Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Karlsruhe
Urteil verkündet am 29.08.2002
Aktenzeichen: 19 U 142/01
Rechtsgebiete: AUB 88


Vorschriften:

AUB 88 § 7 I Abs. 3
AUB 88 § 8
1. Erfüllt ein Kürzungstatbestand nach § 8 AUB auch den Tatbestand der Vorinvalidität im Sinne von § 7 I Abs. 3 AUB, so ist der Abzug nach § 7 I Abs. 3 vorrangig.

2. Eine Vorinvalidität im Sinne von § 7 I Abs. 3 i.V.m. I Abs. 1 kann auch dann vorliegen, wenn der Versicherungsnehmer (hier: Kraftfahrzeugmechanikermeister) sich nicht in der Berufsausübung behindert oder krank gefühlt hat.

3. Zum Rundhohlrücken nach Scheuermann als Vorinvalidität bei einem Wirbelsäulenschaden infolge eines Skiunfalls.


OBERLANDESGERICHT KARLSRUHE Zivilsenate in Freiburg

Im Namen des Volkes Urteil

19 U 142/01

Verkündet am: 29. August 2002

In Sachen

wegen Forderung

hat das Oberlandesgericht Karlsruhe - Zivilsenat in Freiburg - auf die mündliche Verhandlung vom 15. August 2002 durch

für Recht erkannt:

Tenor:

I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Landgerichts Konstanz vom 13.06.2001 wie folgt abgeändert:

Die Klage wird abgewiesen.

II. Die Anschlussberufung des Klägers wird zurückgewiesen.

III. Der Kläger trägt die Kosten des Rechtsstreits.

IV. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Dem Kläger wird nachgelassen, die Vollstreckung gegen Sicherheitsleitung in Höhe des aufgrund dieses Urteils vollstreckbaren Betrags abzuwenden, sofern nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags leistet.

V. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe:

I.

Hinsichtlich der tatsächlichen Feststellungen wird auf die angefochtene Entscheidung Bezug genommen (§ 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO).

Mit der Berufung rügt die Beklagte, dass das Landgericht zu Unrecht dem Gutachten des Sachverständigen Dr. R. nicht gefolgt sei und keinen Abzug wegen Vorinvalidität nach § 7 Nr. 1 Abs. 3 AUB 1988 (im folgenden nur noch AUB) vorgenommen habe in Höhe von 20 Prozentpunkten. Außerdem vertritt sie die Auffassung, dass das Landgericht zwar eine Vorerkrankung im Sinne von § 8 AUB berücksichtigt, jedoch die Versicherungsleistung im Hinblick auf die vereinbarte progressive Invaliditätsstaffel falsch und zu ihren Ungunsten berechnet habe. Die vom Landgericht gewählte Methode führe dazu, dass der Versicherungsnehmer in den Genuss der Progression komme, obwohl die Berücksichtigung der Vorerkrankung dies gerade verhindern solle.

Die Beklagte stellt den Antrag,

unter Abänderung des Urteils des Landgerichts Konstanz 4 O 136/00 F wird die Klage abgewiesen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.

Außerdem beantragt er im Wege der Anschlussberufung:

Unter Abänderung des Urteils des Landgerichts Konstanz Az. 4 O 136/00 F vom 13.06.2001 wird die Beklagte zur Zahlung von weiteren 113.400 DM nebst 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz gemäß § 1 des Diskontüberleitungsgesetzes seit dem 03.04.2001 verurteilt.

Die Beklagte beantragt,

die Anschlussberufung des Klägers zurückzuweisen.

Zur Begründung der Anschlussberufung macht der Kläger geltend, dass die Berücksichtigung von Vorerkrankungen nach § 8 AUB voraussetze, dass diese bei den durch das Unfallereignis hervorgerufenen Gesundheitsschäden oder deren Folgen mitgewirkt hätten. Diese Voraussetzungen lägen nicht vor. Die Gesamtinvalidität betrage 30%.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Vortrags der Parteien wird auf deren Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.

Der Senat hat Beweis erhoben durch die Vernehmung der Zeugin H.S. im Termin am 04.07.2002 und durch ergänzende Vernehmung des Sachverständigen Dr. G.R. im Termin am 15.08.2002. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Sitzungsniederschriften Bezug genommen.

II.

Die zulässige Berufung ist begründet, die Anschlussberufung ist unbegründet.

Auszugehen ist von einem beim Kläger aufgrund seiner Wirbelsäulenbeschwerden bestehenden Gesamtinvaliditätsgrad von 30 %. Dies ist in der Berufung zwischen den Parteien auch nicht mehr streitig. Die Beklagte hat allerdings bewiesen, dass bei einer Gewichtung der beim Kläger bestehenden Wirbelsäulenschäden der erheblich teilfixierte Rundhohlrücken nach Scheuermann mit seinen hierzu typischen sekundären Veränderungen im Sinne einer mit 20 % für die 30 %ige Gesamtinvalidität bestehenden Vorinvalidität zu werten ist.

Nach § 7 Nr. 1 Abs. 3 AUB wird, wenn durch den Unfall eine körperliche oder geistige Funktion betroffen wird, die schon vorher dauernd beeinträchtigt war, ein Abzug in Höhe dieser Vorinvalidität vorgenommen. Diese Vorinvalidität ist nach denselben Grundsätzen wie die Invalidität, d.h. nach § 7 Nr. 1 Abs. 2 AUB zu bemessen; allerdings ist es für die Vorinvalidität ohne Bedeutung, ob der Vorschaden durch einen seinerseits bedingungsgemäß versicherten Unfall oder nur durch Krankheit oder Gebrechen verursacht worden ist (vgl. Wussow/Pürckhauer, AUB 6.A. § 7 Rdnr. 44).

Invalidität im Sinne der vereinbarten Versicherungsbedingungen ist die dauernde Beeinträchtigung der körperlichen oder geistigen Leistungsfähigkeit des Versicherten (vgl. § 7 Nr. 1 Abs. 1 AUB). Nicht entscheidend ist, ob der Versicherte im buchstäblichen Sinne des Wortes an einer Beschwerdesymptomatik "leidet". Auch ist im Unterschied zu den AUB 61 die Invalidität nicht mehr als dauernde Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit definiert. Maßgeblich ist somit nicht, ob der Kläger in der Ausübung seines konkreten Berufes behindert war oder aber ob er sich gar krank gefühlt hat, vielmehr ist, soweit nicht die Gliedertaxe nach § 7 Nr. 1 Abs. 2 a AUB greift, entscheidend die Beeinträchtigung der normalen körperlichen oder geistigen Leistungsfähigkeit der durch den Unfall betroffenen Körperteile oder Sinnesorgane, wobei ausschließlich medizinische Gesichtspunkte zu berücksichtigen sind (vgl. § 7 Nr. 1 Abs. 2 c AUB). Vergleichsmaßstab ist die Leistungsfähigkeit eines Durchschnittsbürgers gleichen Alters und Geschlechts (vgl. Prölss/Martin/Knappmann, Versicherungsvertragsgesetz 26. Aufl. AUB 88 § 7 Rdn. 3). Alterstypische Beeinträchtigungen der Leistungsfähigkeit erfüllen somit den Tatbestand der Vorinvalidität nicht.

Für die rechtliche Beurteilung ist maßgeblich die Invalidität des betroffenen Körperteils. Dies ist hier nicht allein der betroffene Brustwirbel, sondern die Wirbelsäule insgesamt. Unrichtig wäre es, eine Vorinvalidität bereits deshalb auszuschließen, weil der Unfall, aus dem der Kläger Ansprüche ableitet, nur den Bereich des 12. Brustwirbels betroffen hat, während der erheblich teilfixierte Rundhohlrücken nach Scheuermann die Hals-, Brust- und Lendenwirbelsäule beeinträchtigt. Vielmehr geht es auch insoweit um den selben "Körperteil" im Sinne von § 7 Nr. 1 Abs. 2 c, Abs. 2 AUB.

Aufgrund des gesamten Inhalts der mündlichen Verhandlung und der durchgeführten Beweisaufnahme ist der Senat überzeugt davon, dass beim Kläger bereits vor dem Skiunfall vom 01.01.1997 eine Invalidität im Sinne von § 7 Nr. 1 Abs. 1 AUB von 20 % vorgelegen hat. Der Sachverständige Dr. R. hat in seinem Gutachten dargelegt, dass beim Kläger jedenfalls seit 1993 ein weit über das alterstypische Maß hinaus gestörter Wirbelsäulenbereich vorliegt. Er hat dies nachvollziehbar auf den erheblich teilfixierten Rundhohlrücken nach Scheuermann mit seinen hierzu typischen sekundären Veränderungen zurückgeführt und dies mit einer Bewertung von mindestens 70 % ins Zentrum der Wirbelsäulebeschwerden des Klägers gestellt. Insgesamt hält der Senat die Ausführungen des Sachverständigen Dr. R. insbesondere mit Rücksicht auf dessen Erläuterungen in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat in jeder Hinsicht für überzeugend.

Gegen die Bewertung des Sachverständigen Dr. R. spricht auch nicht, dass der Kläger, seiner Behauptung nach, die von ihm jetzt beklagten Rückenbeschwerden vor dem Skiunfall nicht hatte. Da es, wie dargelegt, primär nicht auf die Frage ankommt, ob Beschwerden vorhanden waren, kommt der Aussage der Zeugin S. insoweit nur indizielle Bedeutung zu. Nach ihren Angaben wäre davon auszugehen, dass der Kläger vor dem Skiunfall weitgehend beschwerdefrei gearbeitet hat. Der Sachverständige hat hierzu überzeugend dargelegt, dass trotz einer bereits bestehenden dauernden Beeinträchtigung der normalen Funktion der Wirbelsäule, eine Berufstätigkeit ausgeübt werden konnte, allerdings auch, dass auch ohne den Unfall bei der vorhandenen Wirbelsäule über kurz oder lang Schwierigkeiten hätten auftauchen müssen. Im Übrigen war der Kläger vor dem Unfall auch keineswegs beschwerdefrei. Wie sich aus den im Berufungsverfahren vom Kläger vorgelegten Versicherungsdaten der AOK-Oberschwaben ergibt, bestand wegen Lumbalgien zwei Mal eine Arbeitsunfähigkeit von insgesamt mindestens 9 Wochen. Der Sachverständige hat diese Lumbalgien überzeugend auf die Vorschädigung der Wirbelsäule im Sinne einer Vorinvalidität zurückgeführt. Zur Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens hat der Senat keine Veranlassung gesehen.

Der Kläger hat sich dafür, dass er vor dem Unfall keinerlei Beschwerden gehabt habe, auf das Zeugnis seines ihn behandelnden Arztes Dr. B. bezogen. Nachdem der Kläger jedoch bereits in der Klagschrift vorgetragen hatte, dass Dr. B. ihn seit dem 24.06.1997 behandelt habe, war dieser Beweis nicht zu erheben. Es geht um die durch Sachverständigengutachten zu klärende Frage, ob der Kläger Vorinvalide war. Hierzu kann der Zeuge Dr. B. auch als sachverständiger Zeuge nichts sagen, weil er den Kläger zu jenem Zeitpunkt nicht behandelt hat.

Folge der Feststellung, dass unter Berücksichtigung der 20 %igen Vorinvalidität im Sinne von § 7 Nr. 1 Abs. 1 i.V.m. Abs. 3 AUB der Skiunfall nur zu 10 % an der Gesamtinvalidität beteiligt ist, ist, dass der Kläger aus dem Versicherungsvertrag 70130036857/1 keine Leistung verlangen kann, da bei diesem eine Mindestinvalidität von 25 % erforderlich ist. Hinsichtlich Ansprüchen aus dem Versicherungsschein Nr. 70107035570/0 ist der Kläger aufgrund der vorprozessualen Zahlungen der Beklagten schon zu weit mehr als 10 % entschädigt.

§ 8 AUB kommt daher nicht mehr zur Anwendung. § 7 Nr. 1 Abs. 3 AUB hat Vorrang. Der BGH hat hinsichtlich der Bedeutung der progressiv steigenden Versicherungssumme ausgeführt, dass eine etwa gegebene - über Unfallfolgen hinausgehende - Gesamtinvalidität nur ein notwendiges Glied in der Kette der Schritte sei, die hin zur Festlegung einer unfallbedingten, d.h. versicherten und bedingungsgemäß zu entschädigenden Invalidität führen (NJW-RR 1988,729). Folglich kann der Versicherungsnehmer auch dann, wenn die Tatsachen, die die Annahme von Vorinvalidität rechtfertigen, gleichzeitig den Kürzungstatbestand nach § 8 AUB, also bei bereits festgestellter Invalidität erfüllen, nur die Leistung der bedingungsgemäßen Entschädigung erwarten, also eine solche unter Berücksichtigung der Vorinvalidität. Hierfür spricht auch der Aufbau der AVB, die zunächst in § 7 AUB das Ausmaß der versicherten Invalidität regeln und erst im Anschluss hieran den Kürzungstatbestand nach § 8 AUB. § 7 Nr. 1 Abs. 3 AUB hat also Vorrang.

Die Kostenentscheidung erging gemäß §§ 91 Abs. 1, 97 Abs. 1 ZPO. Die weiteren Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 543 Abs. 2, 708 Nr. 10, 711 ZPO.

Ende der Entscheidung

Zurück