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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Koblenz
Beschluss verkündet am 08.02.2000
Aktenzeichen: 1 Ss 5/00
Rechtsgebiete: StGB, StPO, ZPO


Vorschriften:

StGB § 46 Abs. 1
StGB § 46 Abs. 3
StGB § 177
StGB § 177 Abs. 2
StPO § 37 Abs. 1
StPO § 274 Satz 1
StPO § 302 Abs. 2
StPO § 317
StPO § 318 Satz 1
StPO § 318 Satz 2
StPO § 344 Abs. 1
ZPO § 212 a
Leitsatz:

1. Nach Ablauf der Berufungsbegründungsfrist bedarf der Verteidiger zur wirksamen Beschränkung der Berufung der ausdrücklichen Ermächtigung durch den Angeklagten gemäß § 302 Abs. 2 StPO.

2. Das Empfangsbekenntnis nach §§ 37 Abs. 1 StPO, 212 a ZPO kann nachträglich erstellt werden. Es wirkt dann auf den Zeitpunkt zurück, in dem der Zustellungsempfänger das zugestellte Schriftstück entgegengenommen hat

(s. auch Senatsbeschluss vom 19.05.1999 - 1 Ss 67/99 zur Beschränkung der Berufung nach Ablauf der Berufungsbegründungsfrist)


Geschäftsnummer: 1 Ss 5/00 3613 Js 13447/99 StA Mainz

In der Strafsache

gegen

W. M. W., geboren am 28. Juni 19... in B., zur Zeit in Untersuchungshaft in der Justizvollzugsanstalt M.,

- Verteidigerin: Rechtsanwältin H. Sch.,

wegen Vergewaltigung

hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Koblenz durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht von Tzschoppe, den Richter am Oberlandesgericht Völpel und die Richterin am Landgericht Hardt am 8. Februar 2000

beschlossen:

Tenor:

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil der 2. kleinen Strafkammer des Landgerichts Mainz vom 9. November 1999 mit den zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere kleine Strafkammer des Landgerichts Mainz zurückverwiesen.

Gründe:

I.

Das Amtsgericht Worms verurteilte den Angeklagten am 14. September 1999 wegen Vergewaltigung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten. Gegen dieses Urteil legte der Angeklagte durch Schriftsatz seiner gerichtlich bestellten Verteidigerin fristgerecht das Rechtsmittel der Berufung ein. Nach Zustellung des schriftlichen Urteils an die Verteidigerin am 8. Oktober 1999 erklärte diese durch am 19. Oktober 1999 bei Gericht eingegangenem Schriftsatz vom 18. Oktober 1999 die Beschränkung des Rechtsmittels auf den Rechtsfolgenausspruch.

Die Strafkammer hat die Berufungsbeschränkung für wirksam erachtet und das Rechtsmittel als unbegründet verworfen.

Dagegen wendet sich der Angeklagte mit der form- und fristgerecht eingelegten Revision. Er rügt die Verletzung formellen und materiellen Rechts.

II.

Das hinsichtlich der Sachrüge zulässige Rechtsmittel hat Erfolg. Die von Amts wegen vorzunehmende Prüfung von Verfahrenshindernissen (Teilrechtskraft) ergibt, dass die Strafkammer zu Unrecht eine Berufungsbeschränkung auf den Strafausspruch angenommen und damit den Umfang des zur Überprüfung stehenden Prozessgegenstandes verkannt hat.

1.

Durch den Schriftsatz der Verteidigerin vom 18. Oktober 1999 ist keine wirksame Beschränkung der Berufung auf den Rechtsfolgenausspruch erfolgt. Es handelte sich nicht um eine Konkretisierung des Rechtsmittels, sondern um eine Teilrücknahme, für die der Verteidiger gemäß § 302 Abs. 2 StPO einer ausdrücklichen Ermächtigung bedarf. Diese hat der Verteidigerin nicht vorgelegen.

a) Mit Schriftsatz vom 7. Februar 2000 hat die Verteidigerin mitgeteilt, dass die Beschränkung der Berufung auf den Rechtsfolgenausspruch nicht mit dem Angeklagten abgesprochen war. Als Pflichtverteidigerin war sie auch nicht mit einer allgemeinen Formularvollmacht ausgestattet, die regelmäßig die Erklärung von Rechtsmittelrücknahme und Rechtsmittelverzicht mitumfasst. Selbst wenn sie vorher Wahlverteidigerin gewesen wäre, würde eine solche Vollmacht nach Niederlegung des Wahlmandats im Zusammenhang mit der Pflichtverteidigerbestellung nicht fortgelten (BGH NStZ 1991, 94; KK-Ruß StPO § 302 Rdnr. 23 m.w.N.).

b) Einer ausdrücklichen Ermächtigung zur Rechtsmittelbeschränkung hätte die Verteidigerin nur dann nicht bedurft, wenn die Beschränkung innerhalb der Berufungsbegründungsfrist nach § 317 StPO erfolgt wäre. In diesem Fall würde es sich bei der Rechtsmittelbeschränkung nicht um eine Teilrücknahme, sondern lediglich um eine nicht den Anforderungen des § 302 Abs. 2 StPO unterliegende Konkretisierung des Rechtsmittels handeln. In der Anfechtungserklärung liegt noch keine Aussage darüber, in welchem Umfang das Urteil angefochten werden soll. Dieser wird erst durch die innerhalb der Rechtsmittelbegründungsfrist nachfolgende Erklärung bestimmt (BGHSt 38, 4 = NJW 1991, 3162; KK-Ruß, StPO, 4. Auflage § 302 Rn. 20 a; Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 44. Aufl., § 302 Rn. 29). Die vorgenannten, vom Bundesgerichtshof für die Revision aufgestellten, Grundsätze gelten auch für die Berufung (Senatsbeschluss vom 19. Mai 1999 - 1 Ss 67/99 -; KK-Ruß, StPO § 318 Rn. 3). Ebenso wie durch die nach § 344 Abs. 1 StPO vom Revisionsführer - allerdings zwingend - abzugebende Erklärung, inwieweit das Urteil angefochten werden soll, hat der Berufungsführer gemäß § 318 Satz 1 StPO die Möglichkeit, in der Berufungsrechtfertigung nach § 317 StPO das Rechtsmittel auf bestimmte Beschwerdepunkte zu beschränken. Geschieht dies nicht oder wird eine Rechtfertigung überhaupt nicht abgegeben, so gilt gemäß § 318 Satz 2 StPO der ganze Inhalt des Urteils als angefochten. Nach Ablauf der Berufungsbegründungsfrist kann das Rechtsmittel deshalb nur noch in der Form der Teilrücknahme nach § 302 StPO beschränkt werden.

c) Die durch Schriftsatz vom 18. Oktober 1999 erklärte Rechtsmittelbeschränkung ist nicht innerhalb der Berufungsbegründungsfrist erfolgt. Gemäß § 317 StPO kann die Berufung binnen einer weiteren Woche nach Ablauf der Frist zur Einlegung des Rechtsmittels oder, wenn zu dieser Zeit das Urteil noch nicht zugestellt war, nach dessen Zustellung bei dem Gericht des ersten Rechtszuges zu Protokoll der Geschäftsstelle oder in einer Beschwerdeschrift gerechtfertigt werden. Das erstinstanzliche Urteil ist der Verteidigerin am 8. Oktober 1999 wirksam zugestellt worden, so dass die Berufungsbegründungsfrist am 15. Oktober 1999 endete.

Mit Verfügung vom 6. Oktober 1999 hatte der Vorsitzende des Schöffengerichts die Zustellung des erstinstanzlichen Urteils an die Verteidigerin gemäß § 37 Abs. 1 StPO, § 212 a ZPO gegen Empfangsbekenntnis veranlasst. Die Verfügung ist ausweislich Bl. 191 b d.A. in den Geschäftsgang gegeben und ausgeführt worden. Das der Verteidigerin mitübersandte Empfangsbekenntnis-Formular ist zwar nicht wieder zu den Akten gelangt. Dies führt jedoch nicht zur Unwirksamkeit der Zustellung mit der Konsequenz, dass die Berufungsbegründungsfrist nicht in Lauf gesetzt worden wäre. Die vereinfachte Zustellung gemäß § 212 a ZPO ist allerdings nur wirksam, wenn der Zustellungsempfänger das vorgeschriebene Empfangsbekenntnis, das mit Datum und Unterschrift versehen sein muss, ausgestellt hat (BGHZ 35, 236, 237). Das Empfangsbekenntnis muss aber nicht bei Empfangnahme ausgestellt werden. Es wirkt, wenn es später ausgestellt wird, auf den Zeitpunkt zurück, in dem der Aussteller das Schriftstück als zugestellt entgegengenommen hat. Die an die Zustellung anknüpfenden Fristen werden daher mit dem Empfang des Schriftstücks als zugestellt in Lauf gesetzt, sofern nur in der Folgezeit ein ordnungsgemäßes Empfangsbekenntnis ausgestellt wird (BGHZ 35, 236, 239 m.w.N.; OLG Köln JurBüro 1980, 1888; BayObLG AnwBl. 1998, 99). Die Verteidigerin des Angeklagten hat auf Anfrage des Senats am 7. Februar 2000 schriftlich erklärt, dass das erstinstanzliche Urteil ihr am 8. Oktober 1999 zugestellt worden sei. Sie hat ferner das Deckblatt des Urteils mit dem entsprechenden Eingangsstempel ihrer Kanzlei vorgelegt. Der Senat kann dieses nachträglich erstellte Empfangsbekenntnis, von dem die Generalstaatsanwaltschaft unterrichtet worden ist, berücksichtigen. Da sich aus ihm das Datum der Entgegennahme des erstinstanzlichen Urteils als zugestellt ergibt und es von der Verteidigerin unterzeichnet ist, erfüllt es alle Erfordernisse eines Empfangsbekenntnisses nach § 212 a ZPO.

2.

Auch eine mündliche Erklärung zu Protokoll in der Berufungshauptverhandlung, das Rechtsmittel beschränken zu wollen, liegt nicht vor. Zwar wäre es ausreichend gewesen, wenn die Verteidigerin in Anwesenheit des Angeklagten gegenüber dem Gericht die Erklärung abgegeben hätte, dass das eingelegte Rechtsmittel teilweise zurückgenommen werde. In einem solchen Fall hätte davon ausgegangen werden können, dass der Angeklagte, wenn er dem nicht widerspricht, diese Erklärung billigt (BGH GA 1968, 68; KK-Ruß, StPO, § 302 Rdnr. 22 m.w.N.). So liegt der Fall jedoch nicht. Ausweislich des Hauptverhandlungsprotokolls hat der Vorsitzende der Strafkammer lediglich auf die - unwirksame - Erklärung der Verteidigerin vom 18. Oktober 1999 (Bl. 198 d.A.) Bezug genommen (Bl. 202 d.A.). Aufgrund der negativen Beweiskraft des Protokolls (§ 274 Satz 1 StPO) muss daher angenommen werden, dass die Verteidigerin ihre zuvor schriftlich erklärte Berufungsbeschränkung in der Hauptverhandlung nicht wiederholt hat.

In der gegebenen Verfahrenslage wäre daher auf die Berufung des Angeklagten über den Verfahrensgegenstand in vollem Umfang zu entscheiden gewesen.

III.

Für die neue Entscheidung sieht der Senat sich im Hinblick auf mehrere, den Strafausspruch betreffende Rechtsfehler des angefochtenen Urteils und das Revisionsvorbringen, das allerdings mit der Aufklärungsrüge hätte geltend gemacht werden müssen, zu folgenden Hinweisen für den Fall veranlasst, dass die Strafkammer erneut zu einem Schuldspruch wegen Vergewaltigung gelangt:

1.

Es verstößt gegen das Doppelverwertungsverbot des § 46 Abs. 3 StGB, wenn dem Angeklagten eigensüchtiges, das Selbstbestimmungsrecht der Frau verletzendes Verhalten im Rahmen der Strafzumessung angelastet wird. Solche Erwägungen decken sich mit den Überlegungen, die den Gesetzgeber veranlasst haben, derartige Taten überhaupt unter Strafandrohung zu stellen (BGHR StGB § 46 Abs. 3 Vergewaltigung 1).

2.

Ebenfalls gegen das Doppelverwertungsverbot verstößt die strafschärfende Berücksichtigung von grobem oder gar "brutalem" (Bl. 13 f. UA) Verhalten, wenn das Maß der körperlichen Zwangswirkung auf das Opfer, wie das hier der Fall ist, im unteren Bereich dessen liegt, was das Gesetz in § 177 StGB als Nötigung mit Gewalt unter Strafe stellt (BGHR StGB § 46 Abs. 3 Vergewaltigung 2 und 3).

3.

Die Annahme einer zusätzlichen "Demütigung" des Opfers (Bl. 13 UA) durch Verwenden vulgärer Bezeichnungen für den Geschlechtsverkehr durch den Täter ist nur dann nicht rechtsfehlerhaft, wenn das Opfer die Äußerung tatsächlich als Demütigung empfunden hat. Dafür ist - insbesondere bei vor der Tat bestehenden sexuellen Beziehungen zwischen Täter und Opfer - der übliche Sprachjargon beider von Bedeutung. Die Aufklärungspflicht gebietet es, den in den Akten enthaltenen Hinweisen nachzugehen, wonach die Geschädigte selbst - und zwar außerhalb ihrer Intimbeziehung - die Begriffe "vögeln" (Bl. 7 d.A.) und "bumsen" (Bl. 163 d.A.) verwendet und es dem in der Beziehung üblichen und von der Zeugin ersichtlich nicht als anstößig empfundenen Umgangston des Angeklagten entsprach, mit den Worten "Lass uns mal ficken" (Bl. 163 d.A.) seine sexuellen Wünsche zu artikulieren. Bei einer solchen Sachlage kann von einer Demütigung des Opfers durch die - festgestellte - Äußerung "komm lass uns doch ein letztes Mal ficken" (Bl. 6 UA), die zudem innerhalb der Strafzumessung des angefochtenen Urteils in einer dem Angeklagten nachteiligen Weise unkorrekt wiedergegeben wird (siehe Bl. 13 UA, wo dem Angeklagten - abweichend von den Feststellungen - die Äußerung zugeschrieben wird, er wolle die Zeugin ficken), schlechterdings nicht ausgegangen werden.

4.

Die grundsätzliche Bereitschaft des Tatopfers zu sexuellen Handlungen gegen Entgelt (vgl. Bl. 163 d.A.) ist regelmäßig ein für die Beurteilung des Schuldgehalts der Tat bestimmender Umstand. Der entscheidende Grund dafür, in diesen Fällen das Verhalten des Täters milder zu beurteilen, besteht darin, dass das Schwergewicht des Tatunrechts nicht in der Verletzung des sexuellen Selbstbestimmungsrechts des Tatopfers als des durch § 177 StGB geschützten Rechtsguts liegt, sondern in der (versuchten) Nötigung und der Körperverletzung, mit deren Hilfe der Täter zum Vollzug der sexuellen Handlung gelangen will (BGH StV 96, 26 f; StV 95, 635). Dieser Gesichtspunkt ist neben dem Bestehen sexueller Beziehungen zwischen Täter und Opfer vor der Tat (vgl. dazu BGH NStZ 82, 26) bei der Abwägung, ob ein Abweichen vom Strafrahmen des § 177 Abs. 2 StGB angezeigt ist, von besonderer Bedeutung.

5.

Der neue Tatrichter wird auch Gelegenheit haben, das Tatmotiv des Angeklagten näher aufzuklären. In dem erstinstanzlichen Urteil ist festgestellt, dass der Angeklagte noch an der Zeugin hing (Bl. 190 d.A.). Es erscheint möglich, dass bei dem Angeklagten nicht sexuelle Triebbefriedigung im Vordergrund stand, sondern die (primitive) Vorstellung, er könne die Frau durch sexuelle Handlungen zurückgewinnen.

6.

Die Urteilsgründe müssen Bedeutung und Gewicht der angeführten Strafzumessungstatsachen für die Bewertung des Unrechts- und Schuldgehalts der Tat klar und nachvollziehbar erkennen lassen. Moralisierende Erwägungen, die nicht verdeutlichen, welcher belastend oder entlastend wirkende Gesichtspunkt angesprochen und in Übereinstimmung mit den anerkannten Grundsätzen der Strafzumessung bewertet wird, sind nicht nur überflüssig, sondern begründen auch die Gefahr einer gefühlsmäßigen, auf unklaren Erwägungen beruhenden Strafzumessung (BGH StGB § 46 Abs. 1 Begründung 2).

Ende der Entscheidung

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