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Gericht: Oberlandesgericht Karlsruhe
Beschluss verkündet am 18.01.2007
Aktenzeichen: 15 W 87/06
Rechtsgebiete: RVG, BRAGO


Vorschriften:

RVG § 19
RVG § 19 Abs. 1
RVG § 19 Abs. 1 Satz 1
RVG § 19 Abs. 1 Satz 2
RVG § 19 Abs. 1 Ziff. 9
BRAGO § 37 Ziff. 7
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Tenor:

1. Auf die sofortige Beschwerde der Klägerin wird der Kostenfestsetzungsbeschluss des Landgerichts Mannheim vom 25.04.2006 - 11 O 3/04 - aufgehoben. Der Kostenfestsetzungsantrag der Beklagten vom 08.07.2005 wird zurückgewiesen.

2. Die Kosten des Verfahrens der sofortigen Beschwerde trägt die Beklagte.

3. Der Beschwerdewert wird auf 694,38 EUR festgesetzt.

4. Die Rechtsbeschwerde wird zugelassen.

Gründe:

I. Die Klägerin hat im Verfahren des Landgerichts Mannheim - 11 O 3/04 - Schadensersatz- und Schmerzensgeldansprüche geltend gemacht. Mit Urteil vom 12.04.2005 hat das Landgericht Mannheim die Klage abgewiesen. Die Klägerin hat gegen dieses Urteil Berufung eingelegt, das Rechtsmittel jedoch mit einem weiteren Schriftsatz noch innerhalb der Berufungsbegründungsfrist wieder zurückgenommen. Mit Beschluss vom 30.06.2005 hat das Oberlandesgericht Karlsruhe - 7 U 93/05 - der Klägerin die durch die Berufung entstandenen Kosten auferlegt.

Mit Schriftsatz ihres Prozessbevollmächtigten vom 08.07.2005 hat die Beklagte beantragt, die ihr im Berufungsverfahren entstandenen Anwaltskosten gegen die Klägerin festzusetzen. Sie hat eine 1,1-Gebühr ihres Anwalts gemäß RVG VV Nr. 3201 in Höhe von 578,60 EUR netto geltend gemacht, sowie eine Postpauschale gemäß RVG VV Nr. 7002, jeweils zuzüglich Mehrwertsteuer. Mit Kostenfestsetzungsbeschluss vom 25.04.2006 hat der Rechtspfleger des Landgerichts Mannheim die von der Klägerin an die Beklagte für das Berufungsverfahren zu erstattenden Kosten - antragsgemäß - auf 694,38 EUR nebst Zinsen festgesetzt. Der Rechtspfleger ist bei dieser Entscheidung davon ausgegangen, dass der bereits erstinstanzlich für die Beklagte tätige Rechtsanwalt auch für die Durchführung des Berufungsverfahrens von seiner Partei bereits beauftragt worden sei. Der Rechtsanwalt sei zwar im Berufungsverfahren nicht für die Beklagte gegenüber dem Oberlandesgericht Karlsruhe aufgetreten; er habe jedoch - vergütungspflichtige - Tätigkeiten entfaltet, welche über den Empfang und die Weiterleitung der Rechtsmittelschrift hinausgegangen seien.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die sofortige Beschwerde der Klägerin. Sie bestreitet, dass der erstinstanzlich für die Beklagte tätige Anwalt ein Mandat auch für das Berufungsverfahren erhalten habe. Der Rechtsanwalt habe ersichtlich auch keine Tätigkeiten entfaltet, die über den Empfang und die Weiterleitung der Berufungsschrift an die Partei hinausgegangen seien.

Die Beklagte tritt der sofortigen Beschwerde entgegen. Sie weist darauf hin, dass sie den erstinstanzlich für sie tätigen Anwalt in ständiger Praxis von vornherein sowohl für das erstinstanzliche Verfahren als auch - für den Fall einer Berufung der Gegenseite - mit der Wahrnehmung ihrer Interessen im Rechtsmittelverfahren beauftrage. Die Tätigkeit des Rechtsanwalts habe sich auch nicht in der Weiterleitung der Rechtsmittelschrift erschöpft. Denn der Anwalt habe - darüber hinaus - bereits geprüft, ob die Berufung von der Klägerin rechtzeitig eingelegt worden sei und habe hierüber auch einen Vermerk für seine Handakte gefertigt. Diese Prüfungstätigkeit sei mit den erstinstanzlichen Gebühren des Anwalts nicht mit abgegolten.

Der Rechtspfleger des Landgerichts hat der sofortigen Beschwerde nicht abgeholfen.

II. Die zulässige sofortige Beschwerde der Klägerin ist begründet. Der Beklagten steht ein Kostenerstattungsanspruch für das Berufungsverfahren nicht zu. Denn ihrem Rechtsanwalt sind im Berufungsverfahren keine Vergütungsansprüche entstanden.

1. Die Voraussetzungen einer 1,1-Gebühr gemäß RVG Nr. 3201 liegen - einen Auftrag der Beklagten für das Berufungsverfahren unterstellt (dazu siehe unten 3.) - an sich vor. Der im Berufungsverfahren tätige Rechtsanwalt erhält eine Verfahrensgebühr für das "Betreiben des Geschäfts" (RVG VV Vorbemerkung 3 Abs. 2). Für das Entstehen der ermäßigten Verfahrensgebühr gemäß RVG VV Nr. 3201 ist ein Auftreten des Anwalts gegenüber dem Gericht - anders als für die volle Verfahrensgebühr gemäß RVG VV Nr. 3200 - nicht erforderlich; dies ergibt sich unmittelbar aus dem Gesetzeswortlaut zu RVG VV Nr. 3201 Ziffer 1. Das "Betreiben des Geschäfts" kann sich beispielsweise auf eine Beratung des Mandanten oder auf die Beschaffung von Informationen beschränken. Bereits geringfügige Tätigkeiten des Anwalts, die in irgendeiner Weise der Durchführung des Verfahrens dienen, erfüllen die Voraussetzungen für eine Verfahrensgebühr (vgl. beispielsweise Hartmann, Kostengesetze, 36. Auflage 2006, RVG VV Nr. 3100 Rn. 16 ff.). Die rechtliche Prüfung, ob die Gegenseite das Rechtsmittel fristgemäß eingelegt hat, erfüllt diese Anforderungen, auch wenn eine solche Prüfung einfach ist. Durch die eidesstattliche Versicherung einer Mitarbeiterin des Anwalts vom 15.12.2006 (As. 130) hat die Beklagte glaubhaft gemacht, dass ihr Anwalt bei Empfangnahme der vom Oberlandesgericht Karlsruhe übersandten Berufungsschrift die Rechtzeitigkeit des Rechtsmittels tatsächlich geprüft und einen Vermerk für die Handakte erstellt hat.

2. Einem Vergütungsanspruch des Rechtsanwalts der Beklagten für das Berufungsverfahren steht jedoch § 19 Abs. 1 RVG entgegen. Die Prüfung, ob die Berufung der Gegenseite rechtzeitig eingelegt worden ist, stellt für den erstinstanzlichen Rechtsanwalt gleichzeitig eine Neben- oder Abwicklungstätigkeit im Sinne von § 19 Abs. 1 RVG dar. Die Vergütung des Anwalts ist daher mit den erstinstanzlichen Gebühren bereits abgegolten, so dass eine gesonderte Geltendmachung einer Gebühr für das Berufungsverfahren gemäß RVG VV Nr. 3201 nicht in Betracht kommt.

a) Gemäß § 19 Abs. 1 Ziffer 9 RVG gehört die Empfangnahme und Weiterleitung einer Rechtsmittelschrift an den Mandanten zu der (mit den erstinstanzlichen Gebühren abgegoltenen) Tätigkeit des Anwalts im ersten Rechtszug. Aus der Formulierung des Gesetzes ergibt sich, dass der Katalog der dem ersten Rechtszug zuzurechnenden Tätigkeiten in § 19 RVG nicht abschließend ist. Der Gesetzgeber hat in § 19 Abs. 1 Satz 2 RVG - wie sich aus dem Wort "insbesondere" ergibt - lediglich beispielhaft einzelne Tätigkeiten aufgeführt, die nicht gesondert vergütet werden sollen. Entscheidend ist der Begriff der "Neben- und Abwicklungstätigkeit" in § 19 Abs. 1 Satz 1 RVG.

Es ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass es bei einem Berufungsverfahren eine ganze Reihe verschiedener "Neben- und Abwicklungstätigkeiten" des erstinstanzlichen Anwalts gibt, die nicht gesondert vergütet werden. Insoweit gelten für § 19 Abs. 1 RVG die gleichen Grundsätze wie für die (gleichartige) frühere Regelung in § 37 Ziffer 7 BRAGO (vgl. hierzu grundlegend BGH, NJW 1991, 2084, 2085). Entscheidend ist, dass es um Tätigkeiten von eher geringem Umfang geht, die in der Regel sowohl vom Anwalt als auch vom Auftraggeber als eine Art Annex der erstinstanzlichen Tätigkeit verstanden werden und noch nicht als eine (vergütungspflichtige) Tätigkeit für das Berufungsverfahren, für das der Mandant im Einzelfall unter Umständen einen anderen Anwalt beauftragen möchte, der gesondert zu vergüten ist. Der Bundesgerichtshof (aaO.) hat zu Recht darauf hingewiesen, dass es einer verbreiteten und begrüßenswerten Praxis entspricht, dass der erstinstanzliche Anwalt sich vielfach im frühen Stadium des Berufungsverfahrens in begrenztem Umfang um die Wahrnehmung der Interessen seines Mandanten für das Berufungsverfahren kümmert, ohne dass dies nach den Vorstellungen der Beteiligten zusätzliche Gebührenansprüche des Anwalts auslösen soll.

Zum ersten Rechtszug gehört beispielsweise die Tätigkeit eines Anwalts, der das Rechtsmittelverfahren in gewissem Umfang "beobachtet" (OLG Schleswig, Beschluss vom 21.08.1991 - 9 W 170/91 - Schleswig-Holsteinische Anzeigen 1992, 83) oder sich mit einer Sachstandsanfrage an das Rechtsmittelgericht wendet (vgl. Kammergericht, Juristisches Büro 1998, 20). Eine Stellungnahme zu einem Fristverlängerungsgesuch der Gegenseite im Rechtsmittelverfahren wird von der Rechtsprechung ebenfalls in der Regel noch dem ersten Rechtszug zugerechnet (vgl. OLG Köln, OLGR 1998, 150; OLG Hamburg, OLGR 2002, 163; anders allerdings OLG Hamburg MDR 2003, 835). Auch eine Stellungnahme des Anwalts gegenüber seiner Partei zur prozessualen Situation im Berufungsverfahren (OLG Hamburg, MDR 2005, 1018) und eine (unaufgeforderte) Stellungnahme des Anwalts gegenüber seiner Partei zur Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung (BGH aaO.) ist vielfach noch der Tätigkeit im ersten Rechtszug zuzurechnen. Entsprechendes gilt für die Beratung zur Auswahl eines Anwalts für die nächste Instanz (BGH aaO.).

b) Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze ist die Prüfung der Rechtzeitigkeit des Rechtsmittels der Gegenseite - die der Anwalt der Beklagten bei Empfangnahme der Rechtsmittelschrift vorgenommen hat - dem ersten Rechtszug zuzuordnen. Die Prüfungstätigkeit war einfach. Es handelt sich um eine Tätigkeit, die ein erstinstanzlich tätiger Rechtsanwalt auch dann vielfach im Interesse seiner Partei ausüben wird, wenn er weiß, dass der Mandant in der nächsten Instanz möglicherweise einen anderen Anwalt beauftragen möchte. Nach Auffassung des Senats werden Anwälte einerseits und Mandanten andererseits in einer solchen begrenzten Prüfungstätigkeit in der Regel eine bloße Neben- und Abwicklungstätigkeit im Sinne von § 19 Abs. 1 Satz 1 RVG sehen, so dass Rechtsanwälte für eine solche begrenzte Tätigkeit in der Regel kaum von der eigenen Partei eine 1,1-Gebühr gemäß RVG VV Nr. 3201 verlangen werden. In diesem Zusammenhang ist auch zu berücksichtigen, dass der Anwalt der Beklagten diese Prüfungstätigkeit im Interesse seiner Partei entfaltet hat, ohne dass die Beklagte ihren Rechtsanwalt ausdrücklich um einen entsprechenden Rat zur Zulässigkeit der Berufung gebeten hatte (vgl. zum Gesichtspunkt einer unaufgeforderten Tätigkeit des Anwalts in diesem Zusammenhang BGH aaO.).

3. Zwischen den Parteien ist streitig, ob der Prozessbevollmächtigte der Beklagten auch für das Berufungsverfahren bereits beauftragt war oder nur für das Verfahren vor dem Landgericht. Tatsächliche Feststellungen des Senats zu dieser Frage waren nicht erforderlich, da es auf die Beauftragung des Rechtsanwalts der Beklagten nicht ankommt. Der Anwalt der Beklagten hat auch dann keine zusätzliche Gebühr für das Berufungsverfahren verdient, wenn er von der Beklagten bereits beauftragt worden sein sollte. § 19 Abs. 1 RVG steht auch dann einer Gebühr im Berufungsverfahren entgegen, wenn ein Auftrag für eine Vertretung vor dem Rechtsmittelgericht bereits erteilt war.

§ 19 Abs. 1 RVG regelt den Abgeltungsbereich der Gebühren, die ein Anwalt in einem bestimmten Rechtszug verdient. Nach dem Gesetz gehören bestimmte Vorbereitungs-, Neben- und Abwicklungstätigkeiten auch dann zum "Rechtszug", wenn die selben Tätigkeiten an sich auch Gegenstand eines anderen Auftrags sein können. § 19 RVG konkretisiert insoweit das Prinzip der Pauschalabgeltung der Anwaltsgebühren (vgl. Müller-Rabe in Gerold/Schmidt, RVG, 17. Auflage 2006, § 19 RVG Rn. 2). Es entspricht Sinn und Zweck, dass die Tätigkeit eines Anwalts, die zwar einerseits schon mit der nächsten Instanz zusammenhängt, andererseits aber noch zu Neben- und Abwicklungstätigkeiten im Sinne von § 19 Abs. 1 RVG zählt, keine zusätzliche Gebühr gemäß RVG VV Nr. 3201 auslösen kann. Für den Anwalt, der sowohl in der ersten Instanz als auch in der zweiten Instanz beauftragt ist, enthält § 19 RVG insoweit eine abschließende Abgrenzung derjenigen Tätigkeiten, die mit der erstinstanzlichen Vergütung abgegolten sind. Der Rechtsanwalt, der für das erstinstanzliche und das Berufungsverfahren beauftragt wird, kann dementsprechend eine Gebühr gemäß RVG VV Nr. 3201 nur dann verdienen, wenn seine Tätigkeit über den Rahmen der erstinstanzlichen Abwicklungstätigkeiten gemäß § 19 Abs. 1 RVG hinausgeht. So ist nach Auffassung des Senats auch die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 06.04.2005 (NJW 2005, 2233) zu verstehen. Eine Tätigkeit, die über den Bereich des § 19 Abs. 1 RVG hinausgehen würde, hat der Prozessbevollmächtigte der Beklagten jedoch nicht entfaltet (siehe oben 2.).

4. Auch die Geltendmachung einer Postpauschale (RVG VV Nr. 7002) ist nicht gerechtfertigt. Denn die Postpauschale setzt eine anderweitige vergütungspflichtige Tätigkeit des Anwalts im Berufungsverfahren voraus. Daran fehlt es jedoch (siehe oben).

5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 ZPO.

6. Der Wert des Beschwerdeverfahrens entspricht den von der Beklagten für das Berufungsverfahren geltend gemachten Anwaltskosten.

7. Die Zulassung der Rechtsbeschwerde beruht auf § 574 Abs. 2 Ziffer 1 ZPO. Der Senat ist der Auffassung, dass die Frage der Anwendung von § 19 Abs. 1 RVG in einem Fall der vorliegenden Art grundsätzliche Bedeutung hat.

Ende der Entscheidung

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