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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Koblenz
Urteil verkündet am 04.10.2000
Aktenzeichen: 1 U 437/99
Rechtsgebiete: BGB, ZPO


Vorschriften:

BGB § 839 Abs. 1
BGB § 276
ZPO § 91
ZPO § 708 Nr. 10
ZPO § 713
Leitsatz:

Zur Verkehrssicherungspflicht und dem Verschuldensvorwurf bei der Verlegung von bereits in mehreren Städten und Bahnhöfen verwendeten geschliffenen und gesäuerten, nicht ausreichend rutschfesten Betonsteinplatten (Edelplatten).


OBERLANDESGERICHT KOBLENZ

IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

Geschäftsnummer: 1 U 437/99 2 O 61/98 LG Bad Kreuznach

Verkündet am 4. Oktober 2000

Justizangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle

in dem Rechtsstreit

wegen Schadensersatzes.

Der 1. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Koblenz hat durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht Kaessner, den Richter am Oberlandesgericht Stein und den Richter am Oberlandesgericht Dr. Giese

auf die mündliche Verhandlung vom 13. September 2000

für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Einzelrichters der 2. Zivilkammer des Landgerichts Bad Kreuznach vom 19. Februar 1999 abgeändert:

Die Klage wird abgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreites fallen dem Kläger zur Last.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Entscheidungsgründe:

I.

Der Kläger nimmt die beklagte Stadt wegen eines Sturzes mit Verletzungsfolgen auf Schmerzensgeld und Schadensersatz in Anspruch. Der Sturz ereignete sich in den Abendstunden des 27. November 1995 in der Fußgängerzone I auf einem regennassen Plattenbelag, auf welchem der Kläger ausrutschte. Die sogenannten Edelplatten hatte die beklagte Stadt kurze Zeit zuvor von einer Firma K AG Betonsteinwerke, bezogen und im Rahmen der Neugestaltung der Fußgängerzone verlegen lassen. Der Kläger hat die Beklagte für den Unfall verantwortlich gemacht, weil sie ihre Verkehrssicherungspflicht durch Verlegung nicht ausreichend rutschsicherer Platten verletzt habe. Die Beklagte ist dem u.a. mit dem Hinweis entgegengetreten, sie habe sich bei der Auswahl der geschliffenen und gesäuerten Platten auf fachmännischen Rat und die Referenzen der Lieferfirma, die quer durch Deutschland und auch in Frankreich gleiche Platten zu ähnlichen Zwecken veräußert habe, verlassen. Sie treffe daher jedenfalls kein Verschulden.

Das Landgericht hat unter Verwendung eines in einem vorangegangenen gleich gelagerten Rechtsstreit (2 O 371/96) eingeholten Gutachtens des Dipl.-Ing. FH D vom 25. September 1996 der Klage in Höhe von 3.021,22 DM (einschließlich Schmerzensgeld) stattgegeben, weil die Beklagte, wie vom Sachverständigen begründet, statt gestrahlter oder bossierter Betonwerksteine in der Fußgängerzone "erkennbar nicht rutschsichere" Platten verlegt habe und daher wegen schuldhafter Amtspflichtverletzung für die unfallbedingten Schadensfolgen eintreten müsse.

Der Senat hat den bei der Firma K angestellten Zeugen Dipl.-Ing. G vernommen. Auf dessen Aussagen (Bl. 148 f GA) wird ebenso wie auf den übrigen Akteninhalt zur weiteren Sachdarstellung Bezug genommen (§ 543 ZPO).

II.

Die zulässige Berufung der beklagten Stadt führt zum Erfolg.

Das angefochtene Urteil kann keinen Bestand haben, weil es dem Gutachten des Sachverständigen D eine nach Lage des Falles unangemessene Bedeutung beimisst, die bei richtiger Betrachtung nach dem Beweisergebnis jedenfalls einen Verschuldensvorwurf nicht trägt.

Als Anspruchsgrundlage für das Schadensersatz- und Schmerzensgeldbegehren des Klägers kommt, wie das Landgericht richtig gesehen hat, § 839 Abs. 1 BGB in Verbindung mit Artikel 34 GG - Amtshaftung - in Betracht, weil die Straßenverkehrssicherungspflicht in Rheinland-Pfalz als eine öffentlich-rechtliche Pflicht ausgestaltet ist und damit Ansprüche nach Amtshaftungsgrundsätzen auslösen kann (§§ 48 Abs. 2, 11 Abs. 1, 14 LStrG Rheinland-Pfalz; BGHZ 60, 54/56). Diese Straßenverkehrssicherungspflicht ist aber nur als Unterfall der allgemeinen Verkehrssicherungspflicht für öffentliche Verkehrsflächen zu verstehen. Sie begründet für den Straßenbaulastträger Schutzpflichten gegenüber Benutzern und Anliegern, wenn diese sich aus der Gefahr und dem Zustand der Straßenflächen ergeben (Kodal-Krämer, Straßenrecht, 5. Auflage, 1995, Kapitel 40, Rn. 45 Seite 1301 m.w.N. und BGH-VersR 1968, 555).

Danach ist der beklagten Stadt eine Verletzung ihrer Verkehrssicherungspflicht im vorliegenden Fall nicht anzulasten.

Es ist schon fraglich, ob die Auswahl und die Verlegung jener nicht sandgestrahlten geschliffenen Betonsteinplatten in der Fußgängerzone von I überhaupt eine Pflichtwidrigkeit darstellt. Wollte man dies annehmen, etwa weil in Fußgängerzonen an die Verkehrssicherungspflicht besonders strenge Anforderungen zu stellen sind (OLG Oldenburg MDR 1986, 411), so fehlt es aber auf jeden Fall am Verschulden der Beklagten, worauf noch einzugehen sein wird.

Wie der mit Amtshaftungssachen und in diesem Rahmen mit Verkehrssicherungspflichtverletzungen ständig befasste Senat wiederholt hervorgehoben hat, ist Grundlage jeder Beurteilung von Vekehrssicherungspflichtverletzungen erst einmal der Verkehrsweg selbst, d.h. dessen Art, Lage, Umfeld und dessen Verkehrsbedeutung. Hierbei und auch für das Ausmaß der Verkehrssicherungspflicht überhaupt spielt die Erwartungshaltung eines Verkehrsteilnehmers eine maßgebliche Rolle, wobei gerade in Fußgängerzonen zu berücksichtigen ist, dass der Fußgänger eine besondere Sicherheit erwartet, weil er durch die Auslagen in den Geschäften abgelenkt sein kann (vgl. OLG Oldenburg a.a.O. sowie OLG Frankfurt NJW-RR 1994, 348 m.w.N. und OLG Schleswig in BADK-Information 1998, 107, 108 m.w.N.).

Wesentliches Beurteilungskriterium ist sodann der Vertrauensschutz. Nach diesem Grundsatz darf der Verkehrssicherungspflichtige darauf vertrauen, dass sich Wegebenutzer verständigerweise auf erkennbare Gefahren einstellen; andererseits sind die Anforderungen an die Verkehrssicherungspflicht höher, je weniger die Gefahr auszumachen ist. Beides gilt freilich nur relativ. Hierbei ist auseinanderzuhalten die Erkennbarkeit einer Gefahr und das Ausmaß der Gefahr, die von der Stelle im Verkehrsweg ausgeht. Eine lange und tiefe Baugrube im Gehweg ist - entsprechende Beleuchtungsverhältnisse vorausgesetzt - von jedermann auf weite Entfernung zu erkennen, eine lockere ("bewegliche") Gehwegplatte aber nicht. Dennoch und weil Leib und Leben eines Menschen beispielsweise durch eine tiefe Baugrube, einen Abhang, einen Abgrund oder Ähnliches wegen der Sturzgefahr erheblich gefährdet sein können, sind Sicherungsmaßnahmen zu ergreifen (Abschrankung, Geländer usw). Die Sichtbarkeit der Gefahrenstelle ist deshalb nur ein relativ zu bewertender Gesichtspunkt in der Gesamtbetrachtung. Ist jedoch die Gefahr, die von einer Stelle ausgeht - für sich gesehen - gering, handelt es sich also um eine "Allerweltsstolperstelle", tritt die Gefahr als solche hinter der Erkennbarkeit der Gefahr mit der Folge erheblich zurück, dass der Verkehrssicherungspflichtige darauf vertrauen darf, Verkehrsteilnehmer würden sich auf die sichtbaren Bodenunebenheit einstellen. Eine ähnliche Betrachtung kann auch in Fällen vorliegender Art gerechtfertigt sein, wenn sich schon bei flüchtigem Hinsehen andeutet, dass wegen der erkennbar glänzender oder glatter Oberflächenbeschaffenheit ein Plattenbelag rutschig sein könnte, nicht etwa nur nach oder bei Schnee und Eis, sondern - wie im Streitfall - nach oder bei Regennässe.

Hinzu kommt ein weiterer, ebenfalls vom Senat ständig vertretener Grundsatz: Die Straßenverkehrssicherungspflicht ist eingebettet in das Korrektiv der tatsächlichen und wirtschaftlichen Zumutbarkeit für den Pflichtigen sowie in den Grundsatz, dass auf den Verkehrssicherungspflichtigen nicht das allgemeine Lebensrisiko abgewälzt werden darf. Insoweit gilt, dass die Eigenverantwortlichkeit des Einzelnen für sich selbst wieder stärkerer Betonung bedarf (vgl. zu der genannten Spruchpraxis u.a. Urteile des Senats vom 12. März 1997 - 1 U 207/96, vom 10. Dezember 1997 - 1 U 114/96, vom 13. Mai 1998 - 1 U 105/97, vom 14. Oktober 1998 - 1 U 591/96, vom 25. November 1998 - 1 U 1730/97, vom 24. März 1999 - 1 U 1436/97 und vom 25. Januar 2000 sowie abgedruckt in OLGR 1997, 311 f und: Peter Schmid "Rechtsprechung im Spannungsfeld zwischen Rechtsgüterschutz, Eigenverantwortung und Leistungsfähigkeit der öffentlichen Hand" in BADK-Information 1999, 42, 43 m.w.N.).

Gemessen an diesen Grundsätzen und der Besonderheit des vorliegenden Falles lässt sich der im angefochtenen Urteil gegen die beklagte Stadt enthaltene Vorwurf einer fahrlässigen Pflichtverletzung nach §§ 839 Abs. 1, 276 BGB nach Vernehmung des Zeugen G in Verbindung mit den von diesem vorgelegten Prospektunterlagen, seinem Schreiben vom 11. Januar 1996 an das Bauamt der beklagten Stadt mit der beigefügten Referenzliste (Bl. 111, 113 und Anlage zu Bl. 149 GA) nicht aufrechterhalten.

Zwar scheinen die gutachterlichen Ausführungen des Sachverständigen D die zweifelsfreie Feststellung zu begründen, dass die in der streitgegenständlichen Fußgängerzone verlegten Platten "nicht ausreichend rutschsicher" und daher ungeeignet seien, weil dieser Plattentyp "Göppingen Nr. 291" nach Meinung des Gutachters nur dann die angestrebte Funktion hinreichend erfülle, wenn er sandgestrahlt worden sei (zur Unterscheidung vgl. die bei dem Gutachten befindlichen Fotos). Auch scheint der Hinweis des Sachverständigen auf die alternativ für Außenbereiche vorgesehene Verwendung von Betonsteinplatten in sandgestrahlter Ausführung (gemäß DIN 18500 Ziffer 2.27) für die Richtigkeit des Ergebnisses des Sachverständigen zu sprechen, wonach die vorliegend verwendeten, nicht sandgestrahlten Betonsteinplatten mangels Rutschfestigkeit unfallursächlich gewesen seien.

Allerdings übersieht der Sachverständige, dass die Firma K bei der sich die Beklagte hat beraten lassen, die in Rede stehenden Edelplatten für den Außenbereich nicht nur in sandgestrahlter Ausführung vorrätig hält, sondern auch als geschliffene und gesäuerte Platten, wie sie die beklagte Stadt nach Besichtigung und Beratung in jeder Firma erworben und schließlich verlegt hat. Nach den unwidersprochen gebliebenen Anlagen des Schriftsatzes der beklagten Stadt vom 28. Juli 1999 (Schreiben des Zeugen G an den zuständigen Vertreter des Bauamtes, vom 11.1.1996 und Referenzliste in Verbindung mit den - glaubhaften - Bekundungen des Zeugen G vor dem Senat) sind aber derartige Plattenbeläge, wie sie die Beklagte verwendet hat, mit gleicher Oberflächenausführung "seit vielen Jahren bei Fußgängerzonen und öffentlichen Plätzen" eingesetzt worden ohne dass der Firma K irgendwelche Beanstandungen bekannt geworden seien. Hierzu hat sich der Senat nach der ergänzenden Aussage des Zeugen anhand der Farbprospekte einen eigenen Eindruck verschafft, insbesondere bezüglich der auf dem IC-Bahnsteig im Hauptbahnhof Karlsruhe, dem Bismarck-Platz in Heidelberg und dem Johannis-Platz in Bühl verlegten Platten. Nimmt man die Referenzliste (die zwar erst 1997, also längere Zeit nach dem streitgegenständlichen Unfall errichtet worden ist) hinzu, so ist jedenfalls nach den Aussagen des Zeugen G deutlich geworden, dass in einer Vielzahl von Städten gerade im Außenbereich die oberflächengeschliffenen, nicht sandgestrahlten Platten zufriedenstellende Verwendung fanden. Einen Teil dieser Platten, nämlich die in der Stadt Bühl verlegten, haben sich nach der Zeugenaussage Vertreter der Beklagten auch vor Bestellung angesehen, nachdem der schließlich getroffenen Auswahlentscheidung eine Kontaktaufnahme mit der Firma Ad am 31. März 1993 und eine Plattenbesichtigung durch eine Delegation der Beklagten am 1. Juni 1993 im Betrieb der Firma K AG Betonsteinwerke vorangegangen waren.

Bei dieser Sachlage gereicht es der Beklagten nicht zum Vorwurf, wenn sie sich den Entscheidungen anderer Kommunen und Stadtgremien angeschlossen und für die Verlegung der geschliffenen und gesäuerten Platten entschieden hat. Es war nach alledem von vornherein nicht erkennbar, dass der Oberflächenbelag, unterstellt man die Richtigkeit der Annahme des Sachverständigen D, nicht rutschsicher war und daher eine Gefahrenquelle darstellen könnte. Dabei sind die Anforderungen an einen Verschuldensvorwurf schließlich auch daran zu messen, was nach allgemeiner Lebenserfahrung jedem Fußgänger bekannt ist: Jede Steinplatte, ob im privaten Garten oder im öffentlichen Straßenbereich verlegt, bietet, wenn sie erkennbar glatt und geschliffen ist, immer ein gewisses Gefahrenmoment, sobald Feuchtigkeit oder Nässe hinzu kommen. Dem muss jeder eigenverantwortliche Nutzer durch entsprechende Vorsicht Rechnung tragen.

Die Würdigung der Verschuldensfrage ändert sich hier auch nicht dadurch, dass außer dem Kläger noch andere Personen in der Anfangszeit nach der Verlegung der Platten in der Fußgängerzone von Idar auf den Platten gestürzt sind, abgesehen davon, dass die vom Kläger mit der Berufungserwiderung vom 13. Januar 2000 vorgelegte Unfallliste (Bl. 134 f Ga) fast ausschließlich Stürze aufführt, die entweder "im Wassergraben" der Fußgängerzone oder bei Schnee- und Eisglätte erfolgten. Ebenso wenig lässt sich für einen Verschuldensvorwurf daraus ableiten, dass die Beklagte sich, möglicherweise auch durch eine gewisse Pressekampagne beeindruckt, im Nachhinein doch noch entschlossen hat, die Platten in der Fußgängerzone nachträglich sandzustrahlen.

Alles in allem erweist sich die Klage als unbegründet. Auf die Berufung der beklagten Stadt hin ist das angefochtene Urteil daher entsprechend abzuändern.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO.

Der Streitwert für das Berufungsverfahren beträgt 3.021,22 DM. Der Kläger ist in gleicher Höhe beschwert.

Ende der Entscheidung

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