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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Karlsruhe
Urteil verkündet am 12.04.2006
Aktenzeichen: 1 U 102/05
Rechtsgebiete: BGB, AtomG


Vorschriften:

BGB § 31
BGB § 823 Abs.1
AtomG § 25
AtomG § 27
Da von einem Verkehrssicherungspflichtigen unter Umständen ein Mehr an Sorgfalt zu verlangen ist als eine Behörde gefordert hat und da durch eine behördliche Genehmigung die zivilrechtliche Verantwortung nicht vom Verkehrssicherungspflichtigen auf die Behörde übergeht (BGHZ 139, 79, 83; BGHR BGB § 823 Abs. 1 - Produzentenhaftung 1), verletzt der Betreiber einer stillgelegten Wiederaufbereitungsanlage, in der sich noch radioaktive Materialien befinden, seine Verkehrssicherungspflicht, wenn die Kontrollmaßnahmen ausschließlich auf den Gesundheitsschutz der Mitarbeiter ausgerichtet sind und bei den Sicherheitsvorkehrungen die Möglichkeit nicht berücksichtigt ist, dass eine zugangsberechtigte Person vorsätzlich radioaktive Abfälle entwenden könnte ("Innentäterszenario").
Oberlandesgericht Karlsruhe 1. Zivilsenat Im Namen des Volkes Urteil

Geschäftsnummer: 1 U 102/05

Verkündet am 12. April 2006

In dem Rechtsstreit

wegen Schadensersatzes

hat der 1. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Karlsruhe im schriftlichen Verfahren nach dem Sach- und Streitstand vom 22. März 2006 unter Mitwirkung von

für Recht erkannt:

Tenor:

1. Auf die Berufung des Klägers wird unter Zurückweisung seines weitergehenden Rechtsmittels das Urteil des Landgerichts Karlsruhe vom 27. April 2005 - 9 O 266/04 - im Kostenpunkt aufgehoben und im übrigen geändert.

Die Feststellungsklage wird abgewiesen.

Die Klage wird wegen eines Betrages von 36.059,71 € nebst Zinsen hieraus i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Klageerhebung abgewiesen.

Im übrigen ist die Klageforderung dem Grunde nach gerechtfertigt.

2. Von den Kosten des Berufungsrechtszuges hat der Kläger 17 % zu tragen.

3. Zur Entscheidung über die Höhe der Klageforderung - einschließlich der Kosten des Rechtsstreits, soweit über diese noch nicht befunden ist - wird der Rechtsstreit an das Landgericht Karlsruhe zurückverwiesen.

4. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Der Kläger kann die Vollstreckung der Beklagten durch Sicherheitsleistung i.H.v. 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagten vor der Vollstreckung Sicherheit i.H.v. 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leisten.

5. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe:

I.

Der Kläger begehrt Schadenersatz wegen der Verstrahlung einer in seinem Anwesen in X. gelegenen Wohnung durch plutoniumhaltige Materialien.

Diese Materialien hatte im Jahre 2000 ein Mitarbeiter eines Unternehmens widerrechtlich entwendet, das in der von den Beklagten früher gemeinsam betriebenen, inzwischen stillgelegten und im Rückbau befindlichen Wiederaufbereitungsanlage Y. tätig war. Der Täter verbrachte aus der Anlage ein Röhrchen und ein Wischtuch mit radioaktiven Rückständen in seine Wohnung, die er vom Kläger gemietet hatte. Dadurch wurde die Wohnung in starkem Umfang kontaminiert; die Lebensgefährtin des Täters und deren Tochter erlitten erhebliche Gesundheitsschäden. Als die zuständigen Behörden hiervon Anfang Juli 2001 erfuhren, wurde die Wohnung versiegelt. Mit Bescheid vom 18.09.2001 erließ die Struktur- und Genehmigungsdirektion Z. gegenüber dem Kläger eine Verfügung zur Duldung der Dekontamination der Wohnung und aller damit verbundenen Maßnahmen. Nach Durchführung der Dekontamination und Freigabe der Wohnung am 23.09.2002 befand sich die Wohnung im Rohbauzustand. Der Kläger ließ daraufhin eine vollständige Renovierung durchführen, nachdem er zuvor einen Kostenvoranschlag der Fa. A.-Wohnbau GmbH eingeholt hatte. Inzwischen ist die Wohnung vollständig renoviert.

Der Täter wurde vom Landgericht Karlsruhe wegen gefährlicher Körperverletzung und unerlaubten Umgangs mit radioaktiven Stoffen rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von viereinhalb Jahren verurteilt. Bei der Strafzumessung berücksichtigte das Landgericht zugunsten des Täters, dass er keine ernsthaften Kontrollen überwinden musste.

Die Strafkammer stellte fest, dass der Täter zu einem nicht mehr feststellbaren Zeitpunkt Ende 1999 beschloss, radioaktives Material aus dem "Rohrkanal" herauszuschmuggeln. Zu diesem Zweck entnahm er aus dem ,,Rohrkanal" zunächst eine Wischprobe, die er auf die ihm durch Beobachtung der Strahlenschutzarbeiter angelernte Weise mit den entsprechenden Gerätschaften (Geigerzähler) auswertete. Auf diese Weise verschaffte er sich einen groben Überblick darüber, wie stark die im "Rohrkanal" befindlichen Stäube kontaminiert waren. Ein Strahlenschutzarbeiter beobachtete den Täter dabei, rügte ihn, dass er mit der Ausmessung von Wischtests nichts zu tun habe, ließ den Vorfall dann aber auf sich beruhen.

Zu einem nicht mehr feststellbaren Zeitpunkt im Oktober 2000 wischte der Täter mit zwei aus der Anlage stammenden, im Kontrollbereich überall ausliegenden Wischtüchern den im "Rohrkanal" eingesetzten Staubsauger aus, wobei er, nach seinen Erfahrungen mit dem zuvor ausgemessenen Wischtest, mit einer stärkeren radioaktiven Belastung dieser aufgewischten Staubteile rechnete. Tatsächlich befand sich auf den Wischtüchern ca. 4,36 mg Plutonium, außerdem die Uran-Isotope U-234, U-235, U-236 und U-238, sowie Europium Eu-154, Antimon Sb-125 und Americium-241 mit einer Alphastrahlen-Gesamtkapazität von ca. 71 MBq (Mega-Bequerel), ferner Cäsium-137 mit einer Cäsium-Aktivität von 1,2 MBq. Diese Wischtücher wickelte der Täter in einem unbeobachteten Moment in mehrere andere Wischtücher ein, um die Radioaktivität weitestgehend abzuschirmen. Sodann legte er das Paket neben die Ausgangstür des "Rohrkanals" und ließ sich vom diensthabenden Strahlenschutzarbeiter den Fremdluftanzug ausziehen und die Atemgeräte abnehmen. Als der Strahlenschutzarbeiter die Gerätschaften ablegte und sich einem anderen Arbeiter zuwandte, nahm der Täter das Papierpäckchen wieder auf, steckte es in die Hosentasche seines Overalls und begab sich durch die beiden Luftschleusen zum "warmen" Bereich zum dortigen Ganzkörpermonitor. Das Paket mit den kontaminierten Wischtüchern legte er links neben dem Ganzkörpermonitor auf die Abdeckung des Drehkreuzes, durch das man den Kontrollbereich betritt und das sich auf der Rückseite des Monitors befindet. Dies tat er, weil er wusste oder zumindest mit der Möglichkeit rechnete, dass die Abschirmung der kontaminierten Wischtücher mit den anderen Tüchern nicht ausreichen würde, um ein Ansprechen des Ganzkörpermonitors zu verhindern. Nachdem er selbst problemlos den Ganzkörpermonitor passiert hatte, nahm der Täter das Paket mit den kontaminierten Wischtüchern von der anderen Seite der Absperrung wieder an sich. Nunmehr zog er die Schutzkleidung aus und Bademantel und Badesandalen an, legte das Paket auf eine Schuhablage und bediente - nach vorsorglichem Händewaschen - Hand- und Fußmonitor. Er verließ sodann den "warmen" Bereich und deponierte das Paket mit den kontaminierten Wischtüchern in seinem Spind im "kalten" Bereich bei seinen Alltagskleidern. Nach Ende seiner Mittagspause begab sich der Täter wieder in den "heißen" Bereich, beendete seine Schicht und nahm beim Verlassen der Anlage das Paket mit nach Hause, wo er es in seiner Wohnung in einen Zierkaminofen legte.

Etwa zwei bis drei Wochen später, jedenfalls noch im Oktober 2000, nahm der Täter im Rohrkanal ein verschlossenes Reagenzröhrchen an sich, in dem sich einige Tropfen Flüssigkeit befanden. Der Täter rechnete damit, dass diese Flüssigkeit ebenfalls radioaktiv war und in gleichem Umfang Radioaktivität abstrahlte wie die ein bis zwei Wochen vorher aus der Anlage geschafften Wischtücher. Tatsächlich war die Radioaktivität dieser Flüssigkeit jedoch schwächer; insgesamt enthielt die Flüssigkeit ca. 0,62 mg Plutonium, die Uran-lsotope U-234, U-235, U-236, U-238 und Antimon Sb-125 sowie Americium-241 mit einer Alphastrahlen-Gesamtaktivität von ca. 12 MBq und Cäsium-137 mit einer Cäsium-Aktivität von 2,65 kBq (Kilo-Bequerel). Dieses Röhrchen steckte der Täter in zwei umgestülpte Schutzhandschuhe und schaffte es auf die bereits beschriebene Weise aus der Anlage in seine Wohnung, wo er es ebenfalls in dem Zierkaminofen deponierte.

Beide Parteien haben sich in ihrem Vortrag auf das Strafurteil sowie auf die Berichte und Mitteilungen bezogen, die das Ministeriums für Umwelt und Verkehr des Landes B. über den Vorfall angefertigt hat.

Der Kläger hat vorgebracht, die Beklagten seien ihm als Betreiber der Wiederaufbereitungsanlage für die ihm aus der Verstrahlung des Hauses entstandenen Schäden gemäß § 25 Abs. 1 AtomG i.V.m. dem Pariser Übereinkommen über die Haftung gegenüber Dritten auf dem Gebiet der Kernenergie zum Schadenersatz verpflichtet. Die Schäden beruhten auf einem "von einer Kernanlage ausgehenden nuklearen Ereignis". Alternativ ergebe sich eine Haftung auch aus § 26 Abs. 3 AtomG, weil die Beklagten den Besitz an den kontaminierten Gegenständen verloren hätten, ohne ihn auf eine nach dem Atomgesetz zum Besitz berechtigte Person zu übertragen. Auf ein Verschulden der Beklagten komme es nicht an; das Atomgesetz begründe eine verschuldensunabhängige Gefährdungshaftung. Der Kläger hat behauptet, dass ihm durch den Vorfall ein Schaden in Höhe von 284.614,67 EUR entstanden sei, den er wie folgt beziffert:

- Renovierungskosten laut Voranschlag: 51.742,88 EUR

- Kosten des Gutachtens zur Höhe der Renovierungskosten: 2.132,08 EUR

- Mietausfall für die kontaminierte Wohnung 1.759,71 EUR

- Mietausfall für die Kellerwohnung 2.790,00 EUR

- Zeitaufwand des Klägers (Mithilfe bei Dekontaminierung) 24.300,00 EUR

- Künftiger Mietausfall 24.000,00 EUR

- Merkantiler Minderwert der Wohnung 168.000,00 EUR

Summe 284.614,67 EUR

Der Kläger hat beantragt,

1. die Beklagten gesamtschuldnerisch zu verurteilen, an den Kläger EUR 284.614,67 EUR nebst Verzugszinsen von 5 Prozentpunkten über dem jeweils gültigen Basiszinssatz p.a. seit Klageerhebung zu zahlen,

2. hilfsweise die Beklagten gesamtschuldnerisch zu verurteilen, an den Kläger 260.614,67 EUR nebst Verzugszinsen von 5 Prozentpunkten über dem jeweils gültigen Basiszinssatz p.a. seit Klageerhebung zu zahlen sowie festzustellen, dass die Beklagten verpflichtet sind, dem Kläger alle künftigen Mietausfälle zu ersetzen, die dem Kläger dadurch entstehen werden, dass Wohnungen im Hause in X. wegen der atomaren Verstrahlung einer Dachwohnung nicht oder nur zu einem deswegen reduzierten Mietzins zu vermieten ist.

Die Beklagten haben Klageabweisung beantragt und vorgebracht, eine Haftung der Beklagten scheide aus, weil sie kein Verschulden treffe. Die Firma, in deren Auftrag der Täter auf dem Gelände der Wiederaufbereitungsanlage eingesetzt wurde, sei aufgrund eines äußerst sorgfältigen und strengen Auswahlverfahrens mit der Durchführung von Rückbaumaßnahmen beauftragt worden. Sie sei den Beklagten in der Vergangenheit als leistungsfähiges, sehr sorgsam arbeitendes Unternehmen mit hochqualifizierten Mitarbeitern bekannt gewesen. Der Täter selbst habe zahlreiche Zuverlässigkeitsüberprüfungen durchlaufen müssen, bevor ihm der Zugang zur Wiederaufbereitungsanlage ermöglicht worden sei.

Eine Haftung der Beklagten nach dem Atomgesetz scheitere an dem ganz überwiegenden Mitverschulden des Klägers bei der Schadensverursachung. Dieser müsse sich gemäß § 27 AtomG das Verschulden des Täters zurechnen lassen, der als Mieter die tatsächliche Gewalt über die beschädigte Wohnung ausgeübt habe.

Im übrigen wird auf die Feststellungen des Landgerichts verwiesen.

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Auf seine Entscheidungsgründe wird Bezug genommen.

Hiergegen richtet sich die Berufung des Klägers. Der Kläger meint, dass der 2. Halbsatz von § 27 AtomG nach seinem Sinn und Zweck hier nicht anwendbar sei. Ferner widerspreche diese Vorschrift höherrangigem Recht. Die Beklagten hafteten auch aus § 823 BGB. Das Verschulden der Beklagten liege darin, dass sie bei ihren Sicherheitsvorkehrungen die Möglichkeit nicht berücksichtigt hätten, dass eine zugangsberechtigte Person vorsätzlich und missbräuchlich radioaktive Abfälle entwenden könnte. Die Sicherheitsvorkehrungen der Beklagten seien ausschließlich darauf ausgerichtet gewesen, dem Gesundheitsschutz der Mitarbeiter zu dienen, aber nicht dazu, das Verbringen von radioaktivem Material aus der Anlage zu verhindern.

Der Kläger beantragt, nachdem er seinen zunächst angekündigten Zahlungsantrag um 24.000,00 € ermäßigt hat, unter Aufhebung des Urteils und des Verfahrens des Landgerichts Karlsruhe, Aktenzeichen 9 O 266/04 vom 27.04.2005, zugegangen am 10.05.2005, den Rechtsstreit zu weiteren Verhandlung an das Landgericht Karlsruhe zurück zu verweisen.

Hilfsweise beantragt der Kläger,

unter Aufhebung des Urteils des Landgerichts Karlsruhe, Aktenzeichen 9 O 266/04 vom 27.04.2005, zugegangen am 10.05.2005 die Beklagten gesamtschuldnerisch zu verurteilen,

1. die Beklagten gesamtschuldnerisch zu verurteilen, an den Kläger 260.614,67 € nebst Verzugszinsen von 5 Prozentpunkten über dem jeweilig gültigen Basiszinssatz p.a. seit Klageerhebung zu zahlen sowie

2. festzustellen, dass die Beklagten verpflichtet sind, dem Kläger alle künftigen Mietausfälle zu ersetzen, die dem Kläger dadurch entstehen werden, dass Wohnungen im Hause in X. wegen der atomaren Verstrahlung einer Dachwohnung nicht oder nur zu einem deswegen reduzierten Mietzins zu vermieten ist.

Die Beklagten beantragen,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigen das angefochtene Urteil und bringen vor, § 823 BGB scheide als Anspruchsgrundlage aus. Das Handeln des Täters sei den Beklagten nicht zuzurechnen; Verrichtungsgehilfe der Beklagten sei er nicht gewesen. Dass das sogenannte "Innentätersszenario" bei der Sicherheitsauslegung nicht berücksichtigt worden sei, begründe keinen Verschuldensvorwurf. Im Atomrecht gelte das Prinzip des Verbots mit Erlaubnisvorbehalt. Der Betreiber dürfe deshalb Änderungen an dem Sicherheitskonzept nur vornehmen, wenn ihm dies zuvor aufgegeben sei. Selbst wenn die Beklagten zu irgendeinem Zeitpunkt Veranlassung zu der Annahme gehabt hätten, ein solches Szenario sei realistisch, wären sie aus Rechtsgründen gehindert gewesen, durch entsprechende Maßnahmen diesem Szenario vorzubeugen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Berufungsvorbringens der Parteien wird auf die gewechselten Schriftsätze verwiesen.

II.

Die zulässige Berufung des Klägers ist teilweise unbegründet; im übrigen hat sie vorläufig Erfolg.

1. Die Beklagten haften dem Kläger aus § 823 Abs. 1 BGB, weil sie ihre Verkehrssicherungspflichten fahrlässig verletzt haben.

a) Der Kläger hat zwar im ersten Rechtszug seine Schadensersatzklage nur auf das Atomgesetz gestützt und sich mit einem etwaigen Verschulden der Beklagten nicht näher befasst. Er hat aber den Abschlussbericht des Ministeriums für Umwelt und Verkehr des Landes B. vom 11.06.2002, einen Bericht des Ministeriums an das Bundesumweltministerium vom 23.07.2001 und einen Zwischenbericht dieses Ministeriums vom 17.07.2001 vorgelegt. Die Beklagten haben darüber hinaus das Strafurteil des Landgerichts Karlsruhe vom 11.06.2002 zu den Akten gereicht. Der damit vorgetragene - und zwischen den Parteien unstreitige - Sachverhalt war unter allen rechtlichen Gesichtspunkten, auch unter demjenigen einer Verschuldenshaftung, zu prüfen. Wenn sich der Kläger nunmehr ausdrücklich auch auf § 823 BGB beruft, so handelt es sich dabei nicht um ein neues, im Berufungsrechtszug nur unter besonderen Voraussetzungen zulässiges Angriffsmittel.

b) Die Verkehrssicherungspflichtverletzung durch die Beklagten liegt darin, dass sie ihren Sicherheitsmaßnahmen die Möglichkeit einer absichtlichen Entwendung radioaktiver Stoffe durch Mitarbeiter, die sich berechtigterweise in der Anlage aufhielten (sogenanntes "Innentätersszenario") nicht zugrunde gelegt haben. Dass das nicht geschehen war, ist zwischen den Parteien unstreitig.

Bei dem umstrittenen Vorfall handelte es jedoch sich nicht um ein unvorhersehbares, völlig unwahrscheinliches und nach menschlichem Ermessen einmaliges Ereignis. Das zeigen die Maßnahmen, die im Anschluss an die Aufdeckung der Entwendung durch die Aufsichtbehörden und die Beklagten getroffen wurden. So wurden als Sofortmaßnahmen u. a. zwei zusätzliche Kontrollposten eingesetzt und die Überwachung der Eingänge zu der Anlage der Beklagten verstärkt. Ferner wurde von der Aufsichtsbehörde eine sofortige Überprüfung bei anderen Kernanlagen in B. angeordnet mit dem Ziel, "einen vergleichbaren Vorfall weitgehend auszuschließen". Diese Sofortmaßnahmen, aber auch die im Abschlussbericht des Landesministeriums unter Ziff. 4 beschriebenen "Konsequenzen und Maßnahmen" belegen, dass es sowohl nach Einschätzung der Beklagten als auch der zuständigen Behörden nicht um einen völlig außer der Reihe liegenden Einzelfall ging, zu dessen zukünftiger Verhinderung besondere sicherheitstechnische Maßnahmen nicht getroffen zu werden brauchten. Seit Bekanntwerden des Vorfalls ist zudem das Innentäterszenario auch bei der Planung und Genehmigung neuer Anlagen außerhalb des Landes B. berücksichtigt worden (vgl. BVerwG - Beschluss vom 9.2.2005 - 7 B 160/04; VGH München DVBl 2004, 44).

Die Beklagten können sich auch nicht darauf berufen, dass es sich um eine stillgelegte und im Rückbau befindliche Anlage handelte, in der sich nur noch kleine Mengen radioaktiven Materials befanden, die kommerziell oder für terroristische Täter als uninteressant erscheinen konnten. Selbst die - im Verhältnis zu der in der Anlage vorhandenen wiederum geringfügige - Menge, die der Täter entwendete, hat bei der Lebensgefährtin des Täters zu schweren Gesundheitsschäden geführt und veranlasste eine aufwendige Dekontamination und Renovierung der Wohnung, in der der Täter das radioaktive Material aufbewahrt hatte.

Ein konkretes Versäumnis ist den Beklagten darüber hinaus hinsichtlich des Reagenzröhrchens anzulasten, in dem sich eine radioaktive Flüssigkeit befand. Das Fehlen eines Röhrchens mit radioaktiver Flüssigkeit hätte bei den hier ohne weiteres möglichen und auch angezeigten regelmäßigen Bestandskontrollen bemerkt werden können und wäre dann nicht über Monate hinweg unentdeckt geblieben.

c) Die Beklagten können nichts daraus für sich herleiten, dass sie verstärkte Sicherheitsmaßnahmen nur mit Zustimmung der Aufsichtsbehörden hätten durchführen können. In der Rechtsprechung ist anerkannt, dass von einem Verkehrssicherungspflichtigen unter Umständen ein Mehr an Sorgfalt zu verlangen ist als eine Behörde gefordert hat, und dass durch eine behördliche Genehmigung die zivilrechtliche Verantwortung nicht vom Verkehrssicherungspflichtigen auf die Behörde übergeht (BGHZ 139, 79, 83; BGHR BGB § 823 Abs. 1 - Produzentenhaftung 1). Diese Grundsätze müssen beim Umgang mit so gefährlichen Gegenständen wie radioaktivem Material jedenfalls Anwendung finden. Zwar ist nicht zu verkennen, dass der Entscheidungsspielraum der Beklagten im Sicherheitsbereich durch Gesetze, Verordnungen und die mit den Betriebsgenehmigungen verbundenen Auflagen stark eingeschränkt war. Das schloss aber eigene Überlegungen der Beklagten über eine gebotene Erweiterung und Verbesserung von Sicherheitsmaßnahmen nicht aus. Die Beklagten könnten deshalb allenfalls geltend machen, dass es ihnen die Aufsichtsbehörde verwehrt hätte, schon früher Sicherheitsmaßnahmen im Hinblick auf ein Innentäterszenario zu treffen. Derartiges behaupten sie jedoch nicht.

d) Für die dargestellte Verkehrssicherungspflichtverletzung haften die Beklagten nach § 823 Abs. 1 i.V.m. § 31 BGB, der für alle juristischen Personen gilt. Die Beklagten haben - auch nach Erörterung einer möglichen Verkehrssicherungspflichtverletzung in der mündlichen Berufungsverhandlung - nicht vorgetragen, wer innerhalb ihrer Betriebsorganisationen für Sicherheitsmaßnahmen zuständig war. Handelte es sich dabei um verfassungsmäßig berufene Vertreter, so ergibt sich die Haftung unmittelbar aus § 31 BGB. Waren die Sicherheitsvorkehrungen, obwohl sich in der Anlage immer noch so gefährliches Material wie radioaktive Stoffe befand, untergeordneten Mitarbeitern übertragen, so liegt darin ein Organisationsmangel, der ebenfalls eine Haftung nach § 31 BGB begründet (BGHZ 24, 200, 213; BGH NJW 1980, 2810).

e) Das Verschulden des Täters ist dem Kläger nicht zuzurechnen. Zwischen dem Kläger und den Beklagten bestanden weder vertraglichen Beziehungen noch eine rechtliche Sonderverbindung, die für die Anwendung des § 278 BGB nach § 254 Abs. 2 S. 2 BGB erforderlich sind.

2. Der Höhe nach ist die Klage jedoch teilweise unbegründet.

a) Ein Anspruch auf den Ersatz "eigener Aufwendungen" steht dem Kläger nicht zu. Der Kläger macht geltend, er habe im Zusammenhang mit der Beseitigung der Kontamination und der Renovierung der Wohnung insgesamt 360 Stunden aufgewandt, und dadurch einen Erwerbsverlust aus seiner Tätigkeit als selbstständiger Kfz-Sachverständiger erlitten. Der Kläger ist jedoch bereits vom Landgericht darauf hingewiesen worden (I 171), dass der Zeitaufwand, den der Kläger im Anlehnung an das ZSEG vergütet haben will, als solcher nicht ersatzfähig ist. Zu einem tatsächlichen Einkommensverlust in dem fraglichen Zeitraum hat der Kläger indessen nichts vorgetragen. In der Berufungsinstanz ist er auf diesen Punkt auch nicht mehr zurückgekommen.

b) Den Ersatz des Mietausfalls für die kontaminierte Wohnung bis zum Abschluss der Renovierung kann der Kläger ebenfalls nicht beanspruchen. Da er den Mietvertrag mit dem Täter nicht gekündigt hat, war dieser weiterhin zur Mietzahlung verpflichtet, weil er sich auf die vom ihm selbst herbeigeführte Unbenutzbarkeit der Wohnung nicht berufen konnte. Es kann zwar unterstellt werden, dass die Mietzinsforderung des Klägers infolge des Arbeitsplatzverlustes des Mieters und seiner - allerdings erst späteren, aufgrund eines Haftbefehls vom 27.03.2002 erfolgten - Inhaftierung uneinbringlich war. Das kann den Beklagten jedoch nicht zugerechnet werden. Die von ihnen verletzte Verkehrssicherungspflicht soll die Allgemeinheit davor schützen, dass Personen oder Sachen mit den radioaktiven Materialien aus der Anlage der Beklagten in Berührung kommen. Diese Pflicht schützt aber nicht das Interesse eines Wohnungsvermieters daran, dass die finanzielle Leistungsfähigkeit seines Mieters nicht durch Arbeitsplatzverlust oder Inhaftierung beeinträchtigt wird.

3. Im übrigen ist der Zahlungsantrag des Klägers dagegen dem Grunde nach gerechtfertigt. Hierüber war gemäß § 304 Abs. 1 ZPO durch ein Grundurteil zu entscheiden. Zur Entscheidung über die Höhe der Klageforderung war der Rechtsstreit auf Antrag des Klägers nach § 538 Abs. 2 Nr. 4 ZPO an das Landgericht zurückzuverweisen. Das Landgericht wird daher noch über die Höhe der Renovierungskosten (wobei der Kläger nach § 249 Abs. 2 S. 1 BGB den Ersatz der erforderlichen Kosten beanspruchen kann) einschließlich der Kosten der vom Kläger sogenannten "Expertise", über den Mietausfall für die Kellerwohnung sowie über den geltend gemachten merkantilen Minderwert des Anwesens zu befinden haben. Da zur Bestimmung des letzteren zunächst der Wert des Anwesens durch einen Sachverständigengutachten festgestellt werden und auch die Höhe der erforderlichen Renovierungskosten möglicherweise durch einen Sachverständigen geklärt werden muss, hat der Senat von einer eigenen Sachentscheidung abgesehen, weil sie den Parteien eine Tatsacheninstanz nehmen würde und weil der Kläger ohnehin in erster Linie Zurückverweisung an das Landgericht beantragt hat. Mit einer für den Erlass eines Grundurteils ausreichenden Wahrscheinlichkeit ist auch davon auszugehen, dass sich die Klage hinsichtlich der Renovierungskosten und des merkantilen Minderwerts des Anwesens zumindest teilweise als begründet erweisen wird.

4. Keinen Erfolg hat hingegen der Feststellungsantrag des Klägers, der sich auf künftige Mietausfälle bezieht.

Solche Ausfälle erscheinen zwar möglich; daher ist ein Feststellungsinteresse des Klägers zu bejahen. Es fehlt aber an einer hinreichenden Wahrscheinlichkeit dafür, dass es zukünftig zu solchen Ausfällen kommen wird, so dass die Klage unbegründet ist (vgl. BGHR ZPO § 256 Abs. 1 - Feststellungsinteresse 19). Denn der Kläger hat für den Zeitraum bis heute weder für die betroffene Wohnung noch für die anderen Wohnungen in seinem Anwesen dargelegt, dass er für diese einen geringeren Mietzins als zuvor erhält oder bei einer Neuvermietung den ortsüblichen Mietzins nicht mehr erzielen konnte. Da seit dem Bekanntwerden des Vorfalls nunmehr fünfeinhalb Jahre und seit der Wiederherstellung der betroffenen Wohnung etwa drei Jahre vergangen sind, ohne dass der Kläger insoweit einen konkreten Schaden geltend macht, besteht keine ausreichende Wahrscheinlichkeit dafür, dass dieser Fall trotz des sich ständig vergrößernden zeitlichen Abstandes von dem Ereignis noch eintreten könnte.

5. Ob die Beklagten zumindest für einen Teil des Schadens auch aufgrund von § 25 Abs. 1 AtomG selbst dann haften würden, wenn ihnen kein Verschulden anzulasten wäre, kann offenbleiben. Zwar wäre bei dieser Anspruchsgrundlage dem Kläger das Verschulden des Täters nach § 27 AtomG zuzurechnen, weil er diesem die Wohnung überlassen hat. Gleichwohl käme auch dann bei der nach § 254 BGB gebotenen Abwägung in Betracht, den insbesondere zu § 7 StVG entwickelten Grundsatz, dass bei weitaus überwiegendem Verschulden der einen die Gefährdungshaftung der anderen Seite nicht berücksichtigt wird, im Fall des Atomgesetzes deswegen zu modifizieren, weil § 25 AtomG bzw. das darin in Bezug genommene Pariser Haftungsübereinkommen den Ausschlusstatbestand eines unabwendbaren Ereignisses, anders als § 7 Abs. 2 StVG, nicht enthält. Ob deshalb trotz des dem Kläger zuzurechnenden Verschuldens eine Mithaftung der Beklagten aufgrund der Atomgefahr - etwa in Höhe von 20 bis 25 % - erwogen werden könnte, bedarf angesichts der uneingeschränkten Verantwortlichkeit der Beklagten aus § 823 Abs. 1 BGB keiner Entscheidung.

6. Die Kostenausspruch für den Berufungsrechtszug folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO, soweit bereits eine abschließende Entscheidung ergehen konnte. Im übrigen war die Kostenentscheidung dem Landgericht vorzubehalten, weil sie vom Ausgang des Betragsverfahrens abhängt.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf den §§ 708 Nr. 10, 711 S. 1 und S. 2 i.V.m. 709 S. 2 ZPO.

Die Voraussetzungen für eine Zulassung der Revision (§ 543 Abs. 2 ZPO) lagen nicht vor.

Ende der Entscheidung

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