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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Koblenz
Beschluss verkündet am 20.01.2000
Aktenzeichen: 1 Ss 293/99
Rechtsgebiete: StPO, GVG


Vorschriften:

StPO § 329 I
StPO § 346 II
StPO § 349 I
StPO § 260 III
GVG § 121 II
Leitsatz:

Ist die Sachrüge bei Revision gegen ein Verwerfungsurteil nach § 329 I StPO unzulässig?


Geschäftsnummer: 1 Ss 293/99 2080 Js 55572/98 - StA Koblenz

In der Strafsache

gegen

W. D., geboren am 13. Juli 1945 in F.,

- Verteidiger: Rechtsanwalt P. S., wegen Betruges u.a.

hier: Revision des Angeklagten

hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Koblenz durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht von Tzschoppe und die Richter am Oberlandesgericht Völpel und Summa beschlossen:

Tenor:

Gemäß § 121 Abs. 2 GVG wird die Sache dem Bundesgerichtshof zur Entscheidung folgender Rechtsfrage vorgelegt:

Ist die Revision des Angeklagten gegen ein Verwerfungsurteil gemäß § 329 Abs. 1 StPO zulässig, wenn nur die Sachrüge erhoben und behauptet wird, das Amtsgericht habe ein Verfahrenshindernis nicht beachtet, das bereits bei Verkündung des erstinstanzlichen Urteils vorgelegen habe?

Gründe:

I.

Durch Urteil des Amtsgerichts Neuwied vom 25. März 1999 wurde der Angeklagte wegen Betruges zum Nachteil der Zeugin P.-K. in drei Fällen (Tatzeiten: Februar/März 1998) und wegen Urkundenfälschung in vier Fällen (Tatzeiten: September und November 1998) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und vier Monaten verurteilt.

Soweit dem Angeklagten in der zugelassenen Anklage zur Last gelegt worden war, in der Zeit ab Mai 1998 weitere Vermögensdelikte nach den §§ 263, 263 a StGB zum Nachteil der Zeugin begangen zu haben, wurde das Verfahren gemäß § 260 Abs. 3 StPO eingestellt, weil er den Feststellungen des Amtsgerichts zufolge ab April 1998 - nicht aber vorher - mit der Verletzten in häuslicher Gemeinschaft gelebt und sie in der Hauptverhandlung vom 25. März 1999 den nach den §§ 247, 263 Abs. 4, 263 a Abs. 2 StGB zur Strafverfolgung erforderlichen Strafantrag wirksam zurückgenommen hatte (§ 77 d Abs. 1 StGB).

Die Berufung des Angeklagten wurde durch Urteil des Landgerichts Koblenz vom 7. September 1999 gemäß § 329 Abs. 1 StPO verworfen.

Dagegen wendet er sich mit der fristgerecht eingelegten Revision. Er rügt ausschließlich die Verletzung sachlichen Rechts und macht geltend, die Rücknahme des Strafantrages durch die Verletzte habe auch zu einem Strafverfolgungshindernis für die abgeurteilten Taten geführt. Er habe nämlich - abweichend von den Feststellungen des Amtsgerichts - bereits im Februar und März 1998 mit der Zeugin P.-K. in häuslicher Gemeinschaft gelebt.

II.

Der Senat möchte die Revision gemäß § 349 Abs. 1 StPO durch Beschluss als unzulässig verwerfen, weil weder ausdrücklich noch konkludent ein Rechtsfehler bei der Anwendung des § 329 Abs. 1 StPO geltend gemacht wird.

Er sieht sich daran aber durch den Beschluss des 5. Strafsenats des Bundesgerichtshofs vom 6. Juni 1967 (BGHSt 21, 242) und die Rechtsprechung verschiedener Oberlandesgerichte (z.B. OLG Saarbrücken, VRS 44, 190, 192; OLG Stuttgart DAR 64, 46) gehindert. Danach ist von Amts wegen in jeder Lage des Verfahrens - also auch in der Revision gegen ein Verwerfungsurteil nach § 329 Abs. 1 StPO - zu prüfen, ob ein Verfahrenshindernis vorliegt oder eine Verfahrensvoraussetzung fehlt, und zwar unabhängig davon, zu welchem Zeitpunkt das mögliche Strafverfolgungshindernis (im Folgenden kurz: Verfahrenshindernis) entstanden ist.

III.

Nach § 329 Abs. 1 StPO hat das Gericht - von vorliegend nicht zu erörternden Prozesssituationen abgesehen - die Berufung des Angeklagten ohne Verhandlung zur Sache zu verwerfen, wenn er trotz ordnungsgemäßer Ladung der Berufungshauptverhandlung ohne genügende Entschuldigung fernbleibt.

Diese gesetzliche Regelung steht nach Auffassung des Senats der Prüfung, ob ein Verfahrenshindernis vorliegt, zumindest dann entgegen, wenn es bereits bei Verkündung des amtsgerichtlichen Urteils bestanden haben soll. Demzufolge hat in einem solchen Fall das Revisionsgericht - auf entsprechende Verfahrensrüge - nur zu prüfen, ob die gesetzlichen Voraussetzungen des § 329 Abs. 1 StPO rechtsfehlerfrei angenommen worden sind.

1.

Zwar ist grundsätzlich in jeder Lage des Verfahrens zu prüfen, ob ein Verfahrenshindernis vorliegt. Ein solches hat aber nicht ohne weiteres die Wirkung, dass das Verfahren durch Einstellung zu beenden ist. Voraussetzung ist vielmehr, dass das mit dem Verfahren befasste Gericht nach der Konzeption des Rechtsmittelsystems der Strafprozessordnung zu einer Prüfung auch befugt ist.

a) Wird die Revision des Angeklagten gemäß § 346 Abs. 1 StPO als unzulässig verworfen, weil er nach Auffassung des Tatrichters eine Frist- oder Formvorschrift zur Begründung des Rechtsmittels nicht eingehalten hatte, so kann er gemäß § 346 Abs. 2 StPO die Entscheidung des Revisionsgerichts beantragen. Geschieht dies, wird die Sache mit Eingang der Akten dort anhängig. Das Verfahren wird erst durch den den Antrag als unzulässig oder unbegründet verwerfenden Beschluss rechtskräftig abgeschlossen (Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 44. Aufl., § 346 Rdnr. 5 m.w.N.; KK-Kuckein, StPO, 4. Aufl., § 346 Rdnr. 27 m.w.N.). Demzufolge wäre es dem Revisionsgericht an sich möglich, in "jeder Lage des Verfahrens", d.h. auch im Verfahren nach § 346 Abs. 2 StPO, ein vom Tatrichter nicht beachtetes Verfahrenshindernis von Amts wegen zu berücksichtigen, bevor es sich mit der Frage befasst, ob der Tatrichter zu Recht das Rechtsmittel als unzulässig verworfen hat.

b) Mit Beschluss vom 16. Juni 1961 (BGHSt 16, 115) hat der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs - in Abweichung von einer anderslautenden Entscheidung des 4. Strafsenats - entschieden, dass ein unzweifelhaft vorliegendes und vom Tatrichter übersehenes Verfahrenshindernis im Verfahren nach § 346 Abs. 2 StPO unbeachtlich ist: Voraussetzung für die Berücksichtigung eines jeden Rechtsfehlers sei nämlich, dass das Rechtsmittelgericht überhaupt in zulässiger Weise mit der Sache selbst befasst werde. Die ausdrückliche Entscheidung des Gesetzgebers, dass eine nicht ordnungsgemäß begründete Revision unzulässig sei, könne nicht dahin umgedeutet werden, dass sie doch noch insoweit Wirkung äußere, "indem sie wenigstens die Berücksichtigung von übersehenen Verfahrenshindernissen erlaube".

c) Mit Beschluss vom 17. Juli 1968 (BGHSt 23, 213) hat sich der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs dieser Rechtsprechung angeschlossen: Wenn der Gesetzgeber die Nachprüfung einer Entscheidung auf Fehler von bestimmten förmlichen Voraussetzungen abhängig mache und diese nicht erfüllt seien, bleibe das Urteil der Nachprüfung verschlossen. Verfahrenshindernissen komme eine "absolute Bedeutung, die zur Folge hätte, dass sie stets durchschlügen, wenn nur das Verfahren noch anhängig ist", nicht zu.

Der Bundesgerichtshof stellt somit die Prüfung der gesetzlichen Voraussetzungen für die Durchführung des Rechtsmittelverfahrens in der Sache vor die Berücksichtigung eines Verfahrenshindernisses.

d) Mit der Regelung des § 329 Abs. 1 StPO hat der Gesetzgeber aus Gründen der Verfahrensbeschleunigung bewusst in Kauf genommen, dass ein unrichtiges Urteil alleine wegen des unentschuldigten Ausbleibens des Angeklagten rechtskräftig wird (BGHSt 17, 188, 189). Seine Berufung ist selbst dann zu verwerfen, wenn das angefochtene Urteil offensichtlich falsch ist. Das ist die Konsequenz daraus, dass dessen Überprüfung davon abhängt, dass der Angeklagte wenigstens bei Aufruf der Sache anwesend ist. Vor die Verhandlung zur Sache, d.h. vor die Prüfung, ob das angefochtene Urteil der Sach- und Rechtslage entspricht, hat der Gesetzgeber eine Hürde gesetzt, genau so, wie er dies durch die Form- und Fristvorschriften zur Begründung der Revision getan hat.

Von dem berufungsführenden Angeklagten wird nicht erwartet, dass er sein Rechtsmittel begründet. Stattdessen obliegt es ihm, zur Berufungshauptverhandlung zu erscheinen und dadurch zu zeigen, dass er (noch) ein Interesse an der Überprüfung des angefochtenen Urteils hat. Erst dadurch eröffnet er dem Berufungsgericht die Möglichkeit, sich mit der Sache selbst zu befassen. Bleibt er aus, so hat das Gericht nur zu prüfen, ob die Voraussetzungen des § 329 Abs. 1 StPO vorliegen. Jede weitere Prüfung ist ihm verschlossen, weil der unentschuldigt ausgebliebene Angeklagte die dafür gesetzte Hürde nicht genommen hat (Meyer-Goßner, NJW 78, 528).

Ist im Rechtsmittelverfahren eine prozessuale Entscheidung nach § 329 Abs. 1 StPO oder §§ 322 Abs. 1 Satz 1, 346 Abs. 2, 349 Abs. 1 StPO zu treffen, sind in der Vorinstanz begangene Rechtsfehler unbeachtlich. Zu den unbeachtlichen Rechtsfehlern gehört auch die Nichtberücksichtigung eines (möglichen) Verfahrenshindernisses (Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 329 Rdnr. 8; KK-Ruß, § 329 Rdnr. 13). Folglich muss die Prüfungskompetenz des Revisionsgerichts auf Rechtsfehler bei der Anwendung des § 329 Abs. 1 StPO beschränkt sein.

2.

Es ist nach wie vor umstritten, was der die Entscheidung nach § 329 Abs. 1 StPO rechtfertigende Grund ist. Alle dazu vertretenen Auffassungen sprechen aber für die Unbeachtlichkeit eines Verfahrenshindernisses, das bei Verkündung des amtsgerichtlichen Urteils bereits bestanden hatte oder bestanden haben soll.

a) Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat im Beschluss vom 23. November 1960 (BGHSt 15, 287) - unter Bezugnahme auf die Gesetzgebungsmaterialien - ausgeführt, die Regelung beruhe auf der Unterstellung, der unentschuldigt ausgebliebene Berufungsführer verzichte auf eine sachliche Nachprüfung des angefochtenen Urteils. Diese Auffassung führt zu der Konsequenz, dass das Berufungsgericht nur zu prüfen hat, ob die in § 329 Abs. 1 StPO normierten Voraussetzungen dieser Fiktion vorliegen. Wird dies bejaht, ist der Berufungsführer wie ein Angeklagter zu behandeln, der durch Berufungsrücknahme oder -verzicht zu verstehen gegeben hat, dass er an der weiteren Durchführung des Verfahrens im Rechtsmittelzug kein Interesse (mehr) hat.

b) Nach anderer Auffassung steht der Gesichtspunkt der Verwirkung im Vordergrund (KK-Ruß, § 329 Rdnr. 1 m.w.N.). Das Interesse des nicht erschienenen Angeklagten an der Nachprüfung des gegen ihn ergangenen Urteils hat gegenüber dem Recht der Allgemeinheit auf zügige Durchführung des Strafverfahrens zurückzutreten (BGHSt 27, 236, 239). Verhindert der Berufungsführer durch sein schuldhaftes Fernbleiben eine "Verhandlung zur Sache", so muss er ein möglicherweise mit der Rechtsordnung nicht in Einklang stehendes Urteil gegen sich gelten lassen. Ob die Unrichtigkeit des Urteils auf einem Fehler bei der Anwendung des materiellen Rechts oder auf der Nichtbeachtung eines Verfahrenshindernisses beruht, ist unerheblich. Es gibt keinen Rechtsgrundsatz, der besagt, dass ein Fehler bei der Prüfung eines Verfahrenshindernisses schwerer wiegt als die unrichtige Anwendung des sachlichen Rechts (BGHSt 16, 115, 119).

3.

Nach Auffassung des Senats gebietet auch das Streben nach einer möglichst gerechten Entscheidung jedenfalls dann nicht die Berücksichtigung eines Verfahrenshindernisses im Verfahren nach § 329 Abs. 1 StPO oder im anschließenden Revisionsverfahren, wenn die Rechtslage bereits in einem früheren Abschnitt des gerichtlichen Verfahrens hätte geprüft werden können oder - wie vorliegend - bereits geprüft worden ist.

Hat das Amtsgericht den Angeklagten, gegen den ein Strafantrag gestellt worden war, wegen Beleidigung verurteilt, so ist seine Berufung beim Vorliegen der Voraussetzungen des § 329 Abs. 1 StPO auch dann zu verwerfen, wenn sein Verhalten unzweifelhaft eine durch Art. 5 GG gedeckte und somit nicht strafbare Meinungsäußerung war oder wenn sich aus den Feststellungen des Amtsgerichts ergibt, dass es sich um eine vertrauliche und deshalb ebenfalls straflose Äußerung im engsten Familienkreis gehandelt hatte.

Liegt aber offensichtlich eine Beleidigung vor, so soll auf der Grundlage der derzeitigen Rechtsprechung ein nicht fristgerecht gestellter Strafantrag einer Entscheidung nach § 329 Abs. 1 StPO entgegenstehen.

Für diese unterschiedliche Behandlung von Rechtsfehlern gibt es keinen zwingenden sachlichen Grund. Insbesondere ist nicht einzusehen, warum jemand, der keine Straftat begangen hat, im Berufungsverfahren schlechter stehen soll als der Straftäter, für dessen Verurteilung eine bestimmte Handlung eines Dritten notwendig gewesen wäre (siehe Meyer-Goßner, NStZ 94, 402, 403). Von beiden erwartet der Gesetzgeber, dass sie nicht nur Berufung einlegen, sondern auch zur Berufungshauptverhandlung erscheinen. Eine Gleichbehandlung aller, möglicherweise vom Amtsgericht zu Unrecht verurteilten Angeklagten ist nur gewährleistet, wenn die Verwerfung der Berufung ausschließlich vom Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen des § 329 Abs. 1 StPO abhängig gemacht wird.

4.

Die bisherige Rechtsprechung eröffnet dem Angeklagten die sachlich nicht gerechtfertigte Möglichkeit, das Ausbleiben in der Berufungshauptverhandlung als prozesstaktisches Mittel zu missbrauchen.

Das Vorliegen eines Verfahrenshindernisses kann häufig nur auf der Grundlage tatsächlicher Feststellungen zur Schuld geprüft werden, beispielsweise zur subjektiven Tatseite eines Fehlverhaltens im Straßenverkehr (OLG Stuttgart, DAR 64, 46), zu den Tatmodalitäten einer Körperverletzungshandlung oder zu den Absichten eines Täters bei der Begründung einer häuslichen Gemeinschaft (BGHSt 29, 57; StV 89, 91).

Diese Feststellungen hat der Tatrichter im Strengbeweisverfahren zu treffen. Ist das amtsgerichtliche Urteil insoweit lückenhaft, müsste in Anwendung des Zweifelssatzes von der für den Täter günstigsten Alternative ausgegangen werden (OLG Stuttgart, a.a.0.). Dies eröffnet dem Angeklagten, der zunächst ein unbestimmtes Rechtsmittel eingelegt hatte, die Möglichkeit, nach Zustellung und Studium des angefochtenen Urteils die Berufung zu wählen mit dem Ziel, der Berufungshauptverhandlung fernzubleiben, auf diese Weise eine vollständige Sachaufklärung zu verhindern und die Einstellung des Verfahrens anzustreben.

IV.

Die Vorlagefrage ist entscheidungserheblich, weil es von ihrer Beantwortung abhängt, ob die Revision des Angeklagten unzulässig ist und somit unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt Aussicht auf Erfolg hat. Auf der Grundlage der bisherigen Rechtsprechung wäre von einer Zulässigkeit des Rechtsmittels auszugehen und dessen Begründetheit zu prüfen. Selbst dann, wenn eine Revision offensichtlich unbegründet wäre, kann wegen einer nur die Zulässigkeit betreffenden Rechtsfrage vorgelegt werden (KK-Hannich, § 121 GVG Rdnr. 31).

Ende der Entscheidung

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