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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Karlsruhe
Beschluss verkündet am 18.12.2003
Aktenzeichen: 2 Ws 276/02
Rechtsgebiete: StVollzG


Vorschriften:

StVollzG § 11 Abs. 2
Bei einem zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilten darf sich die Vollstreckungsbehörde bei der Versagung von Lockerungen nach § 11 Abs. 2 StVollzG nicht auf pauschale Wertungen oder den Hinweis auf eine abstrakte Flucht- oder Missbrauchsgefahr i.S. von § 11 Abs. 2 StVollzG beschränken. Insbesondere ist es ihr versagt, vom Wissen des Gefangenen, um die Möglichkeit, er werde künftig keine weitergehenden Lockerungen erhalten, pauschal auf Fluchtabsichten bei einer Ausführung, bei der im Rahmen der vorgesehenen Begleitung der Fluchtgefahr in gewissem Rahmen entgegengewirkt werden kann, zu schließen.
OBERLANDESGERICHT KARLSRUHE 2. Strafsenat

2 Ws 276/02

Strafvollzugssache

hier: Rechtsbeschwerde gem. § 116 StVollzG

Beschluss vom 18. Dezember 2003

Tenor:

Auf die Rechtsbeschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Landgerichts - Strafvollstreckungskammer - F. vom 21. August 2002 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Entscheidung, auch über den Antrag auf Prozesskostenhilfe und über die Kosten des Rechtsmittels, an die Strafvollstreckungskammer zurückverwiesen.

Gründe:

Der Antragsteller wurde am 27.04.1983 u.a. wegen Mordes zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt. 15 Jahre der lebenslangen Freiheitsstrafe und zwei während des Vollzugs ausgesprochene Freiheitsstrafen waren am 02.01.1999 verbüßt.

Am 27.02.2001 hat der Verurteilte Ausführung zur Anlaufstelle des Bezirksvereins für soziale Rechtspflege beantragt, die mit Bescheid der Justizvollzugsanstalt vom 16.05.2001 abgelehnt wurde. Nach Aufhebung dieser Verfügung durch die Strafvollstreckungskammer am 10.12.2001 wurde die beantragte Ausführung mit von der Teilanstaltsleiterin unterschriebenem Bescheid der Justizvollzugsanstalt F. vom 22.01.2002, dem am 17.05.2002 eine wort- und inhaltsgleiche Verfügung des Anstaltsleiters folgte, wiederum abgelehnt. Mit am 07.02.2002 bei der Strafvollstreckungskammer eingekommenem Schriftsatz hat der Gefangene Antrag auf gerichtliche Entscheidung gegen den Bescheid der Justizvollzugsanstalt F. vom 22.01.2002 gestellt, den er mit am 28.06.2002 eingekommenem Schriftsatz um die Verfügung vom 17.05.2002 erweitert hat. Die Strafvollstreckungskammer hat mit dem angegriffenen Beschluss den Antrag des Strafgefangenen auf gerichtliche Entscheidung gegen die Verfügung vom 22.01.2002 und auf Prozesskostenhilfe zurückgewiesen. Da dieser Bescheid als Entscheidung des Leiters der Justizvollzugsanstalt F. anzusehen sei, sei eine Entscheidung über den am 28.06.2002 eingegangenen Antrag auf Aufhebung dieser Verfügung nicht veranlasst.

Die Rechtsbeschwerde, die zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zuzulassen war (§ 116 Abs. 1 StVollzG), hat vorläufigen Erfolg.

Allerdings kann der Antragsteller mit der Verfahrensrüge nicht durchdringen. Der Bescheid vom 17.05.2002 stellt nämlich keine Maßnahme i.S.d. § 109 Abs. 1 S. 1 StVollzG dar, gegen die sich der Antragsteller zulässig mit einem Antrag auf gerichtliche Entscheidung wenden könnte. Es handelt sich insoweit nur um eine bloße Wiederholung des bereits ergangenen Bescheids vom 22.1.2002, der unmittelbare Rechtserheblichkeit nicht zukommt und der ersichtlich keine neue Sachprüfung der Justizbehörde zugrundelag (vgl. Kopp/Ramsauer VwVfG, 8 Aufl., zu § 35 Rn. 55).

Doch hat die Rechtsbeschwerde in der Sache Erfolg. Voraussetzung für die Gewährung der vom Verurteilten beantragten Ausführung (§ 11 Abs. 1 Nr. 2 StVollzG) ist nach § 11 Abs. 2 StVollzG - neben der Zustimmung des Gefangenen-, dass nicht zu befürchten ist, er werde die Lockerung zur Flucht oder zur Begehung neuer Straftaten missbrauchen. Bei dieser Flucht- und Missbrauchsklausel handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, der der Justizvollzugsanstalt auf der Tatbestandsseite eine Einschätzungsprärogative und damit einen Beurteilungsspielraum belässt (vgl. BGHSt 30, 320 ff.; OLG Karlsruhe StV 2002, 34 f.). Die gerichtliche Kontrolle beschränkt sich auf die Prüfung, ob die Justizvollzugsanstalt ihrem Bescheid den richtigen Maßstab für die Annahme von Flucht- oder Missbrauchsgefahr zugrundegelegt, den Sachverhalt zutreffend und vollständig ermittelt und die Grenzen des ihr zustehenden Beurteilungsspielraums eingehalten hat (vgl. BGHSt 30, 321, 327; OLG Karlsruhe ZfStrVollstr 1983, 181). Insbesondere bei zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilten unterliegt dabei auch ihrer Kontrolle, ob die Vollzugsbehörde die Bedeutung der Vollzugslockerungen für die grundrechtlich garantierten Rechte des Gefangenen bei ihrer Entscheidung beachtet hat. Im Umfang der ihr so eröffneten Prüfung sind die Gerichte zur umfassenden Sachaufklärung verpflichtet (BVerfG NStZ 1998, 430 ff.).

Eine ausreichende Prüfung und Feststellung in diesem Sinne enthält der angefochtene Beschluss indessen nicht, so dass dem Rechtsbeschwerdegericht eine rechtliche Überprüfung anhand der Feststellungen nicht möglich ist. Dabei ist allerdings zu besorgen, dass die Justizvollzugsanstalt bei ihrer Entscheidung bereits einen unzutreffenden Gefahrenmaßstab angelegt hat. Denn insbesondere in Fällen eines zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilten darf sich die Justizvollzugsanstalt nicht auf pauschale Wertungen oder den Hinweis einer abstrakten Flucht- oder Missbrauchsgefahr i.S.v. § 11 Abs. 2 StVollzG beschränken. Bei diesen Gefangenen sind die Vollzugsanstalten im Blick auf Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG verpflichtet, im Rahmen eines auf Resozialisierung ausgerichteten Behandlungsvollzugs schädlichen Auswirkungen des Freiheitsentzugs, die die Lebenstüchtigkeit des Verurteilten ernsthaft in Frage stellen und es ausschließen, dass sich der Gefangene im Falle einer Entlassung aus der Haft im normalen Leben noch zurückfinden kann, soweit als möglich zu begegnen (etwa BVerfG NJW 1998, 1133 m. ausführl. Nachw.). Darüber hinaus berührt die Frage von Lockerungen in Fällen, in denen der zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilte annähernd die Voraussetzungen des § 57 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB erfüllt, die besondere Schuldschwere also der Vollstreckung der weiteren lebenslangen Freiheitsstrafe nicht mehr entgegensteht, so dass eine Aussetzung der Vollstreckung nur noch von einer positiven Kriminalprognose abhängt, über die genannten Grundrechte hinaus den Schutzbereich des durch Art. 2 Abs. 2 Satz 2 und 104 GG gewährleisteten Freiheitsrechts. In solchen Fällen können Lockerungen nämlich dazu beitragen, die Voraussetzungen für eine bedingte Entlassung erst zu schaffen bzw. die Grundlage der prognostischen Bewertung im Rahmen der Entscheidung nach § 57 a StGB zu erweitern (BVerfG NJW 1998, 1133 ff; 2202 f). Die Vollzugsbehörde hat bei der Versagung von Lockerungen deshalb unter Berücksichtigung dieser verfassungsrechtlichen Vorgaben im Rahmen einer Gesamtwürdigung nähere Anhaltspunkte darzulegen, welche geeignet sind, die Prognose einer Flucht- oder Missbrauchsgefahr in der Person des Gefangenen zu konkretisieren (BVerfG NJW 98, 1133; NStZ-RR 1998, 121 ff, beide m.w.N., st. Rechtsprechung). Maßstab für die Entscheidung über das Vorliegen einer Flucht- oder Missbrauchsgefahr ist mithin nicht die Frage, ob überhaupt in der Person des Verurteilten die Gefahr der erneuten Begehung von Straftaten oder eine Fluchtgefahr besteht, sondern ob zu befürchten ist, der Verurteilte werde gerade die beantragte Lockerung zu Straftaten oder zur Flucht missbrauchen (OLG Karlsruhe StV 2002, 34 f.; vgl. auch OLG Celle StV 2000, 572 f.).

Dem Senat ist aber letztendlich die Prüfung, ob die Justizbehörde bei ihrer Entscheidung von zutreffenden Voraussetzungen ausgegangen ist, nicht möglich, weil die angegriffene Entscheidung eine ausreichende Prüfung und Feststellung des von der Justizvollzugsanstalt ihrer Gefahrprognose zugrundegelegten Sachverhalts vermissen lässt. Zur Begründung von Fluchtgefahr führt die Vollzugsbehörde aus, der Verurteilte wisse, dass ihm weitergehende Lockerungen wie Ausgang oder Urlaub nicht gewährt werden könnten. Zur Ergänzung dieser pauschalen Wertung, mit der vom Wissen des Gefangenen um die Möglichkeit, er werde künftig keine weitergehenden Lockerungen erhalten, auf mögliche Fluchtabsichten bei einer Ausführung, bei der im Rahmen der vorgesehenen Begleitung der Fluchtgefahr in gewissem Rahmen entgegengewirkt werden kann, geschlossen wird und die dem oben dargelegten Maßstab nicht standzuhalten vermag, weist die Justizvollzugsanstalt im weiteren darauf hin, dass "die Beschreibung der Persönlichkeit im Gutachten D. sowie in der Stellungnahme des Vollzugskrankenhauses...auch spontane Reaktionen" nicht ausschließe. Inwiefern sich diesen gutachterlichen Äußerungen - gemeint ist offensichtlich ein Gutachten des psychiatrischen Sachverständigen Dr. D. aus dem Jahr 1999 zur Legalprognose und eine Mitteilung des Vollzugskrankenhauses H.im Zusammenhang mit der im März 2001 diskutierten, dann aber abgelehnten Übernahme des Verurteilten in die dortige Suchttherapiestation - eine Neigung zu spontanen Reaktionen entnehmen lässt, die einen Missbrauch gerade der beantragten Ausführung zur Flucht begründen könnten, ist dem Bescheid nicht zu entnehmen und wurde von der Strafvollstreckungskammer auch nicht näher aufgeklärt. Auch soweit die Vollstreckungsbehörde ihre ablehnende Entscheidung damit begründet, der Gefangene könnte die beantragte Lockerung zur Begehung neuer Straftaten missbrauchen, bezieht sie sich auf die Stellungnahme des Justizvollzugskrankenhauses und das Gutachten des Sachverständigen Dr. D., die befürchten ließen, dass es bei Alkohol- bzw. Drogenkonsum zu einem Rückfall im Bereich der Tötungsdelikte kommen könne. So habe der Sachverständige Dr. D. seine zunächst positive Prognose später wesentlich relativiert, nachdem der Verurteilte am 15.02.2000 in volltrunkenem Zustand in seiner Zelle aufgefunden worden sei. Seither sei bei dem Gefangenen Ende des Jahres 2001 mehrfach Alkohol- bzw. Cannabiskonsum festgestellt worden. Damit legt der Bescheid weder dar, wie und auf welcher Grundlage die sozialtherapeutische Anstalt zu ihrer nur allgemein wiedergegebenen Einschätzung gelangt ist, noch wie sich der Sachverständige Dr. D. zur Rückfallgefahr im Rahmen von Lockerungen bei Suchtmittelgebrauch verhält. Es erscheint vielmehr durchaus möglich, dass den gutachterlichen Stellungnahmen allenfalls eine fortbestehenden Gefährlichkeit im Sinne einer negativen Kriminalprognose zu entnehmen ist, nicht hingegen konkrete Anhaltspunkte für die Befürchtung, der Verurteilte werde Lockerungen zu Straftaten missbrauchen (OLG Karlsruhe StV 2002, 34 ff.). Auch der angegriffene Beschluss lässt eine weitere Sachaufklärung durch die Strafvollstreckungskammer nicht erkennen. Die Strafvollstreckungskammer zitiert zwar eine Stellungnahme des Sachverständigen Dr. D. vom 28.06.2001, wonach "zahlreiche Suchtmediziner den jetzt aufgetretenen Verlauf mit einer mangelhaften Abstinenzmotivation des Betroffenen in Verbindung bringen würden und einer stationären Intervention den Vorzug vor einer ambulanten Behandlung geben würden". Aus gutachterlicher Sicht sei es notwendig, nochmals eine längerdauernde Abstinenzphase von dem Gefangenen zu fordern. Dieser zitierte Passus verhält sich aber zur Frage der Missbrauchgefahr gerade nicht.

Die Sache war deshalb an die Strafvollstreckungskammer zurückzuverweisen, die nach Ergänzung der tatsächlichen Feststellungen unter Beachtung der oben angeführten Grundsätze erneut über den Antrag des Verurteilten wird befinden müssen. Auch über den Antrag auf Prozesskostenhilfe wird die Strafvollstreckungskammer erneut zu entscheiden haben. Dabei wird sie berücksichtigen müssen, dass gem. §§ 120 Abs. 2 StVollzG i.V.m. 114 ZPO - neben der mittels eines Vordrucks nach § 117 Abs. 3 ZPO erklärten Unfähigkeit, die Kosten der Prozessführung auszubringen - Voraussetzung für die Gewährung von Prozesskostenhilfe nicht der tatsächliche Erfolg des Antrags ist, sondern allein, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Erfolgsaussicht bietet.

Ende der Entscheidung

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