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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Karlsruhe
Beschluss verkündet am 18.09.2003
Aktenzeichen: 1 Ws 105/03
Rechtsgebiete: StGB, StPO, StVollZG


Vorschriften:

StGB § 57 Abs. 1
StGB § 66 Abs.1 Satz 3
StPO § 454 Abs. 2 Satz 1
StVollZG § 2 Abs. 2 Satz 2
StVollZG § 11 Abs. 2
StVollZG § 109
Die Einholung eines umfassenden kriminalprognostischen Sachverständigengutachtens nach § 454 Abs. 2 Satz 1 StPO ist auch dann veranlasst, wenn die Entlassung des Gefangenen zwar nicht kurzfristig, aber nach Durchführung einer erfolgreichen therapeutischen Behandlung zeitnah zu erwägen ist, und eine Verweisung des Gefangenen auf den Antragsweg nach § 109 StVollzG im Falle der Ablehnung der Gewährung einer sachgerechten Behandlung durch die Anstalt zu einer nicht unerheblichen Verzögerung des Verfahrens führen und letztendlich einen etwaigen Anspruch des Gefangenen auf Behandlung im Strafvollzug und die sorgfältige Prüfung der Vorraussetzungen einer bedingten Entlassung durch die Strafvollstreckungsgerichte vereiteln würde.
1 Ws 105/03

OBERLANDESGERICHT KARLSRUHE

Beschluss vom 18. September 2003

Strafvollstreckungssache gegen

wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern

hier: sof. Beschwerde gegen Ablehnung der Aussetzung der Freiheitsstrafe Bewährung

Tenor:

1. Es wird ein kriminalprognostisches Sachverständigengutachten eingeholt. Dieses soll sich auch zur Frage äußern, ob der Gefangene behandlungsfähig ist, welche Art der Behandlung in diesem Fall erfolgen könnte und ob ihm Vollzugslockerungen gewährt werden können.

2. Zum Sachverständigen wird der Ltd. Med. Dir. Dr. R.D. Sp. der Abteilung Forensische Psychiatrie und Psychotherapie vom Zentrum für Psychiatrie in W.

bestellt.

Gründe:

I.

Der jetzt 52jährige X. wurde durch Urteil des Landgerichts S. vom 09.12.1997 wegen mehrfacher sexueller Nötigung in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Kindern zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von neun Jahren verurteilt, weil er seit 1988 teilweise unter Ausnutzung seiner Stellung als Arzt 10 -14jährige Knaben, unter anderem unter Durchführung von Oral- und Analverkehr, sexuell missbraucht hatte. Nach dem von der Strafkammer eingeholten psychiatrischen Sachverständigengutachten leidet der Angeklagte an einer hysterischen Persönlichkeitsstörung in Verbindung mit homosexuell-pädophilen Verhaltensmustern, welche jedoch sein Hemmungsvermögen zum Zeitpunkt der Tat nicht erheblich i.S.d. § 21 StGB reduziert hatte.

Seit 09.06.1998 verbüßt der Gefangene diese Strafe in der JVA Y., der Zweidrittelzeitpunkt war am 05.03.2003, das Strafende ist auf den 05.03.2006 vermerkt.

In der Zeit vom 01.12.1999 bis 29.03.2000 befand sich der Gefangene zur Durchführung einer Sozialtherapie in der Sozialtherapeutischen Anstalt Baden-Württemberg. Ausweislich des dort gefertigten Berichts vom 20.03.2000 erfolgte die Rückverlegung, weil es zwischen dem Gefangenen und anderen Inhaftierten zu Konflikten kam und sich dieser nicht als "gruppenfähig" erwies.

Seit dieser Zeit strebt der Gefangene eine anderweitige Behandlung seiner Persönlichkeitsstörung an. Er hat sich insoweit an den Dipl. Psychologen W. aus S. gewandt, der nach drei probatorischen Sitzungen in der JVA Y. im Oktober 2002 - ähnlich dem bereits vom gerichtlich bestellten Sachverständigen Dr. W. in seinem Gutachten vom 04.11.1997 unterbreiteten Vorschlag (SA, Bl. 213) - eine niederfrequent angelegte Langzeittherapie in seiner Klinik als erfolgsversprechend ansah. Zur Aufnahme dieser Behandlung kam es aber nicht, weil eine Verlegung des Gefangenen in die JVA S. aus Sicht der Vollzugsbehörden nicht in Betracht kam und es zudem an einem Kostenträger fehlte. Die JVA Y. hält weiterhin eine Sozialtherapie in der Sozialtherapeutischen Anstalt für erforderlich und lehnt die Durchführung einer "niederschwelligeren" Behandlung, sei es anstaltsintern oder -extern, ab.

Im Hinblick auf die anstehende Prüfung einer Entlassung des Gefangenen zum Zweidrittelzeitpunkt hat die Staatsanwaltschaft S. am 12.12.2002 die Einholung eines kriminalprognostischen Gutachtens beantragt. Auch die Verteidigerin hat ein solches ausdrücklich angeregt. Mit dem angefochtenen Beschluss hat die Strafvollstreckungskammer - ohne diesen Anträgen Folge zu geben - eine bedingte Entlassung des Gefangenen abgelehnt, weil bislang noch keine erfolgreiche Behandlung stattgefunden habe und ohne eine solche dem Gefangenen eine positive Prognose nicht erteilt werden könne. In den Entscheidungsgründen hat die Kammer der Vollzugsanstalt indes nahegelegt, dem Gefangenen die Durchführung einer intensiven psychotherapeutischen Behandlung zu ermöglichen.

Gegen die Entscheidung der Strafvollstreckungskammer wendet sich der Gefangene mit dem Rechtsmittel der sofortigen Beschwerde, mit welcher er seine vorzeitige Entlassung, hilfsweise die Einholung eines kriminal-prognostischen Gutachtens anstrebt.

II.

Der Senat hält vorliegend die Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Klärung der prognoserelevanten Umstände für geboten.

1. Nach § 454 Abs. 2 Satz 1 StPO holt das Gericht das Gutachten eines Sachverständigen über den Verurteilten ein, wenn es erwägt, eine zeitige Freiheitsstrafe von mehr als zwei Jahren wegen einer Straftat der in § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB bezeichneten Art auszusetzen und nicht auszuschließen ist, dass Gründe der öffentlichen Sicherheit einer vorzeitigen Entlassung des Verurteilten entgegenstehen. Hiermit hat das Gesetz zum Ausdruck gebracht, dass die Einholung eines Gutachtens nicht in jedem Falle geboten ist (so aber OLG Koblenz StV 2000, 26 f.: OLG Celle NStZ 1999, 159 f.), vielmehr dies die realistische Möglichkeit einer Strafaussetzung erfordert (Thüringisches OLG StV 2000, 26 f.; Meyer-Goßner, StPO, 46. Aufl. 2003, § 454 Rn. 37).

2. Dabei darf sich das Gericht jedoch nicht mit der derzeitigen Vollstreckungssituation zufrieden geben, vielmehr muss die Annahme einer ungünstigen Prognose ausreichend mit Tatsachen und nachvollziehbaren Erwägungen belegt werden. Die gebotene prognostische Bewertung verlangt vom Richter eine besonders sorgfältige und eingehende Prüfung aller relevanten Umstände. Es hat auch danach zu fragen, aus welchen Gründen Vollzugslockerungen und notwendige therapeutischen Behandlungen bislang versagt worden sind (BVerfG NStZ 1998, 373 ff.; STV 2000, 265 f.). Dies gilt umso mehr, wenn die Frage einer Strafaussetzung entscheidend vom Erfolg solcher Maßnahmen abhängt.

3. Im vorliegenden Fall dürfte dem vor der Verurteilung durch das Landgericht S. nicht straffällig gewordenen Gefangenen - worauf die Strafvollstreckungskammer zu Recht hingewiesen hat - zwar derzeit noch keine günstige Prognose gestellt werden können, diese wäre aber bei Durchführung einer erfolgreichen Therapie durchaus zeitnah zu erwägen und könnte in absehbarer Zeit zu einer bedingten Entlassung führen. Eine entsprechende Behandlung strebt der Gefangene auch an. In einem solchen Fall kann das Gebot der bestmöglichen Sachaufklärung jedenfalls dann eine nähere Abklärung der Behandlungsmöglichkeiten erfordern, wenn eine Klärung dieser Fragen über eine Antragsstellung nach § 109 StVollzG zu einer nicht unerheblichen Zeitverzögerung führen würde (vgl. hierzu auch BVerfG, Beschluss vom 24.11.2000, 2 BvR 1661/00). Dies gebietet nicht nur der teilweise auch verfassungsrechtlich verbürgte Anspruch des Gefangenen auf Gewährung einer Behandlung (vgl. hierzu Senat NStZ 1998, 638; OLG Karlsruhe StV 2002, 34 f.; NJW 2001, 3422 ff.), sondern auch die Belange der Allgemeinheit (§ 2 Satz 2 StVollzG), denn es kann nicht angehen, einen Gewalttäter nach Ablauf seiner Strafzeit nur deshalb unbehandelt und damit weiterhin für die Allgemeinheit gefährlich in die Freiheit zu entlassen, weil verfahrensrechtlichen Gesichtspunkten der Vorrang eingeräumt wurde.

4. Dabei verkennt der Senat nicht, dass grundsätzlich der Gefangene die Notwendigkeit der möglichst frühzeitigen Durchführung und die Art der konkret indizierten Behandlung im Falle der Ablehnung einer solchen durch die Anstalt mittels eines Antrags auf gerichtliche Entscheidung nach § 109 StVollzG gerichtlich überprüfen lassen kann, wobei jedenfalls bei Gewaltdelikten Kostenfragen keine Rolle spielen dürfen und der Staat die Auslagen einer nicht vollzugsinternen Behandlung jedenfalls dann zu tragen hat, wenn der Gefangene diese nicht selbst übernehmen kann und ein sonstiger freier Kostenträger hierfür nicht einsteht. Nachdem die JVA aber zuletzt in ihrer Stellungnahme vom 12.12.2002 die Durchführung einer Behandlung außerhalb der Sozialtherapeutischen Anstalt und jegliche Gewährung von Lockerungen grundsätzlich abgelehnt hat, kann entgegen der Annahme der Strafvollstreckungskammer nicht davon ausgegangen werden, die Anstalt würde von sich aus ihre Ansicht einer sachverständigen Überprüfung und Kontrolle unterziehen. Eine Verweisung auf einen derartigen - auch verfahrensrechtlich anspruchsvollen Weg - würde daher nach Ansicht des Senats ein langwieriges Verfahren bedingen und den Anspruch des Gefangenen auf eine Behandlung und die sorgfältige Prüfung der Vorraussetzung einer vorzeitigen Entlassung letztendlich vereiteln.

5. Aus diesen Gründen war vorliegend die Einholung eines Sachverständigengutachtens geboten, welches der Senat zur Vermeidung weiterer Verfahrensverzögerungen ausnahmsweise selbst veranlasst hat (vgl. OLG Köln NStZ 2000, 317 f.: Aufhebung der Entscheidung und Rückgabe der Sache an die Strafvollstreckungskammer).

Dieses soll sich nicht nur zu den aktuellen kriminalprognostischen Umständen verhalten, sondern auch dazu, ob und ggf. welche Behandlung des Gefangenen im Hinblick auf die bei ihm vorhandenen Störungen indiziert ist und welcher Therapeut über entsprechende Verfahren verfügt.

Auch möge im Gutachten zur Frage Stellung genommen werde, ob nach sachverständiger Ansicht dem Gefangenen Vollzugslockerungen gewährt werden können oder ob insoweit die Gefahr des Missbrauchs oder der Flucht besteht. Dabei weist der Senat darauf hin, dass bei der im Rahmen des § 11 Abs. 2 StVollzG zu treffenden Entscheidung zu prüfen ist, ob sich aufgrund konkreter Umstände die Befürchtung ergibt, der Verurteilte werde die Gewährung von Vollzugslockerungen missbrauchen. Maßgeblicher Ansatzpunkt ist dabei anders als bei der Prognose nach §§ 57, 57 a StGB nicht die Frage, ob überhaupt in der Person des Verurteilten die erneute Gefahr der Begehung von Straftaten droht, vielmehr kommt es im Rahmen des § 11 Abs. 2 StVollzG entscheidend darauf an, ob zu befürchten ist, der Verurteilte werde gerade die Gewährung von konkreten Lockerungen zu Straftaten oder zur Flucht missbrauchen (OLG Karlsruhe, StV 2002, 34f.).

Ende der Entscheidung

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