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Gericht: Oberlandesgericht Karlsruhe
Beschluss verkündet am 24.06.2003
Aktenzeichen: 2 Ss 81/02
Rechtsgebiete: StGB
Vorschriften:
StGB § 230 |
OBERLANDESGERICHT KARLSRUHE 2. Strafsenat
wegen fahrlässiger Körperverletzung
Beschluss vom 24. Juni 2003
Tenor:
Auf die Revision der Angeklagten werden die Urteile des Landgerichts H. vom 12. Februar 2002 und des Amtsgerichts H. vom 27. August 2001 aufgehoben.
Die Angeklagte wird freigesprochen.
Die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen der Angeklagten fallen der Staatskasse zur Last.
Gründe:
Das Amtsgericht hat die Angeklagte wegen fahrlässiger Körperverletzung zu einer Geldstrafe von 50 Tagessätzen zu je 80 DM verurteilt. Ihre Berufung wurde durch Urteil des Landgerichts vom 12. Februar 2002 mit der Maßgabe verworfen, dass sie zu einer Geldstrafe von 50 Tagessätzen zu je 25 € verurteilt wird. Die Revision der Angeklagten führt auf die Sachrüge zum Freispruch.
Nach den Urteilsfeststellungen führte die Angeklagte am 14. März 2001 einen aus zwei Wagen bestehenden Zug der Straßenbahnlinie 3 der H.- Straßen- und Bergbahn AG. Gegen 15.45 Uhr war die damals 76 Jahre alte E. R. an der Haltestelle B-platz im Begriff, in den zweiten Wagen dieses Zuges durch die hinterste Tür einzusteigen und hielt sich zu diesem Zweck an der Einstieghilfe der Türinnenseite fest. Beim automatischen Schließen der Wagentür wurde ihre Handtasche, die sie bereits in das Wageninnere gestellt hatte, eingeklemmt. E. R., die sich noch außerhalb des Wagens befand, versuchte, die in der Tür eingeklemmte Tasche wieder herauszuziehen. Da sie deren Trageriemen auch dann nicht losließ, als die Angeklagte - die von alldem trotz eines Blicks in den rechten Außenspiegel nichts bemerkt hatte - die Straßenbahn in Richtung Adenauerplatz in Bewegung setzte, stürzte sie und zog sich einen Oberschenkelbruch zu, der einen stationären Krankenhausaufenthalt erforderlich machte.
Die Strafkammer sieht eine für den Sturz von E. R. ursächliche Sorgfaltspflichtverletzung der Angeklagten darin, dass sie mit der Straßenbahn losfuhr, obwohl sie trotz des mit Regentropfen benetzten rechten Außenspiegels nur schlecht nach hinten sehen konnte und sich zudem - was sie erkannt hatte - mehrere Menschen in der Nähe des zweiten Wagens aufhielten. Zum einen wäre es ihr ohne weiteres zumutbar gewesen, den Spiegel vor der Abfahrt mit einem handelsüblichen Fenster- oder Spiegelreinigungsgerät zu säubern und damit die Sicht nach hinten wieder herzustellen. Zum anderen hätten ihr schon die Passanten in der Nähe des hinteren Wagens Anlass geben müssen, nicht einfach loszufahren, ohne sich zu vergewissern, ob einer von diesen jetzt im Begriff war, in die Straßenbahn einzusteigen oder nicht.
Diese Würdigung ist nicht frei von Rechtsfehlern.
Schon die Annahme der Strafkammer, die Angeklagte sei verpflichtet gewesen, vor der Abfahrt den mit Regentropfen benetzten Außenspiegel zu säubern, begegnet rechtlichen Bedenken. Einmal davon abgesehen, ob - was nicht festgestellt ist - der Angeklagten überhaupt entsprechendes Reinigungsgerät zur Verfügung stand, erscheint diese Anforderung, die in der Dienstvorschrift für den Fahrdienst mit Straßenbahnen keine Stütze findet, überspannt. Ihre Einhaltung würde bei Regen praktisch die Einstellung jeglichen Straßenbahnbetriebs bedeuten. Zum einen kann auch nach der geforderten Reinigung des Außenspiegels die Sicht durch diesen nach hinten regenbedingt erneut eingeschränkt sein, bis sich der Straßenbahnführer wieder abfahrbereit an seinem Platz befindet. Zum anderen wären bei dem gegebenenfalls notwendigen mehrmaligen oder gar ständigen Ein- und Aussteigen des Straßenbahnführers an den Haltestellen zur Spiegelreinigung die Einhaltung des Fahrplans nicht mehr gewährleistet. Ein effektiver Ablauf des Straßenbahnbetriebs wäre solchenfalls nicht mehr möglich.
Letztlich kommt es hierauf indes nicht an, da nicht rechtsfehlerfrei festgestellt ist, dass die Angeklagte den Unfall auch nach Durchführung einer Reinigung des Außenspiegels überhaupt hätte erkennen und vermeiden können. Die Strafkammer hat zwar festgestellt, dass es der Angeklagten möglich gewesen wäre, vom Fahrerplatz aus durch den - gereinigten - Spiegel jedenfalls den Arm der sich an der Einstieghilfe festhaltenden E. R., kurz danach deren teilweise noch aus der Wagentür herausschauende Tasche und schließlich ihren Versuch, die eingeklemmte Tasche herauszuzerren, zu erkennen. Hierzu in Widerspruch stehen jedoch die Feststellungen, dass die Sicht der Angeklagten nach hinten auch dadurch eingeschränkt war, dass sich mehrere Menschen in der Nähe des zweiten Straßenbahnwagens befanden. Die Annahme der Strafkammer, "aufgrund der räumlichen Anordnung von Spiegel und Tür jeweils sehr dicht bzw. direkt am Straßenbahnzug" sei der Blick nicht durch diese Passanten, die nicht einsteigen wollten, versperrt gewesen, entbehrt einer tragfähigen Grundlage. Sie versteht sich keineswegs von selbst und findet auch in der Beweiswürdigung keine Stütze. Der Zeuge W., der die Unfallsituation nachgestellt hatte, gab insoweit lediglich an, wenn der Spiegel sauber sei, könne man ohne weiteres jedenfalls sehen, ob jemand in die letzte Tür des zweiten Wagens einsteige oder nicht. Damit bleibt offen, ob nicht gerade in dem Augenblick, als sich die Angeklagte nach dem automatischen Schließen der Türen, also unmittelbar vor der Abfahrt, durch einen Blick in den Außenspiegel nach hinten vergewisserte, einer oder mehrere der Passanten - deren genaue Position (Abstand zum Straßenbahnwagen) nicht festgestellt ist - die Sicht auf den Arm von Elisabeth Reitz, möglicherweise durch eine Bewegung, nicht doch versperrte. Dass der Arm, mit dem sie sich zunächst am Haltegriff der Tür festgehalten hatte, beim Schließen der Tür auch eingeklemmt wurde, ist nicht festgestellt. Der Versuch von E. R. die in der Tür eingeklemmte Tasche wieder herauszuzerren, hätte beim Blick der Angeklagten in den Spiegel angesichts der Entfernung nach hinten möglicherweise auch als Versuch, den Türöffnungsknopf zu betätigen, interpretiert werden können. Es ist eine häufig zu beobachtende Tatsache, dass Fahrgäste nach dem Schließen der Einstiegstüren diesen Knopf auch dann noch betätigen, wenn dessen Beleuchtung bereits erloschen und nicht mehr damit zu rechnen ist, dass die vollautomatischen Betriebsabläufe unterbrochen und die Türen (erneut) geöffnet werden können (vgl. OLG Düsseldorf VRS 91,441 f.). Allein dieser - mögliche - Umstand wie auch der, dass sich weitere Personen in der Nähe der Tür befanden, verpflichtete die Angeklagte nicht, die Abfahrt der Straßenbahn zurückzustellen, bis Klarheit über deren Verhalten bestand. Die Einrichtung automatisch schließender Türen entspricht den Erfordernissen eines modernen öffentlichen Personenverkehrs, der darauf ausgerichtet ist, binnen kurzer Zeitspannen jeweils eine große Anzahl von Fahrgästen zu befördern. Der Einsatz dieser Technik ist unbedenklich, sofern die Fahrgäste in der Lage sind, sich hierauf einzustellen und die Anwendung für jeden vernünftig Handelnden keine unabwendbaren Gefahren mit sich bringt. Diese Effektivierung der Personenverkehrs kann aber auch nicht ohne Auswirkungen auf die von dem jeweiligen Straßenbahnführer zu fordernde Sorgfalt haben. Ihm soll durch die Einrichtung automatischer Türen gerade die Verpflichtung abgenommen werden, die Türen des Straßenbahnzuges je nach Bedarf zu öffnen und zu schließen und den Fahrgastwechsel im einzelnen zu beobachten. Bei der in der Regel großen Anzahl ein- bzw. aussteigender Personen ist ihm dies auch nicht möglich. Lediglich bei einem für ihn erkennbaren Anlass ist er zu besonderer Aufmerksamkeit verpflichtet (vgl. OLG Düsseldorf VRS 86, 269 f.). Ein solcher Anlass, also ein gefahrbegründender Zustand, kann in der bloßen Annäherung von - ersichtlich erwachsenen - Personen an einen abfahrbereiten Straßenbahnzug und im Versuch einer sich an der Haltestelle befindlichen Person, den bereits erloschenen Türöffnungsknopf des Wagens noch zu betätigen, nicht gesehen werden. Erst wenn die Angeklagte beim Blick in den Außenspiegel hätte sehen können, dass die später Geschädigte im Begriff war, eine in der Wagentür eingeklemmte Tasche wieder herauszuziehen, wäre sie zu gesteigerter Aufmerksamkeit verpflichtet gewesen.
Das Fehlen der erforderlichen Feststellungen im angefochtenen Urteil führt zu dessen Aufhebung. Es erscheint ausgeschlossen, dass in einer neuen Hauptverhandlung ausreichende Feststellungen zu den konkreten Sichtmöglichkeiten der Angeklagten nach hinten im Zeitpunkt ihres Blicks in den Außenspiegel (unter Einbeziehung der Position von Passanten in der Nähe der hintersten Wagentür) getroffen werden können. Gemäß §§ 349 Abs. 4, 354 Abs. 1 StPO war daher aus tatsächlichen Gründen auf Freispruch zu erkennen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 467 Abs. 1 StPO.
Ende der Entscheidung
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