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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Koblenz
Beschluss verkündet am 26.06.2003
Aktenzeichen: 1 Ss 99/03
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 261
1. Die Anforderungen an eine umfassende Würdigung der festgestellten Tatsachen sind beim freisprechenden Urteil nicht geringer als im Fall der Verurteilung. Hat der Tatrichter die zur Verurteilung erforderliche Überzeugung vom Vorliegen eines äußeren oder inneren Tatmerkmals nicht gewonnen, müssen die Urteilsgründe in überprüfbarer Weise belegen, dass er die für die Schuld des Angeklagten sprechenden Beweisergebnisse ebenso wie entgegenstehende in ihrer Bedeutung zutreffend gewertet hat und dass die Anwendung des Zweifelssatzes auf der Grundlage einer umfassenden Gesamtwürdigung dieser Ergebnisse erfolgt ist.

2. Das Vorhandensein aussageinhaltsbezogener Realkennzeichen allein rechtfertigt noch nicht den Schluss, die Aussage sei objektiv wahr. Zwar sind das Erfinden und das wiederholte Reproduzieren eines detailreichen und in sich schlüssigen fiktiven Ereignisses anspruchsvolle geistige Leistungen, zu denen viele Menschen überhaupt nicht in der Lage sind. Es ist aber denkbar, dass ein Mensch mit entsprechenden intellektuellen Fähigkeiten (wie Kreativität und ausgeprägtem Abstraktionsvermögen) sowie Kenntnissen auf dem Gebiet der Glaubhaftigkeitsbeurteilung sich eine "analysefeste" Geschichte ausdenken und auch über einen längeren Zeitraum immer wieder reproduzieren kann.

3. Stütz der Tatrichter einen Freispruch auf die Annahme, ein in der Hauptverhandlung vernommener Zeuge besitze solche Fähigkeiten, muss dies durch Tatsachen belegt werden.

4. Ist der Tatrichter der Auffassung, die Zeugenaussage in der Hauptverhandlung sei (auch) das Ergebnis eines Lernprozesses aus früheren Vernehmungen und deshalb einer Glaubhaftigkeitsprüfung nur eingeschränkt zugänglich, darf er sich nicht darauf beschränken, nur zu erwähnen, dass es frühere inhaltsgleiche Aussagen zum Tatgeschehen gegeben hat. Sie müssen vielmehr dargestellt und in die Gesamtwürdigung einbezogen werden.

5. Die Gesamtwürdigung einer Beweissituation, in der Aussage gegen Aussage steht, bleibt unvollständig, wenn dabei das gesamte Aussageverhalten des bestreitenden Angeklagten nicht mit in die Abwägung einbezogen wird. Dies gilt ungeachtet dessen, dass auch erwiesenermaßen lügnerisches Bestreiten oder eine widerlegte Alibibehauptung allenfalls mit Vorsicht als Belastungsindiz zu verwerten ist


Geschäftsnummer: 1 Ss 99/03 3114 Js 28314/99 StA Mainz

OBERLANDESGERICHT KOBLENZ BESCHLUSS

In der Strafsache

wegen sexueller Nötigung (Vergewaltigung)

hier: Revision der Nebenklägerin K. R.

hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Koblenz in der Sitzung vom 26. Juni 2003, an der teilgenommen haben:

...,

für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Revision der Nebenklägerin wird das Urteil der 2. kleinen Strafkammer des Landgerichts Mainz vom 29. Oktober 2002 mit den Feststellungen aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere kleine Strafkammer desselben Gerichts zurückverwiesen.

Gründe:

I.

Die form- und fristgerecht eingelegte sowie prozessordnungsgemäß mit der Sachrüge - die Aufklärungsrüge entspricht nicht den Anforderungen des § 344 Abs. 2 S. 2 StPO - begründete Revision der Nebenklägerin Kerstin R. richtet sich gegen das Berufungsurteil des Landgerichts Mainz vom 29. Oktober 2002, durch das der Angeklagte unter Aufhebung des ihn schuldig sprechenden Urteils des Amtsgerichts Bingen vom 19. März 2002 vom Vorwurf der sexuellen Nötigung (Vergewaltigung) zum Nachteil der Nebenklägerin freigesprochen wurde.

Das Rechtsmittel hat Erfolg.

II.

Die Nebenklägerin hat - kurz gefasst - ausgesagt, der Angeklagte - ihr früherer Ehemann, von dem sie seit Mitte Oktober 1998 getrennt lebte - habe sie am Abend des 10. Juni 1999 kurz vor Mitternacht in ihrer Wohnung in O. vergewaltigt. Vorausgegangen sei ab etwa 21:30 Uhr ein Gespräch über mit der Trennung zusammenhängende Probleme. Nach diesem Vorfall habe sie bis zum Scheidungstermin im Juli 2000 keinen Kontakt mehr zu ihm gehabt.

Der Angeklagte hat ausgesagt, nach einer Versöhnung mit der Nebenklägerin am 28. Mai 1999 sei es - bis zu einem erneuten Streit Mitte Juli 1999 - mehrmals zum einvernehmlichen Geschlechtsverkehr gekommen. Während dieser Zeit habe es auch gemeinsame Unternehmungen mit seiner geschiedenen Ehefrau und den Kindern gegeben. Am Abend des 10. Juni 1999 sei er allerdings nicht bei ihr in O., sondern bis etwa 23:30 Uhr in einer Pizzeria in Sch. gewesen.

Obwohl die Strafkammer nicht davon überzeugt war, dass der das Alibi bestätigende Zeuge S. die Wahrheit sagte, hat sie den Angeklagten in Anwendung des Zweifelssatzes freigesprochen und - zusammenfassend - dazu ausgeführt:

"Die Aussage der Nebenklägerin konnte die Kammer nicht mit der erforderlichen Sicherheit davon überzeugen, dass es zu der geschilderten Vergewaltigung gekommen ist. Zwar hat ihre Aussage zum engeren Tatgeschehen viele Glaubhaftigkeitsmerkmale erfüllt (Konstanz, Originalität der Schilderung, emotionale Betroffenheit). Die Zuverlässigkeit dieser Beurteilungskriterien für die Einschätzung der Glaubhaftigkeit der Angaben der Nebenklägerin ist allerdings dadurch relativiert worden, dass sich die Aussage im Zuge zahlreicher Befragungen zum gleichen Thema "abgeschliffen" hatte und insofern erschwert zu überprüfen war. Hinzu kommt, dass die Nebenklägerin zum Randgeschehen möglicherweise unrichtige Angaben gemacht hat und auf diesen beharrte. Dies hat Zweifel auch hinsichtlich der Angaben zum Kerngeschehen geweckt."

III.

Spricht der Tatrichter einen Angeklagten frei, weil er (wenn auch nur geringe) Zweifel an seiner Täterschaft nicht überwinden kann, so ist das durch das Revisionsgericht regelmäßig hinzunehmen. Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatrichters. Die revisionsgerichtliche Nachprüfung beschränkt sich darauf, ob dem Tatrichter Rechtsfehler unterlaufen sind. Das ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist. Die Anforderungen an eine umfassende Würdigung der festgestellten Tatsachen sind beim freisprechenden Urteil nicht geringer als im Fall der Verurteilung. Hat der Tatrichter die zur Verurteilung erforderliche Überzeugung vom Vorliegen eines äußeren oder inneren Tatmerkmals nicht gewonnen, müssen die Urteilsgründe in überprüfbarer Weise belegen, dass er die für die Schuld des Angeklagten sprechenden Beweisergebnisse ebenso wie entgegenstehende in ihrer Bedeutung zutreffend gewertet hat und dass die Anwendung des Zweifelssatzes auf der Grundlage einer umfassenden Gesamtwürdigung dieser Ergebnisse erfolgt ist. Schließlich dürfen die Anforderungen an die für eine Verurteilung erforderliche Gewissheit nicht überspannt werden (st.Rspr.; vgl. BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 11, 13, Überzeugungsbildung 25, 33; Urteil vom 24. 10. 01 - 3 StR 309/01; Urteil vom 27. 02. 03 - 5 StR 224/02; Urteil Volksbank28. 01. 03 - 5 StR 378/02).

Diesen Anforderungen wird das angefochtene Urteil nicht gerecht.

1.

Nicht zu beanstanden ist der Ansatz der Strafkammer: Führt die Beweiserhebung zu potentiell entlastenden Indizien - hier: denkbare Falschaussagen der Nebenklägerin zu Ereignissen vor und nach dem 10. Juni 1999 - zu einem non liquet, hat dies nicht zur Folge, dass sie zugunsten des Angeklagten als bewiesen anzusehen wären; vielmehr sind sie mit der ihr zukommenden Ungewissheit in die Gesamtwürdigung des für die unmittelbar entscheidungserhebliche Tatsache gewonnenen Beweisergebnisses einzustellen (BVerfG MDR 1975, 468, 469; BGH NJW 1983, 1865; Urteil Volksbank27. 06. 2001 - 3 StR 136/01).

Zwar ist es hier befremdlich, dass eine Strafkammer bei keinem einzigen von zahlreichen Beweisthemen zu der zweifelsfreien Überzeugung gelangen konnte, ob eine bestimmte Behauptung (des Angeklagten oder der Nebenklägerin) bewiesen oder widerlegt ist. Dies allein ist jedoch kein Rechtsfehler im Sinne des § 337 StPO.

2.

Es ist im Ausgangspunkt nicht zu beanstanden, dass das Landgericht die Überprüfung der Qualität der Zeugenaussage der Nebenklägerin zu einem zentralen Thema seiner Beweiswürdigung gemacht hat. Es stellt grundsätzlich auch keinen Rechtsfehler dar, wenn eine Strafkammer aufgrund eigener Sachkunde die Analyse in Anlehnung an die für aussagepsychologische Gutachten entwickelten Maßstäbe vornimmt (BGH Urteil vom 14. 05. 02 - 1 StR 46/02 in www.hrr-strafrecht.de) und mehrere Realkennzeichen feststellt.

3.

Nicht nachvollziehbar sowie lückenhaft und deshalb rechtsfehlerhaft sind jedoch die Erwägungen, mit denen das Tatgericht die Bedeutung der festgestellten Realkennzeichen relativiert hat.

In den Urteilsgründen heißt es dazu:

"Die Aussage der Zeugin R. war insoweit schwer zu beurteilen, weil sie zu den Anklagevorwürfen bereits vielfach befragt worden ist und weil sie - auch aus einer Vielzahl von Rechtsstreitigkeiten - prozesserfahren ist. Sie kennt die Bedeutung von Daten und originellen Details für die Glaubhaftigkeit von Zeugenaussagen und ist sich dessen sehr bewusst. So hat die Zeugin, wie aus ihrer Befragung deutlich geworden ist, schon in einem frühen Stadium des Verfahrens Daten aufgeschrieben und die Vorgänge zur Tat und ihrer Vorgeschichte chronologisch geordnet. Sie hat sich auch von einigen Zeugen, wie der Zeugin Zier und dem Zeugen Backhaus, schriftliche Bestätigungen für bestimmte Ereignisse geben lassen. Im Laufe des Verfahrens hat die Zeugin die Chronologie der Vorgeschichte des Vorfalls vom 10.6.1999 genau verfolgt und die jeweiligen Ereignisse aus ihrer Sicht zeitlich geordnet.

Einzelne Daten, wie den Besuch des Zeugen Schütz am 28.5.1999 oder das Datum des Meerschweinchenkaufs hat die Zeugin R. aus der Erinnerung rekonstruiert und in ihre Schilderung aufgenommen. Dies alles muss kein Indiz für eine Falschaussage der Zeugin sein. Es belegt allerdings, dass die Zeugin in der Lage ist, eine komplexe Aussage zu ordnen und mit erstaunlich scheinender Präzision auch über einen längeren Zeitraum hinweg wiederzugeben.

Da sie sich bei ihren Angaben an einem präzisen Datenraster orientiert und ihre Aussage insoweit gesteuert hat, kommt dem Glaubhaftigkeitskriterium "Aussagekonstanz" bei der Bewertung der Zuverlässigkeit der Angaben der Nebenklägerin eine geringere Bedeutung zu als bei anderen Zeugen, die ungesteuert aussagen. Bei Zeugen, die ihre Aussage ungesteuert machen, gibt es den Erfahrungssatz, dass diese in der Regel nicht in der Lage sind, über einen langen Zeitraum hinweg eine falsche Aussage aufrechtzuerhalten, weil sie sich in Widersprüche verwickeln. Bei einer Zeugin, die wie die Nebenklägerin wesentliche Erinnerungsdaten fixiert, ist es dagegen kein verlässliches Kriterium für die Glaubhaftigkeit von Angaben, wenn diese über einen langen Zeitraum hinweg konstant wiedergegeben werden können.

Insoweit kommt dem Umstand, dass die Zeugin das Tatgeschehen der behandelnden Psychologin Dr. A., der Polizeibeamtin KOK D. bei einer Spontanäußerung am 13.12.1999, dem Ermittlungsrichter beim Amtsgericht Bingen und dem Gericht erster Instanz konstant geschildert hat, ein geringes Gewicht bei der Aussagewürdigung zu.

Die Aussageentstehung der Angaben der Nebenklägerin zu der Vergewaltigung ist schwer zu beurteilen, weil die erste Zeugin, der sich die Nebenklägerin umfassend anvertraut haben soll, ihre Mutter E. ist. Dieser gegenüber hat die Zeugin R. im August 1999, also etwa neun Wochen nach dem behaupteten Vorfall Angaben zum Tatgeschehen gemacht. Die Zeugin E. hat gegenüber der erkennenden Kammer das Zeugnis verweigert, sodass die Erstaussage der Nebenklägerin zum Tatkomplex nicht beurteilt werden kann.

Gegenüber weiteren Zeugen, wie ihrer Schwester W. und anderen Zeugen aus O. hat die Nebenklägerin nur bruchstückhafte Angaben gemacht, etwa dass ihr Mann handgreiflich geworden sei. Diese Angaben waren wegen ihrer Kürze nicht überprüfbar.

Der Umstand, dass die Nebenklägerin bei der Tatschilderung sowie bei der Vorgeschichte und Nachgeschichte der Tat kein "Schwarz-Weiß-Bild" des Angeklagten gezeichnet, sondern differenzierende Angaben gemacht hat, spricht gegen die Annahme eines Belastungseifers und somit für die Glaubhaftigkeit der Angaben der Nebenklägerin. Andererseits ist nicht zu verkennen, dass die Nebenklägerin dem Angeklagten im Sorgerechtsverfahren vorgeworfen hat, er könne nicht mit den Kindern gut umgehen und dass der erstmals im Rahmen des Sorgerechtsverfahrens im Oktober 1999 aktenkundig gemachte Vergewaltigungsvorwurf eine starke Belastung des Angeklagten darstellt.

Das Glaubwürdigkeitskriterium "emotionale Betroffenheit" erlaubt keine eindeutige Einschätzung der Glaubhaftigkeit der Schilderung der Nebenklägerin. Unzweifelhaft ist allerdings, dass die Zeugin unter einem Leidensdruck steht. Sie machte bei ihrer Vernehmung einen nervösen und fahrigen Eindruck. Nach den glaubhaften Angaben der behandelnden Ärztin Frau Dr. A. hat sie sich auch gegenüber ihr in der seit Oktober 1999 andauernden Behandlung als überängstlich, schnell erregt und emotional belastet gezeigt. Die Nebenklägerin leidet unter Schlaflosigkeit. Diese Umstände könnten Indiz für eine "posttraumatische Belastungsstörung" sein und für ein reales Vergewaltigungserlebnis am 10.6.1999 sprechen. Allerdings ist die emotionale Betroffenheit und Verfassung der Zeugin kein eindeutiges Kriterium für den in Rede stehenden Tatvorwurf. Es gibt verschiedene mögliche Erklärungen für den psychischen Druck, unter dem die Zeugin bei ihren Befragungen durch die Zeugin Dr. A. wie auch bei den Vernehmungen im vorliegenden Strafverfahren stand. Insbesondere sind hier die Belastungen durch die Streitigkeiten im Scheidungs- und Sorgerechtsverfahren sowie die - nachvollziehbare - Angst der Zeugin zu nennen, ihre Kinder zu verlieren. Auch im Fall einer möglichen Falschbelastung des Angeklagten könnte die Zeugin bei ihren Befragungen und Vernehmungen unter psychischem Druck gestanden haben. Das Kriterium der emotionalen Betroffenheit eines Zeugen ist von geringer Aussagekraft, weil es vieldeutig ist."

a)

Richtig daran ist, dass dem zuletzt genannten Glaubhaftigkeitskriterium wegen seiner Ambivalenz regelmäßig eine nur untergeordnete Bedeutung zukommt.

b)

Richtig ist auch, dass das Vorhandensein aussageinhaltsbezogener Realkennzeichen allein noch nicht den Schluss rechtfertigt, die Aussage sei objektiv wahr. Zwar sind das Erfinden und das wiederholte Reproduzieren eines detailreichen und in sich schlüssigen fiktiven Ereignisses anspruchsvolle geistige Leistungen, zu denen viele Menschen überhaupt nicht in der Lage sind. Es ist aber denkbar, dass ein Mensch mit entsprechenden intellektuellen Fähigkeiten (wie Kreativität und ausgeprägtem Abstraktionsvermögen) sowie Kenntnissen auf dem Gebiet der Glaubhaftigkeitsbeurteilung sich eine "analysefeste" Geschichte ausdenken und auch über einen längeren Zeitraum immer wieder reproduzieren kann.

Die dem ersten Teil der vorstehend zitierten Ausführungen zugrundeliegende Annahme, die Zeugin R. besitze solche Fähigkeiten, ist mit den dazu angeführten Umständen nicht zu belegen. Es mag sein (was aber nicht hinreichend dargelegt ist), dass sie "aus einer Vielzahl von Rechtsstreitigkeiten" (vor Zivil-, Verwaltungs- oder Strafgerichten?) "prozesserfahren" ist. Daraus allein kann aber nicht der Schluss gezogen werden, sie wisse um die Bedeutung origineller Details bei der Beurteilung von Zeugenaussagen in einem Strafverfahren. Dass die Zeugin "einzelne Daten, wie den Besuch des Zeugen Schütz am 28.5.1999 oder das Datum des Meerschweinchenkaufs ... aus der Erinnerung rekonstruiert und in ihre Schilderung aufgenommen" hat, belegt allenfalls, dass sie sich - wie viele Zeugen Tag für Tag - bemüht hat, tatsächliche, also gerade nicht fiktive Ereignisse auch chronologisch korrekt zu ordnen und zu schildern, besagt aber nichts über ihre Fähigkeiten als "Lügnerin". Ebenso wenig kommt dem Umstand, dass sie sich von anderen Personen "schriftliche Bestätigungen für bestimmte Ereignisse geben" ließ, eine wesentliche Bedeutung zu, zumal den Urteilsgründen nicht zu entnehmen ist, dass diese Ereignisse in irgendeinem inneren Zusammenhang mit der Schilderung des Vergewaltigungsvorwurfs stehen könnten. Schließlich ist auch nicht nachvollziehbar, warum die Tatsache, dass sich die Zeugin "schon in einem frühen Stadium des Verfahrens" (was immer damit gemeint sein mag) eine chronologische Aufstellung von (nachweislich stattgefundenen oder nur von ihr behaupteten?) Ereignissen um den 10. Juni 1999 gemacht hat, Einfluss auf die Beurteilung der Glaubhaftigkeit ihrer Angaben zu dem Geschehen in ihrer Wohnung am späten Abend des 10. Juni 1999 haben soll. Es ist eine aussagepsychologische Binsenweisheit, dass die meisten Menschen schon nach relativ kurzer Zeit ohne Zuhilfenahme von Kalendern oder fixen Daten (wie Feier- oder Geburtstage) nicht in der Lage sind, selbst ein wichtiges oder unangenehmes Ereignis exakt zu datieren. Es mag sein, dass die Zeugin R. in der Berufungshauptverhandlung nur unter Zuhilfenahme von auf Rekonstruktionen beruhenden Aufzeichnungen in der Lage war, Ereignisse aus ihrer problembelasteten Beziehung zu dem Angeklagten chronologisch geordnet zu schildern; etwas anderes wäre angesichts des Zeitablaufs auch ungewöhnlich. Das lässt aber keine Schlüsse gegen den Wahrheitsgehalts ihrer Angaben zum eigentlichen Tatgeschehen zu. Dass sie sich auch dazu Aufzeichnungen gemacht hätte, ist den oft vage bleibenden Urteilsgründen nicht zu entnehmen; ebenso wenig, dass schriftliche Aufzeichnungen gleich welcher Art in Vernehmungen vor der Berufungshauptverhandlung überhaupt eine Rolle gespielt hätten.

Vor diesem Hintergrund ist auch die Annahme der Kammer unzutreffend, dem Kriterium der Aussagekonstanz komme keine wesentliche Bedeutung zu. Ein "Datenraster" zur zeitlichen Einordnung verschiedener Ereignisse allein stellt die "ungesteuerte" Schilderung der Einzelheiten eines bestimmten Ereignisses nicht in Frage. Soweit die Kammer bemängelt, die Aussage sei durch mehrere Befragungen "abgeschliffen" worden, ist zum einen unklar, was damit gemeint sein soll, zum anderen darauf hinzuweisen, dass die Feststellung von Aussagekonstanz die Existenz mehrerer Vernehmungen zwingend voraussetzt.

Im übrigen hat die Kammer folgendes nicht berücksichtigt: Träfe die Einlassung des Angeklagten zu, wäre die Nebenklägerin das, was man eine "dumme Lügnerin" nennen würde. Es wäre für sie aus aussagepsychologischer Sicht der naheliegendste, weil relativ risikolose Weg gewesen, einen der einvernehmlichen Sexualkontakte, die es nach Angabe des Angeklagten vor und nach dem, aber gerade nicht am 10. Juni 1999 gegeben haben soll, zu einer Vergewaltigung auszuschmücken. Stattdessen hätte sie sich ausgerechnet für die für eine Lügnerin riskanteste - und deshalb unwahrscheinlichste - Variante entschieden: die Festlegung einer angeblichen Tatzeit, zu der der zu Unrecht Beschuldigte an einem anderen Ort war als sie und für die er deshalb ein - möglicherweise unangreifbares - Alibi hätte haben können.

c)

Auch (aber nicht nur) weil die Kammer der Auffassung war, die Aussage der Nebenklägerin in der Berufungshauptverhandlung sei durch zahlreiche Vernehmungen "abgeschliffen" gewesen, hätte sie sich nicht darauf beschränken dürfen, nur zu erwähnen, dass es frühere inhaltsgleiche Aussagen zum Tatgeschehen gegeben hat. Insbesondere die Angaben gegenüber der Psychotherapeutin Dr. A. und der Polizeibeamtin D. - in den Urteilsgründen als "Spontanäußerung" bezeichnet - hätten dargestellt und in die Gesamtwürdigung einbezogen werden müssen. Dies wäre selbst dann nicht entbehrlich gewesen, wenn die Annahme der Strafkammer zur geringen Bedeutung der Aussagekonstanz im konkreten Fall zuträfe, weil die früheren Angaben - gerade solche in einer Spontanäußerung - "ungesteuert" gewesen sein und deshalb für die Prüfung anderer Realkennzeichen (wie beispielsweise logische Konsistenz bei ungeordneter, sprunghafter Darstellung) wichtig sein könnten.

Die Auseinandersetzung mit den früheren Angaben war auch nicht deshalb überflüssig, weil die Erstaussage gegenüber der Mutter nicht mehr rekonstruiert werden konnte. Die Aufklärung der Aussageentstehung dient in erster Linie der Prüfung, ob (potentiell) suggestive Vernehmungsmethoden zum Einsatz kamen, die zu Weichenstellungen in Richtung eines bestimmten, aus Sicht des Zeugen wahren, aber objektiv unzutreffenden Aussageinhalts geführt haben können. Diese Gefahr besteht insbesondere bei einer bedrängenden Befragung von Kindern durch Autoritätspersonen. Die Alternativhypothese einer durch Suggestion hervorgerufenen oder zumindest inhaltlich beeinflussten objektiven Falschaussage der Nebenklägerin erscheint hier aber irrelevant. Nach dem Inhalt der Urteilsgründe gibt es nur 2 Möglichkeiten: Entweder hat der Abgeklagte seine frühere Ehefrau vergewaltigt oder sie sagt bewusst die Unwahrheit.

4.

Auf UA. S. 14 heißt es:

"Aus der Einlassung des Angeklagten waren keine negativen Schlüsse zu ziehen. Soweit er teilweise unterschiedliche Angaben zu Daten gemacht hat, kann dies an der späten Anzeigeerstattung liegen."

Weitere Ausführungen dazu fehlen.

Die Gesamtwürdigung einer Beweissituation, in der Aussage gegen Aussage steht, bleibt unvollständig, wenn dabei das gesamte Aussageverhalten des bestreitenden Angeklagten nicht mit in die Abwägung einbezogen wird. Dies gilt ungeachtet dessen, dass auch erwiesenermaßen lügnerisches Bestreiten oder eine widerlegte Alibibehauptung allenfalls mit Vorsicht als Belastungsindiz zu verwerten ist (BGH Urteil Volksbank21. August 2001 - 5 StR 89/01 m.w.N.).

5.

Abschließend ist anzumerken: Für die auf UA. S. 6 angestellte Mutmaßung der Strafkammer, es könne am Abend des 10. Juni 1999 anlässlich eines überraschenden Besuchs des Angeklagten in O. nach anfänglichem Sträuben der Nebenklägerin zum einvernehmlichen Geschlechtsverkehr gekommen sein, gibt es in dem in den Urteilsgründen dokumentierten Ergebnis der Berufungshauptverhandlung keinen Anhaltspunkt.

Ende der Entscheidung

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