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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Karlsruhe
Urteil verkündet am 19.12.2002
Aktenzeichen: 12 U 142/02
Rechtsgebiete: MBKT 94, BGB


Vorschriften:

MBKT 94 § 1 Abs. 3
BGB § 242
Entscheidend für die Annahme einer vollen Arbeitsunfähigkeit im Sinne von § 1 Abs. 3 MBKT 94 ist, ob dem Versicherten - wenn auch im geringen Umfang - noch eine wertschöpfende Betätigung möglich ist.

Beschäftigt der Versicherte Mitarbeiter, sind dies aber nur Hilfskräfte (z.B. Schreibdienst, Handlanger des Unternehmers, Sprechstundenhilfen, Anwaltsgehilfen), so hindert die verbleibende Fähigkeit zur Koordination und Anleitung die Annahme voller Arbeitsunfähigkeit in dem Fall nicht, dass der Versicherte krankheitsbedingt keine Leistungen mehr erbringen kann, die den Einsatz der Hilfskräfte wirtschaftlich sinnvoll machen.


Oberlandesgericht Karlsruhe 12. Zivilsenat Im Namen des Volkes Urteil

Geschäftsnummer: 12 U 142/02

Verkündet am 19.12.2002

In dem Rechtsstreit

wegen Forderung

hat die 12. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Karlsruhe auf die mündliche Verhandlung vom 19. Dezember 2002 unter Mitwirkung von

für Recht erkannt:

Tenor:

1. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Landgerichts Mannheim vom 18.04.2002 - 2 O 421/00 - im Kostenpunkt aufgehoben und im übrigen wie folgt abgeändert:

Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 28.161,96 € nebst folgender Zinsen zu zahlen:

4 % aus 1.216,87 € seit dem 01.04.2000; 4 % aus 434,60 € seit dem 01.05.2000; jeweils 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz nach § 1 DiskontüberleitungsG aus 2.694,51 € seit dem 01.06.2000; aus 2.607,59 € seit dem 01.07.2000; aus 2.694,51 € seit dem 01.08.2000; aus 2.694,51 € seit dem 01.09.2000; aus 2.607,59 € seit dem 01.10.2000; aus 2.694,51 € seit dem 01.11.2000; aus 2.607,59 € seit dem 01.12.2000; aus 2.694,51 € seit dem 01.01.2001.

2. Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.

3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Zwangsvollstreckung kann durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des aus dem Urteil vollstreckbaren Betrages abgewendet werden, wenn nicht die Gegenseite vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

4. Die Revision wird nicht zugelassen

Gründe:

Die zulässige Berufung hat Erfolg. Sie führt zur Abänderung des angefochtenen Urteils und antragsgemäßer Verurteilung der Beklagten.

I. (§ 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO)

Der Kläger begehrt Krankentagegeld für die Zeit vom 29.03.2000 bis zum 31.12.2000. Im Jahre 1998 kam es zu einem Ereignis, das beim Kläger zu Angstattacken und Depressionen geführt hat; er steht seit dieser Zeit in nervenärztlicher Behandlung. Die Beklagte hat die 100 %ige Arbeitsunfähigkeit des Klägers für gewisse Zeiträume anerkannt und ihm hierfür Krankentagegeld bezahlt. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen, weil der Kläger im genannten Zeitraum nicht vollständig arbeitsunfähig gewesen sei. Auf die tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen Urteil wird Bezug genommen.

Mit seiner Berufung macht der Kläger geltend, das Landgericht habe den maßgeblichen Zuschnitt seiner Berufstätigkeit vor Eintritt des Versicherungsfalls - verfahrensfehlerhaft - unzutreffend festgestellt. Insbesondere habe es nicht berücksichtigt, dass die eigentlichen Leistungen in seinem Gewerbe (Reparaturen, Wartung, Nachrüstung und Service an Werkstoffprüfmaschinen) vom Kläger allein erbracht worden seien und er lediglich über eine halbtagsbeschäftigte Hilfskraft für kleinere Schreibarbeiten und Ablagearbeiten verfügt habe.

Wegen der Einzelheiten des Parteivortrags wird auf die vorbereitenden Schriftsätze Bezug genommen.

II. (§ 540 Abs. 1 Nr.2 ZPO)

A.

Der Senat ist an die tatsächlichen Feststellungen des Landgerichts zum Zuschnitt des klägerischen Betriebs schon deshalb nicht gebunden, weil das Landgericht insoweit lediglich die Schlüssigkeit des Klagvorbringens geprüft und diese angesichts der - laut Protokoll vom 7.3.2002 eher verworrenen - Angaben verneint hat. Damit hätte sich das Landgericht schon im Hinblick auf die gutachterlichen Feststellungen zum psychischen Befinden des Klägers nicht begnügen dürfen. Allerdings meint das Landgericht, nach den Ergebnissen der sachverständigen Begutachtung sei der Kläger im fraglichen Zeitraum auch dann nicht als arbeitsunfähig im Sinne von § 1 Abs. 2 MB/KT 1994 anzusehen, wenn man einen Ein-Mann-Betrieb unterstelle. Dies ist im Ergebnis jedoch nicht zutreffend.

Allerdings liegt Arbeitsunfähigkeit nach § 1 Abs. 3 MBKT 94, der unbedenklich wirksam ist, - wovon das Landgericht zutreffend ausgeht - nur dann vor, wenn die versicherte Person ihre berufliche Tätigkeit nach medizinischem Befund vorübergehend in keiner Weise ausüben kann. Dies bedeutet, dass Arbeitsunfähigkeit bereits dann nicht vorliegt und ein Anspruch auf das vereinbarte Krankentagegeld nicht besteht, wenn die versicherte Person auch nur eingeschränkt zu einer Tätigkeit in ihrem Beruf imstande ist. Vollständige Arbeitsunfähigkeit muss während des gesamten Zeitraums vorliegen, für den ein Krankentagegeld beansprucht wird (BGH VersR 1993, 297 ). Somit kommt es durchaus darauf an, ob die versicherte Person in der Lage ist, einzelne in ihren Beruf fallende Tätigkeiten zu verrichten. Arbeitsunfähigkeit liegt demgemäss nicht nur dann vor, wenn die gesamten zum konkreten Berufsbild zählenden Tätigkeiten wenigstens zeitweise ausgeübt werden können (Senat NVersZ 2000, 133 = VersR 2000, 1007).

Dies bewirkt zwar, dass beruflich Selbstständige auch bei einer unter Umständen erheblich eingeschränkten Arbeitsfähigkeit durch das Erfordernis der vollständigen Arbeitsunfähigkeit als Voraussetzung für einen Anspruch auf das vereinbarte Krankentagegeld gegenüber nicht selbstständig Tätigen auch in der privaten Krankenversicherung benachteiligt sein können. Jedoch ist es nicht Aufgabe der Versicherer, dafür zu sorgen, dass der von ihnen angebotene Versicherungsschutz für alle in Betracht kommenden Interessenten völlig gleichwertig ist (BGH a.a.O.). Zwar wird gelegentlich bezweifelt, ob es sachgerecht ist, den Begriff der Arbeitsunfähigkeit bei Selbständigen, die grundsätzlich in der Krankentagegeldversicherung als Versicherte anzutreffen seien, anders als bei Arbeitnehmern zu verstehen, bei denen im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung Arbeitsunfähigkeit bei krankheitsbedingter Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit unabhängig von dem Grad der tatsächlich herbeigeführten Behinderung angenommen werde. Diese Kritik ist angesichts des Sinns einer Krankentagegeldversicherung nicht unverständlich, ändert jedoch nichts daran, dass der klare Wortsinn der vereinbarten Beschreibung des Risikos "Arbeitsunfähigkeit" eine andere als die allgemein vertretene Auslegung des Begriffs nicht zulässt (OLG Düsseldorf VersR 1990, 646; OLG Celle VersR 1988, 927).

Das Landgericht berücksichtigt jedoch nicht, dass der Versicherer in bestimmten Fällen unter dem Gesichtspunkt von Treu und Glauben (§ 242 BGB) gehindert ist, seine Leistungsfreiheit geltend zu machen. Dies ist - worauf der Kläger bereits im ersten Rechtszug hingewiesen hat - zu prüfen in Fällen ganz geringfügiger Arbeitsfähigkeit (BGH a.a.O; OLG Karlsruhe VersR 1996, 617; Prölss/Martin, VVG, 26. Aufl., MBKT 94 § 1 Rdn.7, 11; Lorenz VersR 1990, 647). Entscheidend sind insoweit die Umstände des Einzelfalls. Dabei hält der Senat es für angezeigt, das Schwergewicht der Wertung nicht so sehr auf die Unterscheidung zwischen Haupt- und Hilfstätigkeiten (so aber möglicherweise OLG Hamm VersR 1997, 302 "um untergeordnete Hilfstätigkeiten") zu legen, sondern darauf abzustellen, ob mit der verbliebenen Arbeitsfähigkeit noch dem Ziel jeglicher Arbeitstätigkeit, nämlich der Erzielung von Einkünften, gedient werden kann. Dies wäre auch bei gewissen Hilfstätigkeiten noch der Fall, so wenn der ansonsten arbeitsunfähige Versicherte abgeschlossene Tätigkeiten durch Rechnungsstellung und Einforderung abwickeln kann. Volle Arbeitsunfähigkeit tritt dann erst ein, wenn nichts mehr abzuwickeln ist. Auch die Möglichkeit der Auftragsbeschaffung dürfte hierzu zu rechnen sein, wenn mit einer alsbaldigen Wiederherstellung der sonstigen Arbeitsfähigkeit - und damit der Möglichkeit, den Aufträgen auch entsprechen zu können - konkret zu rechnen ist. Entscheidend ist, ob dem Versicherten - wenn auch im geringen Umfang - noch eine wertschöpfende Betätigung möglich ist. Selbst bei einem Unternehmer mit Mitarbeitern ist dies bei verbliebener Möglichkeit zur Anleitung und Koordination nur dann anzunehmen, wenn die Mitarbeiter selbst wertschöpfende Tätigkeiten für das Unternehmen verrichten. Stellen die Mitarbeiter nur Hilfskräfte dar (z.B. Schreibdienst, Handlanger des Unternehmers, Sprechstundenhilfen, Anwaltsgehilfen), so hindert die verbleibende Fähigkeit zur Koordination und Anleitung die Annahme voller Arbeitsunfähigkeit in dem Fall nicht, dass der Versicherte krankheitsbedingt keine Leistungen mehr erbringen kann, die den Einsatz der Hilfskräfte wirtschaftlich sinnvoll machen (vgl. OLG Düsseldorf r+s 2002, 518).

B.

Unter Beachtung dieser Grundsätze ist es der Beklagten im vorliegenden Fall angesichts dessen besonderer Umstände verwehrt, sich für den maßgeblichen Zeitraum auf eine Leistungsfreiheit wegen verbliebener Restfähigkeiten des Klägers zu berufen.

Der Kläger ist Ingenieur und langjährig als hochqualifizierter Mechaniker für Werkstoffprüfmaschinen tätig gewesen. Seine - wertschöpfende - Berufstätigkeit, wie er sie vor Eintritt seines behandlungsbedürftigen Zustands im Februar 1998 ausübte, bestand darin, auf Anforderung seiner Kunden diese zur Reparatur und Wartung ihrer Gerätschaften aufzusuchen. Hierzu war der Kläger im maßgeblichen Zeitraum zur Überzeugung des Senats (§ 286 ZPO) außer Stande. Soweit im Raum steht, dass der Kläger zuletzt vor Februar 1998 sich auch mit Entwicklungsarbeiten befasste, gilt nichts anderes. Der Sachverständige Dr. D hat sowohl in seinem schriftlichen Gutachten als auch bei seinen gutachterlichen Äußerungen im beigezogenen Parallelverfahren 12 U 224/02 / LG Mannheim 8 O 140/00 unter Berücksichtigung auch der vorhandenen ärztlichen Äußerungen überzeugend und nachvollziehbar dargelegt, dass der Kläger weder den Außendienst noch Entwicklungsarbeiten oder Projektbeschreibungen auch nur teilweise leisten kann. Der Kläger leidet im Anschluss an ein bedrohlich empfundenes Unfallgeschehen im Februar 1998 unter einem psychischen Krankheitszustand, der sich mit Dysthymia (ICD10:F34.1), agoraphobisch geprägtes Vermeidungsverhalten mit Panikattacken (ICD10:F40.01) und posttraumatische Belastungsstörung (ICD10:F43.1) wissenschaftlich fassen lässt, und dessen Einfluss auf die Arbeitsfähigkeit prinzipiell gegeben und nach Darstellung des Sachverständigen auch tatsächlich vorhanden ist.

Wie die Beweisaufnahme ergeben hat, beschäftigte der Kläger Ende 1997/Anfang 1998 keine technischen Mitarbeiter, die ihm diese Arbeit - eventuell nach Anleitung - hätten abnehmen können. Die persönlichen Äußerungen des Klägers im Termin vor dem Landgericht belegen in ihrer ersichtlich verwirrten Art nicht das Gegenteil. Angesichts der Erkrankung des Klägers muss sich der Senat insoweit auf die Aussagen der Zeugin G. stützen. Diese bekundet zweifelsfrei glaubwürdig, der Kläger habe neben ihr, die sie stark halbtags Bürotätigkeiten verrichtet habe, keine weiteren Mitarbeiter gehabt und auch keine freien Mitarbeiter beschäftigt, sondern sei seinen Geschäften alleine nachgegangen.

Darüber hinaus hat auch die Zeugin F. im Parallelverfahren - nach dem Berichterstattervermerk glaubwürdig - bekundet, in den Betriebsräumen des Klägers niemals Mitarbeiter gesehen zu haben. Dabei hat sie allerdings nicht ausschließen können, dass der Kläger - wie tatsächlich - eine Schreibkraft beschäftigte.

Damit aber sind für den hier maßgeblichen Zeitraum die vom Sachverständigen dargelegten Restfähigkeiten des Klägers nicht mehr wertschöpfend einzusetzen. Es ist mit Sicherheit davon auszugehen, dass einerseits die im Februar 1998 eventuell noch offene Abwicklung früherer Aufträge im März 2000 seit langem abgeschlossen war, und dass andererseits die fernmündliche Beschaffung neuer Aufträge wegen des ungewissen Endes der Arbeitsunfähigkeit sich wirtschaftlich verbeten hat. Verwaltungs- und Organisationsarbeiten, PC-Tätigkeit, Korrespondenz, körperlich leichte Büroarbeiten - welcher Art auch immer - lassen sich im konkreten Zusammenhang allenfalls als Beschäftigung, nicht jedoch als Arbeit begreifen. Hierauf darf die Beklagte ihre Leistungsfreiheit nicht stützen.

C.

Nicht abverlangt werden kann dem Kläger, für sein Unternehmen in dem maßgeblichen Zeitraum Personal einzustellen, das er sodann anleitend und führend mit den Tätigkeiten hätte betrauen können, zu deren Ausführung er krankheitsbedingt nicht im Stand war. Maßgeblich für die Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit ist der konkret ausgeübte Beruf des Versicherten. Ein Ansinnen, diesen zu ändern, kann an ihn im Rahmen der Krankentagegeldversicherung nicht gestellt werden (BGH a.a.O.; Bach/Moser/Wilmes, Private Krankenversicherung, 3. Aufl., MBKT § 1 Rdn. 16).

D.

Der Versicherungsfall ist nicht beendet. Nach § 1 Abs. 2 Satz 2 MB/KT 94 endet der Versicherungsfall, wenn nach medizinischem Befund keine Arbeitsunfähigkeit und keine Behandlungsbedürftigkeit mehr bestehen. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme ist der Kläger im fraglichen Zeitraum sowohl in vollem Umgang arbeitsunfähig als auch behandlungsbedürftig gewesen.

Die Klage scheitert entgegen der Auffassung der Beklagten auch nicht an einer Leistungsfreiheit wegen einer Obliegenheitsverletzung (§§ 9 Abs.4, 10 Abs. 1 MB/KT, 6 Abs. 3 VVG) des Klägers. Die Beklagte wirft dem Kläger vor, er habe entgegen ärztlichem Rat die stationäre Behandlung in der Fachklinik Bad D. abgebrochen und sich auch entgegen einer ärztlichen Weisung nicht unverzüglich einer intensiven Psychotherapie unterzogen. Unstreitig hat der Kläger den Klinikaufenthalt jedoch deshalb abgebrochen, weil die Beklagte im Rahmen des auf Krankenkosten bezogenen Versicherungsverhältnisses die Kostenübernahme verweigerte und eine Verlängerung des Klinikaufenthalts nicht genehmigte. Auch die Kostenübernahme für eine psychotherapeutische Behandlung hat die Beklagte unstreitig abgelehnt. Ein Verschulden des Klägers ist demnach nicht festzustellen.

III.

Die Entscheidung über die Kosten folgt aus § 91 ZPO. Die Entscheidung über die Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 10, 711, 108 Abs.1 Satz 2 ZPO. Gründe für eine Zulassung der Revision gemäß § 543 Abs. 2 ZPO liegen nicht vor. Soweit der Senat möglicherweise eine von OLG Hamm VersR 1997, 302 abweichende Auffassung vertritt, kommt es für die Entscheidung des vorliegenden Falls hierauf nicht an, da die Restfähigkeiten des Klägers ihm lediglich "untergeordnete Hilfstätigkeiten" im Sinne der genannten Entscheidung erlauben.

Ende der Entscheidung

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