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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Koblenz
Beschluss verkündet am 16.01.2003
Aktenzeichen: 1 Ss 183/02
Rechtsgebiete: StVO, EO


Vorschriften:

StVO § 3
EO § 33
Es verstößt nicht gegen den Zweifelssatz, wenn im Falle einer Geschwindigkeitsmessung mit der Messanlage Truvelo M 42 der Feststellung der dem Betroffenen anzulastenden Geschwindigkeit der vom Standardgerät (Hauptrechner) ermittelte Wert auch dann zu Grunde gelegt wird, wenn er höher ist als der des Kontrollgeräts (Kontrollrechner).
1 Ss 183/02 2040 Js 16632/02 StA Koblenz

In der Bußgeldsache

wegen Geschwindigkeitsüberschreitung

hier: Rechtsbeschwerde des Betroffenen

hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Koblenz durch ...

am 16. Januar 2003 beschlossen:

Tenor:

Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen gegen das Urteil des Amtsgerichts Linz vom 25. Mai 2002 wird auf seine Kosten als unbegründet verworfen.

Gründe:

I.

Der Betroffene wendet sich mit der Rechtsbeschwerde, deren Zulassung er beantragt hatte, gegen das Urteil des Amtsgericht Linz vom 22. Mai 2002, durch das er wegen fahrlässiger Überschreitung der außerörtlichen Höchstgeschwindigkeit (hier: 130 km/h) um 21 km/h zu einer Geldbuße von 40 € verurteilt wurde.

Nach den tatrichterlichen Feststellungen hatte eine Geschwindigkeitsmessung mit einer Messanlage Truvelo M 42 einen "Hauptrechnerwert" von 156 km/h und einen "Kontrollrechnerwert" von 154 km/h ergeben. Mit der Begründung, es sei "ständige Rechtsprechung und Vorgabe der technischen Prüfanstalt, dass für die Geschwindigkeitsmessung das Messergebnis des Hauptrechners entscheidend" sei, hat der Tatrichter dem Betroffenen eine Geschwindigkeit von (abgerundet) 151 km/h (156 km/h abzüglich 3%) zur Last gelegt.

Der Betroffene ist der Auffassung, der Grundsatz "in dubio pro reo" gebiete die Zugrundelegung des niedrigeren Messwertes.

Mit Beschluss vom 26. November 2002 hat der Senat (Einzelrichter) die Rechtsbeschwerde zur Fortbildung des materiellen Rechts zugelassen (§ 80 Abs. 2 Nr. 1 OWiG), weil diese Frage ­ soweit ersichtlich ­ bisher noch nicht höchstrichterlich entschieden wurde. Ihre Beantwortung ist zumindest für den Rechtsfolgenausspruch entscheidungserheblich, weil eine Überschreitung der außerörtlichen Höchstgeschwindigkeit um 21 km/h im Regelfall mit einem Bußgeld von 40 € (und einem Punkt "in Flensburg") geahndet wird, während die Regelsanktion für eine um 1 km/h geringere Geschwindigkeitsüberschreitung ein Bußgeld von 30 € ist.

II.

Die Rechtsbeschwerde ist unbegründet, weil es aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden ist, dass das Amtsgericht der Berechnung der dem Betroffenen anzulastenden Geschwindigkeit den höheren Messwert zu Grunde gelegt hat. Der Zweifelssatz gebietet nicht die Berücksichtigung des niedrigeren Wertes.

1.

Messgeräte, die mit einem vertretbaren technischen und finanziellen Aufwand für den Alltagsgebrauch produziert werden, bieten keine Gewähr für eine absolut genaue Messung in jedem Einzelfall. Vielmehr ist zu erwarten, dass der angezeigte Messwert nicht selten mehr oder weniger vom wahren Wert abweicht. Dem trägt das Eichrecht dadurch Rechnung, dass ein Messgerät rechtlich als richtig messend gilt, wenn es über einen längeren Zeitraum (der bei eichpflichtigen Geräten mindestens der Gültigkeitsdauer der Eichung entsprechen muss) Messergebnisse innerhalb der zulässigen Fehlergrenzen liefert (§§ 33, 36, 37 Eichordnung [EO).

Für Geschwindigkeitsmessgeräte sind die in Anlage 18, Abschnitt 11 zu § 33 EO aufgeführten Fehlergrenzen maßgeblich. Während die niedrige Eichfehlergrenze nach Nr. 4.1.1 für die Geräteprüfung unter optimierten Laboratoriumsbedingungen gilt (und deshalb für Zulassungs­ und Eichbehörden von Relevanz ist), ist für die Praxis der Verkehrsüberwachung die höhere Fehlergrenze für Prüfungen unter tatsächlichen Einsatzbedingungen (Nr. 4.1.2) maßgebend. Sie entspricht der Verkehrsfehlergrenze (§ 33 Abs. 4 S. 2 EO i. V. m. Nr. 4.2) und beträgt 3 km/h bei Messwerten bis 100 km/h und 3 % des richtigen Wertes bei höheren Messergebnissen (wobei auf eine ganze Zahl aufzurunden ist). Die Verkehrsfehlergrenze trägt der Unvollkommenheit der Messgeräte sowie dem Umstand Rechnung, dass im alltäglichen Einsatz auch bei genauer Einhaltung der Bedienungsanleitung Fehlerquellen auftreten können, von denen jede isoliert betrachtet wahrscheinlich nur Einfluss auf eine unbedeutende Dezimalstelle hätte, die aber, was nie mit Sicherheit auszuschließen ist, in der Summe das Messergebnis nennenswert zu Gunsten oder zu Ungunsten des Führers eines gemessenen Fahrzeugs beeinflussen könnten.

Das bedeutet:

Bei einer wahren Geschwindigkeit von beispielsweise exakt 90 km/h misst ein Geschwindigkeitsmessgerät richtig im Sinne des Eichrechts, wenn sich die Anzeige in der Spanne von 87 km/h bis 93 km/h bewegt. Da bei einer Geschwindigkeitsmessung unter Alltagsbedingungen aber niemand die wahre Geschwindigkeit kennt oder feststellen kann, wird zu Gunsten des Fahrzeugführers unterstellt, dass das Messgerät die Verkehrsfehlergrenze zu seinen Ungunsten ausgeschöpft hat. Im Beispielsfall wird ihm bei einer Anzeige von 87 km/h eine Geschwindigkeit von nur 84 km/h angelastet, bei einer Anzeige von 93 km/h errechnet sich eine Geschwindigkeit von 90 km/h. Bei höheren Messwerten (z. B. wahrer Wert: 200 km/h; Anzeige: 206 km/h) führt in der Praxis noch die Aufrundung (3% = 6.18 = 7) zu einer Verschiebung zu Gunsten des Fahrers um 1 km/h. Es ist also davon auszugehen, dass bei einer technisch ordnungsgemäß durchgeführten Messung nur im für den Betroffenen denkbar ungünstigsten Fall die wahre Geschwindigkeit nicht höher war als die angelastete. In allen anderen Fällen liegt die wahre Geschwindigkeit immer über der angelasteten.

2.

Geschwindigkeitsmessgeräte für die amtliche Überwachung des Straßenverkehrs bedürfen der Bauartprüfung und ­zulassung durch die Physikalisch­Technische­Bundesanstalt (PTB; s. §§ 13 EichG; 14 a, 15 EO; Nr. 1 der Anlage 18, Abschnitt 11) und müssen geeicht sein (§ 25 Abs. 1 Nr. 3 EichG).

Voraussetzung für die Bauartzulassung ist die Einhaltung der Vorgaben der Eichordnung zur Messrichtigkeit und ­beständigkeit (§§ 36, 37 EO) sowie zu den Fehlergrenzen (§ 33 EO). Der Zulassung voraus gehen umfangreiche Prüfungen eines Mustergerätes unter Laboratoriums­ und Nenngebrauchsbedingungen. Dazu gehören insbesondere Messreihen, deren Ergebnisse mit denen der hochgenauen Referenzgeräte der PTB verglichen werden. Nur wenn die Prüfungen ergeben, dass das Messgerät die Gewähr dafür bietet, dass es während der Gültigkeitsdauer der Eichung (bei Geschwindigkeitsmessgeräten 1 Jahr; s. Anhang B, Nr. 18.3 zu § 12 EO) im Rahmen der zulässigen Fehlergrenzen ausnahmslos richtige Messergebnisse (§ 36 Abs. 1 EO) liefert, wird die Zulassung erteilt.

Es kann deshalb davon ausgegangen werden, dass bei einer Geschwindigkeitsmessung mit einem der Bauartzulassung entsprechenden, geeichten, unbeschädigten und ordnungsgemäß bedienten Messgerät der durch Abzug der "Toleranz" (3 km/h bzw. 3%) errechnete Wert selbst im für den Betroffenen ungünstigsten Fall nie höher sein kann als die tatsächlich gefahrene Geschwindigkeit.

3.

Das gilt uneingeschränkt auch für den "Hauptrechnerwert" der Messanlage Truvelo M 42.

Diese 1984 zugelassene Mehrfachmessanlage besteht aus zwei unabhängig voneinander arbeitenden bauartidentischen Messgeräten.

Das im Jahre 1979 zugelassene Messgerät Truvelo M 4 beruht auf dem Prinzip der Weg­Zeit­Berechnung. Der Rechner ist mit zwei im Abstand von 1,50 m quer zur Fahrbahn verlegten Koaxialkabeln verbunden, bei deren Berührung mit den Vorderrädern eines Fahrzeuges ein piezo­elektrischer Impuls erzeugt wird. Aus der Zeit zwischen Start­ und Stopimpuls und der Wegstrecke von 1.50 m errechnet das Gerät die auf volle km/h abgerundete Geschwindigkeit.

Die Kombination zweier Geräte (jeweils mit eigenem Kabelpaar) ab 1984 dient(e) nach der Vorstellung der Herstellers und der Zulassungsbehörde der Verbesserung der Messsicherheit: Ein Zusatzrechner vergleicht beide Messwerte. Ist die Differenz > 2 km/h, wird die Messung annulliert. Hintergrund ist die Annahme des Herstellers, dass die tatsächliche Verkehrsfehlergrenze des Geräts Truvelo M 4 niedriger ist als die nach der Eichordnung rechtlich zulässige, sodass bereits eine Abweichung von +/­ 2 km/h auf eine Fehlfunktion hindeutet (s. Bedienungsanleitung unter 2. [Gerätebeschreibung und 3.5 [Fehlergrenzen).

Liegt eine verwertbare Messung vor, so ist sowohl nach der Bedienungsanleitung als auch nach der PTB­Zulassung aus dem Jahre 1984 allein der vom Standardgerät ermittelte Wert maßgeblich. Dabei handelt es sich definitionsgemäß um das Gerät, das mit dem in Fahrtrichtung des gemessenen Fahrzeugs gesehen zweiten Fühlerpaar verbunden ist. Bei Messanlagen mit Fotoregistriereinrichtung wird im Anzeigenfeld des Fotos links der Wert des Kontrollgeräts und rechts der des Standardgeräts eingeblendet (hier: 154/156).

4.

Dem Betroffenen ist darin zuzustimmen, dass es bei einer aus identischen Geräten bestehenden Messanlage willkürlich erscheint, das mit der zweiten Messbasis verbundene Gerät als Standardgerät und das andere als Kontrollgerät zu definieren. Man hätte es auch umgekehrt machen können, ohne dass eine dieser beiden Möglichkeiten für sich in Anspruch nehmen könnte, die richtigere zu sein.

Dies führt jedoch weder zur Unbeachtlichkeit der Messergebnisse noch gebietet der Zweifelssatz die Zugrundelegung des niedrigeren Messwertes.

Nach den rechtsfehlerfrei getroffenen und von der Rechtsbeschwerde auch nicht in Frage gestellten tatrichterlichen Feststellungen war am Tattag eine geeichte, ordnungsgemäß funktionierende und der Bedienungsanleitung entsprechend eingerichtete Messanlage zum Einsatz gekommen. Die Verwertbarkeit der Messergebnisse steht somit außer Zweifel.

Davon ausgehend kann die vom Betroffenen an der Messstelle gefahrene Geschwindigkeit nicht niedriger gewesen sein als 151 km/h (156 km/h abzgl. 3%). Da der Zweifelssatz nur gebietet, die für den Betroffenen günstigste reale Möglichkeit anzunehmen, besteht hier keine Veranlassung, der Berechnung der anzulastenden Geschwindigkeit den niedrigeren Wert des Kontrollgerätes zu Grunde zu legen.

Eine andere Vorgehensweise würde zwangsläufig die den tatrichterlichen Feststellungen zuwiderlaufende Mutmaßung beinhalten, das Standardgerät habe doch nicht ordnungsgemäß funktioniert und insbesondere die Verkehrsfehlergrenze nicht eingehalten (was nach § 13 Abs. 1 Nr. 1 EO das vorzeitige Erlöschen der Gültigkeit der Eichung zur Folge hätte). Zieht man nämlich auch von 154 km/h (Messwert des Kontrollggeräts) den höchstmöglichen Verkehrsfehlerwert ab, errechnet sich mit (gerundet) 149 km/h ein Wert, der etwa 1,5 % unter der unteren Verkehrsfehlergrenze des Standardgeräts (gerundet 151 km/h) liegt. Unterstellt man aber zu Gunsten des Betroffenen, das Standardgerät habe die Verkehrsfehlergrenze um etwa 1,5% überschritten, könnte er die Frage aufwerfen, warum dies nicht auch für das Kontrollgerät gelten solle (was gegebenenfalls nicht nur zu einer anzulastenden Geschwindigkeit von 147 km/h führte, sondern, weil der Abstand zu Standardmessung noch größer würde, zu einer Spirale, an deren Ende 0 km/h stünden).

Solchen Rechenspielen liegt im Ansatz die Annahme zu Grunde, der rechtlich gerade noch zulässige Verkehrsfehlerwert sei bei beiden Messungen auch tatsächlich erreicht worden. Das ist aber bei einer funktionstüchtigen, ordnungsgemäß bedienten Messanlage und einer Differenz der Anzeigewerte von wie hier 2 km/h objektiv unmöglich . Berücksichtigt man ferner, dass die volle Ausschöpfung der Verkehrsfehlerspanne bei auch nur einem der beiden Geräte ohnehin eine äußerst unwahrscheinliche Möglichkeit ist (s. Nr. 5 der Stellungnahme der PTB v. 22.11.02), so lassen sich beide Messwerte zwanglos miteinander in Einklang bringen: Das Kontrollgerät zeigte einen Wert an, der innerhalb der Verkehrsfehlergrenze des Standardgeräts liegt, aber eben nicht um den rechtlich zulässigen Maximalwert von 3% nach oben vom wahren Wert abweicht.

Es genügt, zu Gunsten des Betroffenen anzunehmen, das Standardgerät habe zu seinen Ungunsten die Verkehrsfehlergrenze erreicht. Mehr und objektiv Unmögliches verlangt auch der Zweifelssatz nicht.

5.

Die 1987 3 Jahre nach der heute noch gültigen Zulassung der Messanlage Truvelo M 42 von der Vollversammlung der PTB zum Mess­ und Eichwesen beschlossene und im April 1988 bekannt gemachte PTB­Anforderung 18.11 steht dem nicht entgegen. Zwar enthält sie unter Nr. 5.1 für künftige Zulassungsverfahren die Vorgabe, dass bei Mehrfachmessungen der niedrigste Messwert zur Anzeige kommen solle. So konzipierte Geschwindigkeitsmessgeräte werden aber auch entsprechend geprüft: Sie erhalten Zulassung und Eichschein, wenn gewährleistet ist, dass der zur amtlichen Verwendung bestimmte Anzeigewert die von der Eichordnung gezogenen Fehlergrenzen nicht überschreitet. Die anderen, in Sekundenbruchteilen geräteintern errechneten und verworfenen Werte, die beispielsweise beim Lichtschrankenmessgerät ESO µP 80­4 um bis zu 6 km/h bzw. 6 % abweichen dürfen, spielen dabei keine Rolle.

Der Grundsatz "in dubio pro reo" ist immer gewahrt, wenn sichergestellt ist, dass der nach der Zulassung für die amtliche Verwendung vorgesehene Wert abzüglich 3 km/h bzw. 3% bei einem funktionsfähigen und ordnungsgemäß bedienten Messgerät auf keinen Fall höher ist als die wahre Geschwindigkeit. Das ist beim Anzeigewert des Standardgeräts der Messanlage Truvelo M 42 der Fall. Folglich ist es aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden, dass der Tatrichter hier dem Betroffenen eine Geschwindigkeit von 151 km/h angelastet hat.

Abschließend ist anzumerken, dass der Senat keine Veranlassung sieht, der Anregung des Betroffenen folgend zu prüfen, warum es bei der konkreten Messung zu einer Abweichung von 2 km/h gekommen ist. Die Abweichung liegt innerhalb der zulässigen Fehlergrenzen, deren pauschale Berücksichtigung zu Gunsten des Betroffenen ja gerade vermeiden soll, dass in jedem Einzelfall der Frage nachgegangen wird, welche Verkehrsfehler sich in welchem Umfang ausgewirkt haben könnten.

Kosten: §§ 46 Abs. 1 OWiG, 473 Abs. 1 S. 1 StPO

Ende der Entscheidung

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