Zusammenleben im Sinne des § 1600 Abs. 3 S. 2 BGB maßgeblich ist, bislang höchstrichterlich nicht entschieden ist.

Ende der Entscheidung

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