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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Koblenz
Beschluss verkündet am 23.10.2000
Aktenzeichen: 1 Ws 579/00
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 120 I 1
StPO § 112 I
StPO § 112 II
Leitsatz:

Gründet sich der dringende Tatverdacht auf das bisherige Beweisergebnis in laufender Hauptverhandlung, beruht die Beurteilung auf der aussagekräftigsten Feststellungsgrundlage, die im gegebenen Verfahrensstadium zu erreichen ist. Es ist jedoch nicht Aufgabe der Strafkammer, in einer Haftentscheidung während laufender Hauptverhandlung eine bereits weit gediehene (hier: bis zum 37. Verhandlungstag) durchgeführte Beweisaufnahme im Einzelnen zu würdigen. Denn die Kammer hat stets darauf zu achten, dass sie mit ihren Zwischenentscheidungen zur Haftfortdauer keine Zweifel an der Unvoreingenommenheit ihrer Mitglieder weckt.


Geschäftsnummer: 1 Ws 579/00 2113 Js 20732/95 - 4 KLs StA Koblenz

In der Strafsache

gegen

A. R.,

- Verteidigerin: Rechtsanwältin S. J. -

wegen Bildung krimineller Vereinigungen u.a.

hier: Gegenvorstellung des Angeklagten

hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Koblenz durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht von Tzschoppe und die Richter am Oberlandesgericht Völpel und Summa

am 23. Oktober 2000 beschlossen:

Tenor:

Die Gegenvorstellung des Angeklagten gegen den Beschluss des Senats vom 18. September 2000 wird als unbegründet zurückgewiesen.

Gründe:

Mit Beschluss vom 18. September 2000 hat der Senat die Beschwerde des Angeklagten gegen den im Hauptverhandlungstermin vom 8. August 2000 verkündeten Haftfortdauerbeschluss der Strafkammer als unbegründet verworfen.

Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner durch seine Verteidigerin im Hauptverhandlungstermin vom 27. September 2000 erklärten Gegenvorstellung. Zur Begründung wird ausgeführt, die Annahme des dringenden Tatverdachts stütze sich gemessen an der Dauer der Untersuchungshaft und dem mit wachsendem Zeitablauf stärker werdenden Freiheitsanspruch des Angeklagten auf eine zu unkonkrete, nicht ausreichend mit Tatsachen belegte Verurteilungsprognose. Außerdem sei die Untersuchungshaft unverhältnismäßig, da die Strafkammer das Hauptverfahren nicht mit der gebotenen Beschleunigung fördere.

Die Einwände geben dem Senat keine Veranlassung, von seiner Entscheidung abzurücken.

1.

Wie in dem angegriffenen Beschluss ausgeführt, gründet sich der dringende Tatverdacht auf das bisherige Beweisergebnis in der Hauptverhandlung, das die Strafkammer bis zum 37. Hauptverhandlungstermin erzielt hat. Die Beurteilung beruht damit auf der aussagekräftigsten Feststellungsgrundlage, die im gegebenen Verfahrensstadium zu erreichen ist. Eine Möglichkeit, den Anklage- und Haftbefehlsvorwurf noch offener, sachnäher und eingehender aufzuklären als durch die von den Grundsätzen der Unmittelbarkeit und Mündlichkeit, der Amtsermittlung und Öffentlichkeit beherrschte Hauptverhandlung steht nicht zur Verfügung.

Dem Angeklagten und seinen Verteidigern ist durch ihre Teilnahme an der Verhandlung das bisherige Beweisergebnis nicht nur genau bekannt, sie konnten es auch selbst durch Ausübung ihres Frage- und Antragsrechts beeinflussen. Allein die Tatsache, dass sie es anders bewerten als das Gericht, begründet nicht die Annahme, der Beurteilung des dringenden Tatverdachts fehle es an einer konkreten und substantiierten Tatsachengrundlage.

Es ist auch nicht Aufgabe der Strafkammer, in einer Haftentscheidung während laufender Hauptverhandlung eine bis zum 37. Hauptverhandlungstermin durchgeführte Beweisaufnahme im Einzelnen zu würdigen. Zur Überzeugungsbildung ist sie erst nach Abschluss der Beweisaufnahme aufgerufen. Bis dahin muss sie bemüht bleiben, die Erkenntnisse aus der Hauptverhandlung als vorläufig zu behandeln und sich von einer verfrühten Einengung auf ein endgültiges Ergebnis freizuhalten. Die Auswertung und Darstellung des Beweisergebnisses kann demgemäß nur überschlägig und schwerpunktmäßig erfolgen. Das hat der Angeklagte - jedenfalls noch im Hauptverhandlungstermin vom 8. August 2000 - nicht anders gesehen. Die in der in diesem Termin verkündeten Haftentscheidung der Kammer vorgenommene, jetzt als unzureichend beanstandete Würdigung des dringenden Tatverdachts hat ihm Anlass gegeben, die beteiligten Richter wegen Besorgnis der Befangenheit abzulehnen. Zur Begründung hat er vorgebracht, die Richter hätten zu erkennen gegeben, dass für sie das Ergebnis der Hauptverhandlung bereits feststünde, obwohl die Beweisaufnahme noch nicht beendet sei. Eine eingehendere Darstellung des vorläufigen Beweisergebnisses hätte das Misstrauen des Angeklagten gegen die Unparteilichkeit der Richter nur noch steigern können. Um so mehr hat die Kammer darauf zu achten, dass sie mit ihren Zwischenentscheidungen zur Haftfortdauer keine Zweifel an der Unvoreingenommenheit ihrer Mitglieder weckt.

2.

Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO) wird mit Fortdauer der Untersuchungshaft nicht verletzt.

Mit Recht wird in der Gegenvorstellung darauf hingewiesen, dass in die Verhältnismäßigkeitsprüfung auch das Beschleunigungsgebot in Haftsachen mit einzubeziehen ist.

Zwar ist dieses in § 120 Abs. 1 Satz 1 StPO nicht ausdrücklich als Kriterium der Verhältnismäßigkeitsprüfung genannt. Verhältnismäßigkeit bei Anordnung und Dauer der Untersuchungshaft, d.h. im Spannungsfeld zwischen dem verfassungsrechtlich verbürgten Recht des Einzelnen auf persönliche Freiheit und den Bedürfnissen einer wirksamen Verbrechensbekämpfung, bedeutet aber auch stets, dass der Eingriff in die Freiheit nur hinzunehmen ist, wenn und soweit der legitime Anspruch der staatlichen Gemeinschaft auf vollständige Aufklärung der Tat und rasche Bestrafung des Täters nicht anders gesichert werden kann als durch vorläufige Inhaftierung des Verdächtigen (BVerfG NStZ 91, 397, 398 m.w.N.). Zur Geltung kommt das Beschleunigungsgebot weiter durch Art. 5 Abs. 3 Satz 2 MRK, wonach der Untersuchungsgefangene einen Anspruch auf Aburteilung innerhalb einer angemessenen Frist oder auf Haftentlassung während des Verfahrens hat.

Mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft gewinnt der Freiheitsanspruch des noch nicht rechtskräftig Verurteilten gegenüber dem Strafverfolgungsinteresse des Staates an Gewicht (vgl. BVerfG a.a.0.). Die Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Untersuchungshaft ist daher unabhängig von der zu erwartenden Strafe auch daran auszurichten, ob der Gang des Strafverfahrens die Anordnung der freiheitsentziehenden Maßnahme noch rechtfertigt (vgl. BVerfGE 20, 45, 49; 20, 144, 148; 53, 152, 158).

Vorliegend ist dazu festzustellen, dass die Untersuchungshaft gegen den Angeklagten zwar schon seit dem 10. September 1997 andauert. Es besteht jedoch weiterhin ein legitimes Strafverfolgungsinteresse des Staates. Wie der Senat in den zurückliegenden Haftprüfungsentscheidungen gemäß § 122 StPO bereits festgestellt hat, ist die Dauer der Haft durch den besonderen Umfang und die Schwierigkeit des Verfahrens bedingt. Dem Angeklagten werden in der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Koblenz vom 31. März 1999 eine Vielzahl verschiedenartiger Straftaten zur Last gelegt. Die ihm u.a. vorgeworfene Beteiligung an der neapolitanischen Camorra, das bandenmäßige Handeltreiben mit Betäubungsmitteln und die bandenmäßige Geldfälschung erfordern die Aufdeckung konspirativer krimineller Verbindungen. Die sich daraus ergebenden Schwierigkeiten in der Beweisführung haben nicht nur die Dauer des Ermittlungsverfahrens beeinflusst, sondern wirken sich auch in der Hauptverhandlung aus. Zur Sachaufklärung ist u.a. die eingehende, auch mehrfache Vernehmung italienischer Zeugen erforderlich, die, wie der Zeuge C., selbst kriminellen Organisationen angehört und erhebliche Straftaten begangen haben. Ihre Glaubwürdigkeit und die Glaubhaftigkeit ihrer Aussagen bedürfen daher genauer Überprüfung. An diesen Besonderheiten gemessen ist die bisherige Dauer der seit dem 4. November 1999 laufenden Hauptverhandlung als vertretbar anzuerkennen, auch wenn die Strafkammer bisher regelmäßig nur einmal in der Woche und dann auch nicht immer ganztägig verhandelt hat. Wie sie auf die Haftbeschwerde des Angeklagten vom 31. August 2000 in ihrem Nichtabhilfebeschluss vom 4. September 2000 klargestellt hat, entsteht durch Ladungen der Zeugen in Italien sowie die Beschaffung ergänzender Beweismittel von den italienischen Ermittlungsbehörden und die damit verbundenen organisatorischen Schwierigkeiten ein erheblicher Bearbeitungsaufwand auch außerhalb der Hauptverhandlung. Hinzu kommt, dass Ersuchen um Überstellung inhaftierter Zeugen (Zeugen B. und C.) durch die italienischen Behörden nicht ausgeführt wurden oder geladene Zeugen im Termin unerwartet nicht erscheinen und eine Aussage zu einem späteren Zeitpunkt in Aussicht stellen (Zeuge E. am 14. Juni 2000, Zeuge C. am 20. Juni 2000). Das führt zu weiteren Verzögerungen der Hauptverhandlung. Dass die Kammer das persönliche Erscheinen der ausländischen Zeugen in der Hauptverhandlung für erforderlich hält und Zeugenvernehmungen im Wege der Rechtshilfe durch italienische Behörden nach Möglichkeit vermeiden will, ist im Interesse der bestmöglichen Sachaufklärung unter dem Gesichtspunkt einer zügigen Verfahrensführung nicht zu beanstanden. Der Senat geht davon aus, dass, sobald die Vernehmung der ausländischen Zeugen abgeschlossen ist bzw. sich deren Unerreichbarkeit herausstellt, die organisatorischen Schwierigkeiten im Wesentlichen überwunden sein werden und die Kammer regelmäßig ganztägige Hauptverhandlungstermine, auch mehrfach wöchentlich, durchführen wird.

Insgesamt betrachtet gewinnt der Freiheitsanspruch des Angeklagten im Vergleich zu dem gerade bei den vorliegenden Tatvorwürfen hohen Interesse der Allgemeinheit an einer wirksamen Strafverfolgung und den Belangen einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege trotz der Dauer der bislang vollzogenen Untersuchungshaft keine überwiegende Bedeutung.

Ende der Entscheidung

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