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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Karlsruhe
Beschluss verkündet am 09.02.2005
Aktenzeichen: 2 Ws 15/05
Rechtsgebiete: MRK, StPO


Vorschriften:

MRK Art. 6 Abs. 1
StPO § 111 a
StPO § 154 a
StPO § 328 Abs. 2
1. Zur vorläufigen Fahrerlaubnisentziehung bei unverhältnismäßig langer Verfahrensdauer.

2. Beantragt die Staatsanwaltschaft im Berufungsrechtszug die Wiedereinbeziehung von Tatteilen, die vom Amtsgericht gemäß § 154 a StPO ausgeschieden worden waren, ist das Berufungsgericht auch zur Entscheidung über diese Tatteile berufen. Eine Rückverweisung an das Amtsgericht ist nicht zulässig.


OBERLANDESGERICHT KARLSRUHE 2. Strafsenat

Beschluss

vom 9. Februar 2005

2 Ws 15/05

wegen fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr u.a.

hier: Beschwerde wegen vorläufiger Entziehung der Fahrerlaubnis

Tenor:

Auf die Beschwerde des Angeklagten wird der Beschluss des Landgerichts U. vom 06. Dezember 2004 aufgehoben.

Die Staatskasse trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem Angeklagten insoweit entstandenen notwendigen Auslagen.

Gründe:

I.

Am 21.05.2004 erließ das Amtsgericht Z. gegen den Angeklagten, einen Polizeibeamten, einen Strafbefehl, in welchem ihm ein Vergehen der fahrlässigen Trunkenheit im Verkehr (BAK 2,13 Promille) und drei Vergehen des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte, in einem Fall in Tateinheit mit versuchtem gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr (Tatzeit 08.09.2003) vorgeworfen wurden. Auf seinen - hinsichtlich des Trunkenheitsvorwurfs auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkten - Einspruch verurteilte ihn das Amtsgericht Z. am 08.07.2004 wegen fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr zu der Geldstrafe von 50 Tagessätzen zu je 40 €. Zugleich entzog es ihm die Fahrerlaubnis, zog den bereits am 19.09.2003 zu den Akten gegebenen Führerschein ein und wies die Verwaltungsbehörde an, vor Ablauf von drei Monaten keine neue Fahrerlaubnis zu erteilen. Bezüglich der übrigen Vorwürfe war das Verfahren nach mehrstündiger Verhandlung mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft gemäß § 154a StPO eingestellt worden.

Auf die Berufung der Staatsanwaltschaft, die zugleich die Wiedereinbeziehung der ausgeschiedenen Teile der Tat gem. § 154a Abs. 3 Satz 2 StPO beantragte, hob das Landgericht U. mit Urteil vom 06.10.2004 das Urteil des Amtsgerichts im Rechtsfolgenausspruch auf und verwies die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung auch über die wieder einzubeziehenden Widerstandshandlungen zurück. Gegen dieses Urteil des Landgerichts hat der Angeklagte Revision eingelegt, über die noch nicht entschieden ist, und mit am 20.11.2004 eingekommenem Schriftsatz seines Verteidigers die Herausgabe des Führerscheins beantragt. Hierauf hat die Strafkammer mit dem angefochtenen Beschluss vom 06.12.2004 dem Angeklagten die Fahrerlaubnis vorläufig entzogen.

Seine hiergegen gerichtete Beschwerde hat Erfolg.

II.

Das gem. § 304 Abs. 1 StPO statthafte und zulässige Rechtsmittel ist begründet. Unbeschadet des fortbestehenden dringenden Tatverdachts hinsichtlich der fahrlässigen Trunkenheit im Verkehr und unabhängig von der Frage, ob angesichts der seit dem Vorfall vom 08.09.2003 verstrichenen Zeit noch ein Eignungsmangel i.S. von § 69 StGB und damit ein dringender Grund für die Maßnahme nach § 111 a StPO besteht, ist die Aufhebung des Beschlusses vom 06.12.2004 veranlasst, weil die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis wegen vermeidbarer, auf sachwidriger Behandlung beruhender Verzögerungen des Verfahrens unverhältnismäßig ist.

Die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis ist wie alle strafprozessualen Zwangsmaßnahmen verfassungsrechtlichen Schranken unterworfen, die sich besonders im Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und in dem Beschleunigungsgebot konkretisieren. Die Belastung aus einem Eingriff in den grundrechtlich geschützten Bereich eines Beschuldigten muss in einem vernünftigen Verhältnis zu den der Allgemeinheit erwachsenden Vorteilen stehen. Dieses Übermaßverbot setzt der Zulässigkeit eines Eingriffs nicht nur bei dessen Anordnung und Vollziehung, sondern auch bei dessen Fortdauer Grenzen. Darüber hinaus erfordern das Rechtsstaatsgebot und Art. 6 Abs. 1 EMRK eine angemessene Beschleunigung des Strafverfahrens. Andernfalls wird bei Versäumnissen im Justizbereich und dadurch eintretenden erheblichen Verfahrensverzögerungen das Recht eines Beschuldigten auf ein rechtsstaatliches, faires Verfahren verletzt. Ermittlungsverfahren, in denen eine vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis angeordnet wurde, sind daher mit besonderer Beschleunigung zu führen (OLG Hamm NZV 2002, 380; OLG Düsseldorf StV 1994, 233; OLG Köln NZV 1991, 243; Schäfer in Löwe-Rosenberg, StPO, 25. Aufl. § 111 a Rdnr. 3, 14).

Im vorliegenden Verfahren ist gegen das Beschleunigungsgebot in erheblicher Weise verstoßen worden und dadurch eine so gravierende Verfahrensverzögerung eingetreten, dass die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis keinen weiteren Bestand haben kann.

1.

Nach der Sicherstellung des Führerscheins am 19.09.2003 und der Erstellung des polizeilichen Schlussberichts am 13.11.2003 wurden die Akten der Staatsanwaltschaft U. vorgelegt, die dem Verteidiger am 01.12.2003 Akteneinsicht mit einer Frist zur Stellungnahme bis 15.01.2004 gewährte. Nachdem binnen dieser großzügig bemessenen Frist entgegen der Ankündigung des Verteidigers keine Stellungnahme eingegangen war, hätte die Sache unverzüglich gerichtlich anhängig gemacht werden müssen. Daran ändert nichts, dass der Verteidiger Ende Januar 2004 fernmündlich erklärte, eine Stellungnahme für den Beschuldigten "alsbald" abzugeben; ohne einen konkreten, engen zeitlichen Rahmen für deren Eingang war hier ein weiteres Zuwarten wegen des Beschleunigungsgrundsatzes nicht sachgerecht. Tatsächlich ist erst nach nochmaliger Anforderung eine Stellungnahme des Verteidigers am 23.03.2003 eingegangen, mit der er die Widerstandsvorwürfe in Abrede stellte und eine Erledigung im Strafbefehlsverfahren, beschränkt auf den eingestandenen Vorwurf der Trunkenheit im Verkehr, anregte.

Gleichwohl hat die Staatsanwaltschaft trotz dieser Verzögerung erst am 28.04.2004 den Abschluss der Ermittlungen verfügt und den Erlass eines Strafbefehls hinsichtlich aller Vorwürfe beantragt. Diesem Antrag entsprach das Amtsgericht Z. - nachdem es Einwendungen erhoben und hierzu eine Stellungnahme der Staatsanwaltschaft eingeholt hatte - am 21.05.2004. Zum Zeitpunkt des Erlasses des Strafbefehls war somit, ohne dass dies sachlich begründet gewesen wäre, ein im Vergleich zu ähnlichen Fällen übermäßig langer Zeitraum von acht Monaten seit der Sicherstellung des Führerscheins verstrichen, obwohl die Ermittlungen schon nach ca. 2 Monaten abgeschlossen gewesen waren.

Nach der - absehbaren - Einlegung des Einspruchs gegen den Strafbefehl hat das Amtsgericht Z. zügig Hauptverhandlungstermin auf den 08.07.2004 bestimmt. Nach eingehender Beweisaufnahme und der mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft vorgenommenen Verfahrenbeschränkung wurde die Verurteilung des Angeklagten wegen fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr ausgesprochen, die nur in der Tagessatzhöhe und um einen Monat bei der Sperrfristbemessung vom Antrag der Staatsanwaltschaft abwich.

2.

Ohne Verzug hat das Landgericht Termin zur Berufungshauptverhandlung auf den 06.10.2004 anberaumt. Jedoch ist seine Entscheidung, die Sache zu erneuter Verhandlung und Entscheidung auch über die wieder einbezogenen Tatteile an das Amtsgericht zurückzuverweisen, rechtsfehlerhaft.

Bis zum Inkrafttreten des Strafverfahrensänderungsgesetzes 1987 am 01.04.1987 (BGBl. I, 1987, 475, 480) war das Berufungsgericht nach § 328 Abs. 2 StPO in der damaligen Fassung befugt, ein Verfahren an das Gericht des ersten Rechtszugs bei bestimmten, schwerwiegenden Verfahrensfehlern und, nach Satz 2 der Vorschrift, dann zurückzuverweisen, wenn das Berufungsgericht abtrennbare Teile einer in der Anklage bzw. im Eröffnungsbeschluss umgrenzten prozessualen Tat, über die im angefochtenen Urteil nach dessen Gründen nicht entschieden worden war, wieder in das Verfahren nach § 154 a StPO einbezogen hatte. Mit der ersatzlosen Streichung dieser früheren Fassung des § 328 Abs. 2 StPO wurde die Möglichkeit einer Zurückverweisung in solchen Fällen im Interesse der Verfahrensbeschleunigung beseitigt. Daraus folgt, dass das Berufungsgericht auch in den Fällen, in denen in erster Instanz abtrennbare Teile einer Tat gemäß § 154a StPO eingestellt worden sind, in der Sache selbst zu entscheiden hat, auch wenn deren "in jeder Lage des Verfahrens" (§ 154a Abs. 3 S. 1 StPO) zulässige Wiedereinbeziehung erst in der Berufungsinstanz erfolgt (Weßlau in SK StPO § 154a Rdn 31). Dabei trifft das Berufungsgericht die Pflicht zur erschöpfenden Untersuchung und Aburteilung der Tat, sofern seine Entscheidungsbefugnis nicht durch das Rechtsmittel beschränkt ist (vgl. KK-Engelhardt StPO, 5. Aufl. § 264 Rdnrn. 12, 13).

Über die hier nicht einschlägige, in der aktuellen Fassung des § 328 Abs. 2 StPO gesetzlich vorgesehene Verweisungsmöglichkeit aus Zuständigkeitsgründen hinaus werden allerdings in der Rechtssprechung weiterhin Fallgestaltungen anerkannt, in denen eine Aufhebung des Urteils und eine Zurückverweisung zu erfolgen haben, so beispielsweise bei einer nicht berechtigten Verfahrenseinstellung wegen eines Verfahrenshindernisses (OLG Stuttgart NStZ 1995, 301; OLG Koblenz NStZ 1990, 296) oder bei zu Unrecht erfolgter Verwerfung eines Einspruchs nach § 412 StPO unter fälschlicher Annahme eines unberechtigten Ausbleibens des Angeklagten (BGH NJW 1989, 1869). Voraussetzung dieser Möglichkeit einer Zurückverweisung ist aber stets, dass eine Verhandlung über den Anklagevorwurf und eine Entscheidung zur Sache in erster Instanz noch nicht stattfanden, sondern nur ein erstinstanzliches "Prozessurteil" vorliegt, auf das in der Berufungsinstanz dann keine Sachentscheidung folgen kann. Eine Zurückverweisung ist daher nur gestattet, wenn das Amtsgericht keine Sachentscheidung getroffen hat (so auch Meyer-Goßner StPO 47. Aufl. § 328 Rdnr. 4; Ruß in Karlsruher Kommentar zur StPO, 5. Aufl. 2003, § 328 Rdnr. 7; Gössel in Löwe-Rosenberg StPO, 25. Aufl., § 328 Rdnrn. 20, 38). Diese Voraussetzung ist vorliegend nicht gegeben. Das Amtsgericht hat eingehend über alle im Strafbefehl enthaltenen Vorwürfe verhandelt und sie - wie auch das Landgericht - als einheitlichen Lebensvorgang und damit als eine Tat im verfahrensrechtlichen Sinne gewertet. Diese Annahme ist auch nach der Auffassung des Senats zutreffend (zu vergleichbaren Fällen OLG Frankfurt NJW 1985, 1850; OLG Stuttgart MDR 1975, 423). Demnach hat das Amtsgericht durch den Beschluss vom 08.07.2004 zutreffend nicht nach § 154 StPO, sondern gemäß § 154a StPO die Verfolgung auf den Vorwurf der Trunkenheit im Verkehr beschränkt mit der Folge, dass die übrigen Teile (Ziffern 2- 4 des Strafbefehls) der Tat, die materiellrechtlich im Verhältnis der Realkonkurrenz angeklagt sind, ausgeschieden wurden. Damit war dennoch die (prozessual) eine Tat vom 08.09.2003 der Urteilsfindung des Amtsgerichts unterbreitet, über die es eine sachliche Entscheidung in dem ihm eröffneten, nur nach § 154 a StPO eingeschränkten Rahmen getroffen hat. Für eine Zurückverweisung war deshalb kein Raum.

Die fehlerhafte Zurückverweisung der Sache durch das Landgericht hat zu einer weiteren gravierenden Verfahrensverzögerung mit der Folge geführt, dass eine Verfahrensbeendigung auch nach der inzwischen über 16 Monate andauernden amtlichen Verwahrung des Führerscheins nicht abzusehen ist. Auch im Falle einer erfolgreichen Revision des Angeklagten gegen das Urteil vom 06.10.2004 würde in jedem Fall eine neue Tatsachenverhandlung erforderlich, in der über die Berufung der Staatsanwaltschaft befunden werden müsste.

Die im Ermittlungsverfahren bis zum Erlass des Strafbefehls und durch die Sachbehandlung des Berufungsgerichts eingetretenen jeweils erheblichen Verzögerungen stellen sich bei zusammenfassender Betrachtung als gravierender Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot dar, überschreiten deutlich den Rahmen einer noch üblichen Verfahrensdauer vergleichbarer Fälle und stehen auch nicht mehr in einem angemessenen Verhältnis zu der Gesamtdauer eines Entzugs der Fahrerlaubnis, wie er nach sonstigen Erkenntnissen im Falle eines Ersttäters zu erwarten ist. Die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis war daher aufzuheben und der Beschwerde stattzugeben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 StPO.



Ende der Entscheidung

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