Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Koblenz
Beschluss verkündet am 25.06.2003
Aktenzeichen: 1 Ws 387/03
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 455
1. § 455 Abs. 4 Nr. 3 StPO ermöglicht die Fortsetzung der Vollstreckung trotz zwischenzeitlich eingetretener Vollzugsuntauglichkeit im Sinne des Abs. 3 dieser Vorschrift - die bereits dann vorliegt, wenn die nötige ärztliche Behandlung in der Vollzugsanstalt nicht möglich ist (BGHSt 19, 148, 150) -, ist aber keine gesetzliche Grundlage für die Ablehnung eines auf schon bestehende Erkrankungen gestützten Aufschubgesuches.

2. § 455 Abs. 3 StPO folgt dem Gedanken, dass es sowohl in Interesse der Vollzugsanstalt als auch im Interesse der Verurteilten liegen kann, wenn nur Personen die Verbüßung von Freiheitsstrafen antreten, die entweder körperlich gesund sind oder deren körperlichen Erkrankungen mit den einer Vollzugsanstalt zur Verfügung stehenden Mitteln Rechnung getragen werden kann. Einen Strafantritt in einem Vollzugskrankenhaus (oder in einer Vollzugsanstalt zum Zwecke der sofortigen Verlegung in ein [Vollzugs-Krankenhaus) sieht das Gesetz nicht vor.


1 Ws 387/03

OBERLANDESGERICHT KOBLENZ BESCHLUSS

In der Strafvollstreckungssache

wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern

hier: Strafaufschub aus gesundheitlichen Gründen

hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Koblenz durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht von Tzschoppe, den Richter am Oberlandesgericht Summa und die Richterin am Oberlandesgericht Hardt

am 25. Juni 2003 beschlossen:

Tenor:

1. Auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten werden der Bescheid der Staatsanwaltschaft Koblenz vom 4. März 2003 und der Beschluss der 3. Strafkammer des Landgerichts Koblenz vom 15. Mai 2003 aufgehoben.

2. Der Vollstreckungsbehörde wird aufgegeben, über den Antrag des Verurteilten auf Vollstreckungsaufschub unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Senats neu zu entscheiden.

3. Die Staatskasse trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers.

Gründe:

I.

Durch Urteil der 3. großen Strafkammer des Landgerichts Koblenz vom 24. Oktober 2002, rechtskräftig seit dem Tage der Verkündung, wurde der heute 72 Jahre alte Beschwerdeführer wegen mehrfachen sexuellen Missbrauchs eines Kindes zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 3 Jahren verurteilt.

Nach Ladung zum Strafantritt in der Justizvollzugsanstalt Wittlich beantragte er mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 17. Januar 2003 - unter Hinweis auf fachärztlich attestierte, teils bereits diagnostizierte, teils ihrer Symptomatik nach umschriebene neurologische und orthopädische Erkrankungen - Vollstreckungsaufschub gemäß § 455 Abs. 3 StPO.

Mit Bescheid vom 4. März 2003 lehnte die Staatsanwaltschaft, die zuvor ein Hafttauglichkeit bescheinigendes amtsärztliches Gutachten vom 19. Februar 2003 (Bl. 36-38 d.A.) eingeholt hatte, den Antrag ab.

Die Einwendungen des Verurteilten (§ 458 Abs. 2 StPO) hat die Strafkammer - ebenfalls gestützt auf das amtsärztliche Gutachten - mit Beschluss vom 15. Mai 2003 zurückgewiesen: Die gesundheitlichen Beeinträchtigungen seien mit einer den Bedürfnissen des Verurteilten angepassten Haftgestaltung beherrschbar. Den orthopädischen Erkrankungen könne durch "ausreichende Sportmöglichkeit, ggf. Krankengymnastik" begegnet werden. Mit den in § 455 Abs. 4 Nr. 3 StPO aufgeführten Maßnahmen, aber auch durch eine medizinische Betreuung in einem externen Krankenhaus ohne Vollzugsunterbrechung könne selbst den neurologischen Beschwerden wirksam und zumutbar Rechnung getragen werden.

II.

Das hiergegen gerichtete, als sofortige Beschwerde (§ 462 Abs. 3 S. 1 StPO) anzusehende Rechtmittel des Verurteilten hat Erfolg, weil Staatsanwaltschaft und Strafkammer bei Erlass bzw. Überprüfung der nach § 455 Abs. 3 StPO zu treffenden Ermessensentscheidung auf eine unzureichende Tatsachengrundlage einen rechtlich unzutreffenden Beurteilungsmaßstab angewendet haben.

1.

Die Strafprozessordnung unterscheidet scharf zwischen dem Aufschub (§ 455 Abs. 1-3 StPO) einer bevorstehenden und der Unterbrechung (§ 455 Abs. 4 StPO) einer bereits begonnenen Vollstreckung einer Freiheitsstrafe und knüpft diese Maßnahmen, wie sich bereits aus dem Wortlaut des Gesetzes ergibt, im Falle nicht akut lebensgefährlicher körperlicher Erkrankungen an unterschiedliche Voraussetzungen, die nicht miteinander vermengt werden dürfen.

2.

Zwischen beiden Maßnahmen besteht auch ein erheblicher sachlicher Unterschied, der es ausschließt, die Vorschriften über den Aufschub auf die Unterbrechung (oder umgekehrt) entsprechend anzuwenden (LR-Wendisch, StPO, 25. Aufl., § 455 Rdn. 16).

a) § 455 Abs. 4 Nr. 3 StPO folgt dem Grundsatz, dass eine einmal begonnene Strafvollstreckung - auch im Interesse des Verurteilten - konsequent zu Ende geführt werden soll und die Unterbrechung selbst bei schweren körperlichen Erkrankungen nur als letztes Mittel in Betracht kommt. Ist die notwendige medizinische Betreuung in einem Vollzugskrankenhaus möglich, bleibt für eine Unterbrechung kein Raum (OLG Karlsruhe NStZ 91, 53). U. U. kann sogar eine zeitlich befristete und überwachte Verlegung in ein externes Krankenhaus (§§ 461 StPO, 65 Abs. 2 S. 1 StVollzG) vorgehen (KK-Fischer, StPO, 4. Aufl., § 455 Rdn. 13). § 455 Abs. 4 Nr. 3 StPO ermöglicht also die Fortsetzung der Vollstreckung trotz zwischenzeitlich eingetretener Vollzugs-untauglichkeit im Sinne des Abs. 3 dieser Vorschrift - die bereits dann vorliegt, wenn die nötige ärztliche Behandlung in der Vollzugsanstalt nicht möglich ist (BGHSt 19, 148, 150) -, ist aber keine gesetzliche Grundlage für die Ablehnung eines auf schon bestehende Erkrankungen gestützten Aufschubgesuches.

b) § 455 Abs. 3 StPO folgt demgegenüber dem Gedanken, dass es sowohl in Interesse der Vollzugsanstalt als auch im Interesse der Verurteilten liegen kann, wenn nur Personen die Verbüßung von Freiheitsstrafen antreten, die entweder körperlich gesund sind oder deren körperlichen Erkrankungen mit den einer Vollzugsanstalt zur Verfügung stehenden Mitteln Rechnung getragen werden kann. Einen Strafantritt in einem Vollzugskrankenhaus (oder in einer Vollzugsanstalt zum Zwecke der sofortigen Verlegung in ein [Vollzugs-Krankenhaus) sieht das Gesetz nicht vor.

3.

Hier hätte die Staatsanwaltschaft vor Erlass ihrer Entscheidung aufklären müssen, welche konkreten Maßnahmen im Zusammenhang mit den vielfältigen Gesundheitsstörungen des Beschwerdeführers unerlässlich sind und ob sie in der Justizvollzugsanstalt Wittlich (oder einer anderen Vollzugsanstalt) durchgeführt werden können. Bei der auf verlässlicher Tatsachengrundlage zu treffenden Entscheidung wären dann u. U. die mit einer anstaltsinternen medizinischen Betreuung verbundenen Belastungen für alle Beteiligten zu berücksichtigen und mit dem staatlichen Vollstreckungsanspruch abzuwägen gewesen.

Nur der Vollständigkeit halber sei angemerkt, dass bei einem "Vorgealterten" (Attest Bl. 33 d.A.), der heute 72 Jahre alt ist und wahrscheinlich auch unter einer die Psyche beeinträchtigenden hirnorganischen Störung leidet, die vom Amtsarzt ausgesprochene (und von der Strafkammer übernommene) Empfehlung, einer im Raum stehenden Versteifung der Wirbelsäule (Attest Bl. 53 d.A.) solle durch "ausreichende Sportmöglichkeiten" begegnet werden, realitätsfern und wenig hilfreich erscheint. Und ob die ebenfalls empfohlene Krankengymnastik in einer Justizvollzugsanstalt überhaupt durchgeführt werden kann, wäre zunächst einmal aufzuklären gewesen.

4.

Der Senat kann über den Antrag auf Vollstreckungsaufschub entgegen § 309 Abs. 2 StPO nicht abschließend entscheiden. Die Entscheidung steht im Ermessen der Vollstreckungsbehörde und kann gerichtlich nur auf Ermessensfehler überprüft werden (KG NStZ 94, 255). Führt diese Überprüfung wie hier zu der Feststellung, dass das Ermessen aus rechtlichen und/oder tatsächlichen Gründen fehlerhaft ausgeübt wurde, steht es dem Gericht grundsätzlich nicht zu, anstelle der Vollstreckungsbehörde Vollstreckungsaufschub zu gewähren oder zu versagen. Ein Fall, in dem eine ermessensfehlerfreie Entscheidung von vornherein nur einen ganz bestimmten Inhalt haben könnte, liegt nicht vor.

Vorsorglich weist der Senat darauf hin, dass die Entscheidung der Vollstreckungsbehörde eine für das Gericht nachvollziehbare Abwägung aller entscheidungserheblichen Umstände beinhalten muss. Ist dies nicht der Fall, unterliegt sie bereits deshalb der Aufhebung (vgl. OLG Hamm, Beschl. vom 6. 2.01 - 5 Ws 35/01 in: www.burhoff.de).

Ende der Entscheidung

Zurück