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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Karlsruhe
Urteil verkündet am 12.12.2001
Aktenzeichen: 7 U 90/00
Rechtsgebiete: ZPO


Vorschriften:

ZPO § 411
ZPO § 286
ZPO § 539 a.F.
Das Gebot der Waffengleichheit im Arzthaftungsprozess gebietet es, dass das Gericht die Gutachten gerichtlich bestellter Sachverständiger sorgfältig und kritisch würdigt und Unklarheiten, Unvollständigkeiten oder Zweifel von Amts wegen auszuräumt. Unterlässt das Gericht die gebotene Aufklärung des Sachverhalts in dem ihm möglichen Rahmen, verletzt es regelmäßig die Vorschriften der §§ 411, 286 ZPO und verkennt die grundlegende Anforderungen an das Beweisverfahren im Arzthaftungsprozess, was einen wesentlichen Verfahrensmangel i. S. v. § 539 ZPO a.F. darstellt
OBERLANDESGERICHT KARLSRUHE Im Namen des Volkes Urteil

7 U 90/00

Verkündet am: 12. Dezember 2001

In Sachen

wegen Schmerzensgeldes

hat der 7. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Karlsruhe auf die mündliche Verhandlung vom 28. November 2001 durch

Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht

für Recht erkannt:

Tenor:

I. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Landgerichts Baden-Baden vom 05.05.2000 - 1 O 217/99 - einschließlich des ihm zugrunde liegenden Verfahrens aufgehoben.

II. Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Berufungsrechtszugs, an das Landgericht Baden-Baden zurückverwiesen.

Entscheidungsgründe:

(Von der Darstellung des Tatbestandes wird gem. § 543 Abs. 1 ZPO abgesehen.)

Die zulässige Berufung der Klägerin hat in der Sache vorläufigen Erfolg. Das Verfahren des Landgericht leidet unter einem wesentlichen Mangel i. S. d. § 539 ZPO, denn das Landgericht hat die grundlegenden Anforderungen an das Beweisverfahren im Arzthaftungsprozess nicht beachtet, sodass die getroffene Entscheidung keine tragfähige Grundlage in den getroffenen Feststellungen findet.

Der Arzthaftungsprozess erfährt seine maßgebliche Prägung dadurch, dass in der Regel ein medizinischer Laie einem ihm an Fachkompetenz weit überlegenen medizinischen Fachmann gegenüber steht. Dies erfordert in besonderem Maße eine kritische Sorgfalt des Gerichts. Der Richter ist deshalb, mehr als in einem durchschnittlichen Parteiprozess, zu gesteigerter Aufmerksamkeit aufgerufen; dem Gebot der Waffengleichheit ist er in solchen Verfahren in besonderem Maße verpflichtet (vgl. BGH VersR 1980, 940). Dies hat zur Folge, dass das Gericht dem Sach- und Streitstoff besondere Aufmerksamkeit widmen und die Gutachten gerichtlich bestellter Sachverständiger sorgfältig und kritisch zu würdigen hat. Unklarheiten, Unvollständigen oder Zweifel sind von Amts wegen auszuräumen. Unterlässt das Gericht die gebotene Aufklärung des Sachverhalts in dem ihm möglichen Rahmen, verletzt es, insbesondere wenn eine der Parteien Einwendungen gegen das Gutachten vorgetragen hat, die Vorschriften der §§ 411, 286 ZPO (ständige Rechtssprechung des Bundesgerichthofs, BGH VersR 1980, 533; VersR 1981, 752; VersR 1985, 1187, 1188; VersR 1997, 191, 192; NJW 1997, 1638, 1639). Die demnach gebotene vollständige Aufklärung des Sachverhalts in medizinischer Hinsicht erfordert es in aller Regel, dass sich das Gericht die vollständigen Originalkrankenakten des beklagten Arztes vorlegen lässt und diese dem mit der Beurteilung des Behandlungsgeschehens betrauten medizinischen Sachverständigen zur Verfügung stellt. Darüber hinaus hat das Gericht, soweit es zur Beurteilung der medizinischen Fragen erforderlich ist, auch darauf hinzuwirken, dass sonstige Behandlungsunterlagen vorgelegt und dem Sachverständigen zugänglich gemacht werden. Dies kommt insbesondere dann in Betracht, wenn eine Anschlussbehandlung bei einem anderen Arzt oder Krankenhaus in Frage steht, die Rückschlüsse darüber ergeben kann, ob der in Anspruch genommene Arzt den medizinischen Standard gewahrt hat oder ob dessen Behandlungsmaßnahmen für die eingetretenen Gesundheitsbeeinträchtigungen ursächlich waren. Unterlässt das Gericht die Beiziehung der Krankenakten, verletzt es ebenfalls die ihm obliegende Pflicht zur Aufklärung des medizinischen Sachverhalts (vgl. auch OLG Oldenburg, NJW-RR 1999, 718, 719).

Die Beweiserhebung durch das Landgericht wird diesen Anforderungen in mehrfacher Hinsicht nicht gerecht. Die Originalkrankenunterlagen der Beklagten wurden vom Gericht nicht beigezogen. Es begnügte sich mit einem in Kopie vorgelegten Auszug aus den Behandlungsunterlagen des Beklagten zu 2 (I 61 u. I 147) sowie mit einer schriftlichen Zeugenaussage des Beklagten zu 2 im Strafverfahren (I 145). Die Krankenunterlagen des Beklagten zu 1, die noch nicht einmal (und sei es auszugsweise) in Kopie vorgelegt worden waren, wurden vom Gericht nicht beigezogen. Auch nachdem der vom Landgericht beauftragte Sachverständige an mehreren Stellen seines Gutachtens deutlich darauf hinwiesen hatte, dass eine fundierte Aussage zu dem Behandlungsgeschehen ohne die Krankenunterlagen nicht möglich sei (Gutachten Seite 5, I 221; Seite 6, I 223; Seite 8, I 227; Seite 9, I 229; Seite 12, I 235; Seite 13, I 237; Seite 14, I 239; Seite 17, I 245), hat das Landgericht trotz der bereits im Gutachten niedergelegten offensichtlichen Unvollständigkeit keine Maßnahmen ergriffen, um nach Beiziehung der Krankenunterlagen die unklaren Punkte durch eine Ergänzung des Gutachtens zu klären. Stattdessen wurde lediglich (auf Antrag der Klägerin) Termin zur mündlichen Erläuterung des Gutachtens bestimmt und in der Verfügung dem Beklagten aufgegeben, "die bei Ihnen befindliche Dokumentation des streitgegenständlichen Vorgangs zum Termin mitzubringen" (I 285). Die mündliche Anhörung des Sachverständigen wurde dann in der mündlichen Verhandlung vom 31.03.2000 (I 293 ff.) durchgeführt, ohne dass dem Protokoll an irgendeiner Stelle entnommen werden kann, dass dem Sachverständigen zumindest im Termin (was allerdings kaum als eine ausreichende Vorbereitung der Begutachtung angesehen werden könnte) die Originalkrankenunterlagen der Beklagten zugänglich gemacht wurden. Dagegen spricht, dass unklare Punkte im Ablauf des Behandlungsgeschehens nicht durch die Auswertung der Unterlagen sondern durch Befragung des Beklagten zu 2 geklärt wurden (vgl. das Protokoll Seite 2, I 295; auch die Erklärung des Beklagten auf Seite 4 des Protokolls unten, I 299, wäre bei Vorlage der Krankenunterlagen nicht erforderlich gewesen).

Zudem wurde das Behandlungsgeschehen im Kreiskrankenhaus in B. , insbesondere die konkreten Umstände der Aufnahme der Klägerin in diesem Krankenhaus, nicht aufgeklärt, obwohl der Sachverständige aus diesen Umständen Rückschlüsse auf seine Beurteilung der Behandlungsmaßnahmen der Beklagten gezogen hat (Protokoll der Anhörung S. 3, I 297), was im Hinblick auf die fehlenden Unterlagen spekulativ bleiben musste. Damit blieben weitere wesentlichen Aspekte des Behandlungsgeschehens ungeklärt. Die Begutachtung durch den Sachverständigen ist deshalb auch nach der Anhörung notwendig unvollständig und lückenhaft. Sie stellte keine tragfähige Grundlage für die vom Landgericht getroffene Entscheidung dar. Dies zeigt sich mit besonderer Deutlichkeit darin, dass der Sachverständige aufgrund dieser spekulativen Erwägungen zu der falschen Annahme kommt, auch im Kreiskrankenhaus B. habe man nicht sofort auf eine Blinddarmentzündung geschlossen (Protokoll Seite 3, I 297), was zu dem Aufnahmebefund des Kreiskrankenhauses (und auch schon zu der vorgelegten Zeugenaussage des Dr. A. im Strafverfahren in Widerspruch steht, vgl. I 149) steht, denn dort ist bereits die Diagnose einer Blinddarmentzündung vermerkt.

Diese grundlegende Verkennung der Anforderungen an das Beweisverfahren im Arzthaftungsprozess stellt einen wesentlichen Verfahrensmangel i. S. v. § 539 ZPO dar. Das Landgericht hat die ihm obliegende Verpflichtung zur vollständigen Aufklärung des Sachverhaltes durch weitere und ergänzende Begutachtung verletzt und damit die Beweisbehauptungen und die Beweismittel nicht erschöpft, sodass die Beweise nicht vollständig erhoben wurden. Die teilweise Nichterhebung von Beweisen steht der vollständigen Nichterhebung gleich und begründet in beiden Fällen einen wesentlichen Verfahrensmangel (vgl. Gummer in: Zöller, ZPO, 22. Aufl., Rn. 19 zu § 529; OLG Oldenburg, NJW-RR 1999, 718, 719; OLG Saarbrücken, OLGReport 1999, 43, 45 = NJW-RR 1999, 719, 720). Im Hinblick darauf, dass aufgrund dieser Verfahrensfehler der Sach- und Streitstand nach wie vor weitgehend ungeklärt ist und eine Beweisaufnahme in beträchtlichem Umfang erforderlich sein wird, erscheint eine eigene Sachentscheidung durch den Senat nicht sachdienlich (§ 540 ZPO). Die Durchführung der Beweisaufnahme im Berufungsrechtszug käme dem Verlust einer zweiten Tatsacheninstanz gleich, was im Hinblick auf den in den zentralen Punkten völlig ungeklärten Geschehensablauf nicht gerechtfertigt erscheint.

Um dem Sachverständigen eine ausreichende Grundlage für seine Begutachtung zu verschaffen, wird das Landgericht zunächst die von der Klägerin angebotenen Zeugen zur Art und Umfang ihrer Schmerzen hören müssen, denn dies kann nach den bisherigen Darlegungen des Sachverständigen Einfluß auf die Diagnosestellung gewinnen (vgl. z.B. Gutachten S. 11 und Protokoll Seite 3, I 297). Das Landgericht wird auch zu erwägen haben, ob der Sachverständige zu der Vernehmung der Zeugen bereits hinzuzuziehen ist. Im Anschluss daran wird dem Sachverständigen Gelegenheit zu geben sein, unter Auswertung der vollständigen Krankenunterlagen seine bisherigen Ausführungen zu ergänzen und zu präzisieren. In diesem Zusammenhang wird das Landgericht auch der bislang ungeklärten Frage nachgehen müssen, welche Bedeutung den vom Sachverständigen geforderten Laboruntersuchungen, insbesondere der Untersuchung des Blutbildes (Gutachten Seite 11 und 21), und den sonstigen Untersuchungen (Gutachten S. 11) beizumessen ist, ob und in welchem Umfang diese Untersuchungen bei dem Beschwerdebild der Klägerin nach dem einzuhaltenden medizinischen Standard zu fordern waren und was diese Untersuchungen gegebenenfalls erbracht hätten, wobei das Landgericht die Rechtssprechung des Bundesgerichtshofs zum Unterlassen medizinisch gebotener Befunderhebungen (vgl. BGH VersR 1999, 60, 61; VersR 1999, 231, 232ž VersR 1999, 1241, 1243 = BGHZ 142, 126 f.) wird beachten müssen. Weiter wird sich das Landgericht näher mit der Frage befassen müssen, ob das Unterlassen einer klinischen Verlaufskontrolle durch den Beklagten zu 1 am Abend des 3. Januar einen Fehler im Sinne einer unterlassenen Befunderhebung darstellt (vgl. dazu die Ausführungen des Sachverständigen im Protokoll Seite 3, I 297) und welches Ergebnis diese Befunderhebung gegebenenfalls erbracht hätte. Das Landgericht wird sich im Zusammenhang mit dem gegenüber dem Beklagten zu 1 erhobenen Vorwurf behandlungsfehlerhaften Verhaltens auch mit der Frage auseinandersetzen müssen, ob die Würdigung des Verhaltens des Beklagten zu 1, eines Facharztes für Gynäkologie, durch einen Chirurgen geeignet ist, den von einem Gynäkologen einzuhaltenden medizinisches Standard zu bestimmen oder ob dies nicht durch einen dem Fachgebiet des Beklagten zu 1 angehörenden Gutachter erfolgen muss. Insoweit weist der Senat im Hinblick auf die Äußerungen des Beklagten zu 1 im Senatstermin allerdings darauf hin, dass nach dem bisherigen Sach- und Streitstand nicht davon ausgegangen werden kann, dass dem Beklagten zu 1 ein eingeschränkter Untersuchungsauftrag dahingehend gegeben worden war, dass er die Klägerin lediglich gynäkologisch untersuchen sollte. Auch der Beklagte zu 1 war damit befasst, den Ursachen der von der Klägerin geklagten unbestimmten Unterbauchbeschwerden differenzialdiagnostisch umfassend nachzugehen, wenngleich er dabei in erster Linie sein gynäkologisches Fachwissen zum Einsatz bringen sollte.

Eine Kostenentscheidung ist nicht veranlasst.

Der Wert der Beschwer keiner der Parteien übersteigt DM 60.000,00 (§ 546 Abs. 2 ZPO).

Ende der Entscheidung

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