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Gericht: Oberlandesgericht Karlsruhe
Beschluss verkündet am 22.09.2005
Aktenzeichen: 3 Ss 92/05
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 261
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Tenor:

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts - 6. Kleine Strafkammer - K. vom 15. Februar 2005 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Kleine Strafkammer des Landgerichts K. zurückverwiesen.

Gründe:

I. Das Amtsgericht - Strafrichter - S. verurteilte den Angeklagten am 16.08.2004 wegen versuchter Nötigung (Tatzeit: 23.02.2004) zu der Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu je EUR 50 und verbot ihm für die Dauer von einem Monat, im öffentlichen Straßenverkehr Kraftfahrzeuge jeder Art zu führen. Die Berufung des Angeklagten verwarf das Landgericht - 6. Kleine Strafkammer - K. am 15.02.2005 mit der Maßgabe, dass die Höhe des einzelnen Tagessatzes EUR 40 beträgt.

Hiergegen richtet sich die auf eine Verfahrensbeanstandung und die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten, mit der er die Aufhebung des angefochtenen Urteils und die Zurückverweisung der Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung erstrebt.

Die Generalstaatsanwaltschaft beantragt mit Schrift vom 21.04.2005, die Revision des Angeklagten als unbegründet zu verwerfen. Der Angeklagte hat mit Verteidigerschriftsatz vom 30.04.2005 eine Gegenäußerung abgegeben.

II. Dem Rechtsmittel des Angeklagten kann ein - zumindest vorläufiger - Erfolg nicht versagt werden.

Mit der formgerecht ausgeführten (vgl. BGH NJW 1986, 2063, 2064) Verfahrensrüge der Verletzung des § 261 StPO beanstandet die Revision, die Strafkammer habe ihre Überzeugung davon, dass der Angeklagte mit dem von ihm geführten PKW in einem Abstand von minimal 1 m bis maximal 4 m unter wiederholter Betätigung der Lichthupe für die Dauer von mindestens 10

Sekunden mit einer Geschwindigkeit von mindestens 120 km/h dem von P. D. geführten PKW hinterherfuhr, nicht ausschließlich aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung geschöpft.

Die Rüge dringt durch.

Im Rahmen der Beweiswürdigung gibt die Strafkammer die Aussage des in der Berufungshauptverhandlung als Zeugen gehörten P. D. insbesondere wie folgt wieder:

"Wie lange das dichte Auffahren gedauert habe, könne er aus der Erinnerung heute nicht mehr genau sagen. Wie oft geblinkt worden sei, könne er heute ebenfalls nicht mehr genau sagen. Was er bei der Polizei unmittelbar nach dem Vorfall zu Protokoll gegeben habe, sei richtig. Damals habe er alles noch frisch in Erinnerung gehabt. Wenn ihm vorgehalten werde, dass er damals angegeben habe, dass der Angeklagte aus einer Entfernung von etwa 50 m das erste Mal geblinkt habe und für eine Zeit von 10 Sekunden so dicht aufgefahren sei und dabei nochmals die Lichthupe betätigt habe, dann sei dies richtig" (UAS. 7/8).

Die Aussage des Zeugen D. und die seiner Beifahrerin, der Zeugin L. R. würdigt die Kammer wie folgt:

"Sie haben eher zurückhaltend ausgesagt und auch offen gelegt, soweit eine aktuelle Erinnerung an Details nicht mehr vorhanden ist. Es ist durchaus nachvollziehbar, dass etwa ein Jahr nach dem Vorfall eine genaue Erinnerung an Einzelheiten wie die genaue Dauer und Länge der Fahrtstrecke nicht mehr spontan in der Erinnerung vorhanden ist. Die Kammer ist jedoch davon überzeugt, dass die Angaben, die der Zeuge D. am 23.02.2004 bei der Polizei gemacht hat, der Wahrheit entsprechen und das damalige Geschehen wiedergeben. Die Angaben wurden dem Zeugen vorgehalten. Er hat hierzu ausgeführt, dass er damals noch eine unmittelbare Erinnerung an den kurz zuvor stattgefundenen Vorfall gehabt habe" (UAS. 9).

Aus diesen Urteilsgründen ergibt sich, dass durch die Vernehmung des Zeugen D. in der Berufungshauptverhandlung seine Aussage vom 23.02.2004 nicht in das Verfahren eingeführt worden ist; denn er hat seine damaligen Bekundungen nicht wiedergegeben und weder aktuell, noch auf Vorhalt erinnert. Der Vorhalt des polizeilichen Protokolls über jene Vernehmung bewirkte für sich allein nichts; auch in einem solchen Fall wird nur das als Beweisergebnis verwertbar, was der Zeuge nunmehr aus der Erinnerung über seine frühere Aussage berichtet (BGH BGHR StPO § 261 Inbegriff der Verhandlung 11/Vernehmungsniederschriften), was auf den Vorhalt hin in seine Erinnerung zurückkehrt und nunmehr von ihm bekundet wird (BGH St 14, 310, 312, 313; 21, 149, 150; NJW 1986, 2063, 2064; StV 1994, 413). Eine Erklärung des Zeugen, sich auf den Vorhalt hin wieder und zwar sicher an den Inhalt seiner polizeilichen Aussage erinnern zu können, und dass er diesen Aussageinhalt sodann wiedergegeben habe, ist aber den Urteilsgründen, d. h. der darin festgestellten maßgeblichen, nur pauschalen Aussage des Zeugen, "dann sei das richtig", nicht zu entnehmen.

Die Strafkammer durfte sich hier mithin nicht auf die Niederschrift über die frühere polizeiliche Vernehmung des Zeugen vom 23.04.2004 stützen, ebenso wenig wie auf die über die erstinstanzliche richterliche Vernehmung des Zeugen vom 16.08.2004 (UAS.10). Zwar hätte sie bei der gegebenen Verfahrenslage - etwa neben der Vernehmung der jeweiligen Verhörsperson - zum Urkundenbeweis gem. § 253 StPO übergehen, d. h. die früheren Vernehmungsschriften verlesen und auf Grund dessen unmittelbar deren Inhalt feststelle n können (BGH NJW 1986, 2063, 2064). Eine Verlesung der Niederschriften nach dieser Vorschrift zum Zwecke des Urkundenbeweises ist jedoch nicht erfolgt, was durch das Schweigen des Protokolls über die Hauptverhandlung bewiesen wird. Damit steht fest, dass die Strafkammer die oben zitierte Feststellung über die Fahrweise des Angeklagten -Dauer des Nachfahrens von 10 Sekunden im Abstand von max. 4 m- und die daraus sachverständig ermittelte Fahrstrecke von 330 m nicht aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpft, sondern ihre Erkenntnis auf unzulässige Weise gewonnen hat (vgl. auch Senat B. v. 11.03.2004 - 3 Ss 8/04 -).

Hinzu kommt, dass der Vorhalt von Protokollen über frühere Vernehmungen eines Zeugen nicht genügt, wenn es gerade um die sich aus der Aussagekonstanz ergebende Glaubwürdigkeit des Zeugen geht und dieser auf den Vorhalt hin nicht - wie hier - den Kern des Geschehens und seine wesentlichen Details übereinstimmend bekundet (BGH Urt. v. 28.01.1992 - 1 StR 336/91; OLG Hamm StV 2004, 643). Vielmehr sind dessen früheren Vernehmungen, sei es durch Verlesung der Niederschriften unter den Voraussetzungen des § 251 StPO, sei es durch Vernehmung der Verhörsperson zum Gegenstand der Beweisaufnahme zu machen, d.h. in der gebotenen zulässigen Weise in die Berufungshauptverhandlung einzuführen (Senat aaO.).

Das verurteilende Erkenntnis der Strafkammer hat schon hierwegen - ohne dass es der näheren sachlich-rechtliche Nachprüfung auf seine Richtigkeit bedarf - keinen Bestand.

III. Das Urteil der Strafkammer ist wegen des aufgezeigten Verfahrensfehlers mit den zugehörigen Feststellungen aufzuheben (§ 353 Abs. 1 und 2 StPO). Da kein Fall gegeben ist, in dem der Senat in der Sache selbst entscheiden könnte (§ 354 Abs. 1 StPO), ist sie zu neuer tatrichterlicher Verhandlung und Entscheidung an eine andere Kleine Strafkammer des Landgerichts K. (§ 354 Abs. 2 StPO) zurückzuverweisen; diese wird auch über die Kosten des Rechtsmittels zu befinden haben.

Für die neue Hauptverhandlung gibt der Senat zu bedenken:

Der Aussage des Zeugen D. vom 23.02.2004 zur fraglichen Dauer des bedrängenden Auffahrens des Angeklagten liegt lediglich eine Schätzung zugrunde. In diesem Falle müssen die Urteilsgründe die Tatsachengrundlage sowie erkennen lassen, dass sich das Gericht der damit verbundenen methodischen Unsicherheiten bewusst ist. Die lapidare Mitteilung "10 Sekunden" - ohne Nennung von Anknüpfungstatsachen - genügt dazu schlechterdings nicht (vgl. wegen der an die Darlegungen und die Beweiswürdigung zu stellenden Anforderungen bei Schätzungen selbst im Falle erfahrener Polizeibeamter: OLG Hamm VRS 98, 361; OLG Düsseldorf zfs 1998, 231; dass. VRS 98, 155).

Wegen der Abgrenzung zwischen strafbarer (versuchter) Nötigung und bloßer Verkehrsordnungswidrigkeit des Nachfahrens unter Einhaltung eines zu geringen Sicherheitsabstandes (§ 4 Abs. 1 Satz 1 StVO) weist der Senat auf die Entscheidungen des Senats (VRS 94, 262), des OLG Karlsruhe (VRS 57, 21), des OLG Hamm (DAR 1990, 392) und des Bayerischen Oberlandesgerichts (NZV 1990, 238; NJW 1993, 2882) hin.

Die Anordnung eines Fahrverbotes nach § 44 StGB könnte vorliegend, sofern der Angeklagte nach wie vor den von den Zeugen D. und R. geschilderten Tathergang in Abrede stellen und auf Freispruch antragen sollte, nicht darauf gestützt werden, sein Prozessverhalten zeige, dass er wenig Einsicht in das von ihm begangenen Unrecht habe, er das ihm vorgeworfene Verhalten bagatellisiere bzw. er versuche, anderen Schuldzuweisungen zu machen (so aber UAS 15). Denn darin läge eine Beeinträchtigung seines Rechts auf Verteidigung (Senat B. v. 13.09.2005 - 3 Ss 159/05 -; BGH BGHR StGB § 46 Abs. 2 Nachtatverhalten 24). Mit den materiell - rechtlichen Voraussetzungen für die Anordnung eines Fahrverbotes hat sich der Senat im Übrigen jüngst in seinem Urteil vom 15.09.2005 - 3 Ss 135/05 - (zur Veröffentlichung bestimmt) ausführlich befasst.

Sollte im Falle des Schuldspruchs wegen bezeichneter Verkehrsordnungswidrigkeit ein Fahrverbot nach §§ 25 Abs. 1 StVG, 4 Abs. 1 BKatV, Nr. 12.5 BKat erwogen werden, könnten der seit der Tat verstrichene Zeitraum und die Dauer des Verfahrens - bei der von Verfassungs wegen gebotenen Beachtung des Übermaßverbotes - geeignet sein, die Regelwirkung der BKatV so zu mindern, dass die Anordnung eines Fahrverbotes nicht mehr in Betracht käme.

Ende der Entscheidung

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