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Gericht: Oberlandesgericht Koblenz
Beschluss verkündet am 08.01.2001
Aktenzeichen: 1 Ws 718/00
Rechtsgebiete: StPO
Vorschriften:
StPO § 359 Nr. 5 |
1. Das strafrechtliche Wiederaufnahmeverfahren hat die Funktion, den Konflikt zwischen den rechtsstaatlichen Grundsätzen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit zu lösen (BVerfG a.a.0., 43). Dieser Konflikt ist im Falle des Widerrufs eines das rechtskräftige Urteil tragenden Geständnisses bereits im Rahmen der Eignungsprüfung zugunsten der Rechtssicherheit zu lösen, wenn der Verurteilte keine Gründe darlegt, die vernünftige Zweifel an der Wahrheit seines früheren (vom erkennenden Gericht auf Glaubhaftigkeit überprüften) Geständnisses wecken können (Senatsbeschluss vom 29. April 1997 - 1 Ws 146/97 -).
2. Es steht einem Angeklagten zwar grundsätzlich frei, ob er im Hauptverfahren nur ihm bekannte Beweismittel benennt. Das Zurückhalten von Beweismitteln ist noch als zulässiges Prozessverhalten anzusehen. Werden die zurückgehaltenen Beweismittel jedoch später im Wiederaufnahmeverfahren präsentiert, so gehört es zu den Voraussetzungen für die Zulässigkeit des Wiederaufnahmegesuchs, dass die Gründe für die gewählte Prozesstaktik dargelegt werden (vgl. Senatsbeschlüsse vom 29. April 1997 - 1 Ws 146/97 - und vom 4. September 1997 - 1 Ws 525/97 -).
Geschäftsnummer: 1 Ws 718/00 3311 Js 20159/00 - 5 KLs LG Mainz
In der Strafsache
gegen
M. A.,
- Verteidiger: Rechtsanwalt Dr. P. -
wegen sexueller Nötigung und Vergewaltigung
hier: Wiederaufnahmeverfahren
hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Koblenz durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht von Tzschoppe, den Richter am Oberlandesgericht Völpel und den Richter am Landgericht Hardt
am 8. Januar 2001 beschlossen:
Tenor:
Die sofortige Beschwerde des Verurteilten gegen den Beschluss der 5. Strafkammer des Landgerichts Mainz vom 13. Oktober 2000 wird als unbegründet auf seine Kosten (§ 473 Abs. 1 Satz 1 StPO) verworfen.
Gründe:
Die angefochtene Entscheidung entspricht der Sach- und Rechtslage. Das Beschwerdevorbringen kann ein anderes Ergebnis nicht rechtfertigen.
1.
Mit Recht hat die Strafkammer in dem Geständniswiderruf keinen zulässigen Wiederaufnahmegrund gemäß § 359 Nr. 5 StPO gesehen.
a) Zwar ist es dem Wiederaufnahmegericht verfassungsrechtlich verwehrt, im Zulassungsverfahren bei der Eignungsprüfung Beweise zu würdigen und Feststellungen zu treffen, die nach der Struktur des Strafprozesses der Hauptverhandlung vorbehalten sind (BVerfG NStZ 1995, 43, 44). Auch die geständige Einlassung eines Angeklagten gehört zu den Beweisen, die grundsätzlich das erkennende Gericht in der Hauptverhandlung zu prüfen hat. Es ist dem Wiederaufnahmegericht aus verfassungsrechtlicher Sicht jedoch nicht verwehrt, im Rahmen der Eignungsprüfung strenge Maßstäbe anzulegen, wenn der Verurteilte sich zu seinem eigenen früheren Verhalten in Widerspruch setzt und einen Beweis, den das erkennende Gericht bereits geprüft, gewürdigt und für glaubhaft erachtet hat, im Nachhinein "zurücknimmt", um damit einer rechtskräftigen Verurteilung die Grundlage zu entziehen. Die Entscheidung, ob er ein Geständnis ablegt oder nicht, unterliegt allein der Disposition des Angeklagten. Die Rechtskraft eines Urteils würde ebenfalls in die Disposition des Verurteilten gestellt, wenn ein Geständniswiderruf ohne Weiteres als Erschütterung der Urteilsgrundlage angesehen werden müsste. Das Urteil würde praktisch unter der Bedingung eines fortwährend aufrecht erhaltenen Geständnisses stehen (OLG Köln, NStZ 1991, 96, 97 m.w.N.). Das strafrechtliche Wiederaufnahmeverfahren hat die Funktion, den Konflikt zwischen den rechtsstaatlichen Grundsätzen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit zu lösen (BVerfG a.a.0., 43). Dieser Konflikt ist im Falle des Widerrufs eines das rechtskräftige Urteil tragenden Geständnisses bereits im Rahmen der Eignungsprüfung zugunsten der Rechtssicherheit zu lösen, wenn der Verurteilte keine Gründe darlegt, die vernünftige Zweifel an der Wahrheit seines früheren (vom erkennenden Gericht auf Glaubhaftigkeit überprüften) Geständnisses wecken können (Senatsbeschluss vom 29. April 1997 - 1 Ws 146/97 -).
b) Die vorgebrachten Gründe, die den Verurteilten zum Widerruf veranlasst haben sollen, sind nicht geeignet, die Wahrheit seines Geständnisses in der Hauptverhandlung in Zweifel zu ziehen. Insoweit wird zunächst zur Vermeidung von Wiederholungen auf die Begründung des angefochtenen Beschlusses verwiesen.
Ergänzend ist anzumerken, dass das Vorbringen schon aus tatsächlichen Gründen haltlos ist. Die Behauptung des Verurteilten, er habe die Vergewaltigungen und die sexuelle Nötigung nur eingestanden, um aus Scham vor seinen Familienangehörigen, vor allem seiner Ehefrau, insbesondere aber zum Schutz der Geschädigten vor Rachetaten ihres Ehemannes die vorangegangenen - gewaltlosen - sexuellen Beziehungen zu seiner Halbschwester zu verheimlichen, steht im Widerspruch zu dem aus den Verfahrensakten ersichtlichen Ermittlungsergebnis. Dieses ist bei Prüfung der Zulässigkeit des Antrags mitzuberücksichtigen (Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, § 368 Rdnr. 9 m.w.N.). Danach waren die sexuellen Annäherungen des Verurteilten an seine Schwester zum Zeitpunkt seines Geständnisses in der Hauptverhandlung am 27. Mai 1999 sowohl seinen Familienangehörigen als auch dem Ehemann der Geschädigten längst bekannt und in keiner Weise mehr zu verbergen.
So hat der Ehemann, der Zeuge O. K., bei seiner polizeilichen Vernehmung am 22. September 1998 Folgendes ausgesagt:
"Ich habe meine Frau natürlich gefragt, was passiert sei. Sie erzählte mir, dass der M. sie seit Jahren angefasst hätte. Das sei schon losgegangen, als sie acht Jahre alt war. Der M. hätte auch dreimal mit ihr geschlafen, damit meine ich Geschlechtsverkehr. Das muss alles vor der Ehe mit meiner Frau passiert sein. Wann das genau war, weiß ich nicht. Seitdem ich mit meiner Frau verheiratet bin, soll es nicht mehr dazu gekommen sein, dass die beiden, d.h. meine Frau und M., miteinander Geschlechtsverkehr hatten. Nach wie vor sei es aber dazu gekommen, dass er meine Frau sexuell angefasst hat, wenn ich auf der Arbeit war... Meine Frau hat mir in der kurzen Zeit erzählt, dass er oft morgens kurz nach 6.00 Uhr bei uns zu Hause auftauchte, wenn ich gerade aus dem Hause war. Am Montag, dem 21.9.1998, war er auch direkt nach 6.00 Uhr bei uns zu Hause und wollte wieder was Sexuelles von meiner Frau".
Dabei ist der Zeuge keineswegs von gewaltsam erzwungenen Sexualkontakten ausgegangen. Dazu hat er sich in gleicher Vernehmung wie folgt geäußert:
"Mir ist nichts davon bekannt, bis jetzt jedenfalls, dass der M. gegenüber meiner Frau Gewalt angewendet hat".
Die Stiefmutter des Verurteilten und Mutter der Geschädigten, die Zeugin S. A. hat am 30. September 1998 vor der Polizei bekundet:
"Frage:
Wann haben Sie erstmals davon gehört, dass zwischen der R. und M. Dinge passieren, die unter Geschwistern nicht normal sind?
Antwort:
Das war im November 1997.
Frage:
In welchem Zusammenhang?
Antwort:
Meine Tochter hat mir erklärt, dass der M. mit ihr schlafen wollte und er würde sie immer stören. Ich habe ihr daraufhin gesagt, dass sie die Tür nicht aufmachen soll, wenn er kommt. Dies war alles, was in dem November darüber gesprochen wurde.
Im Juni hat R. in die Türkei angerufen. Sie hat gesagt, dass der M. sie die ganze Zeit stört und jeden Tag zur Tür hereinkommt. Da ihr Mann, der O., in die Türkei müsste, wollte sie, dass die E., ihre jüngere Schwester, zu ihr nach Deutschland kommt. Dann ist O. in die Türkei geflogen und E. nach Deutschland".
Der Stiefbruder des Verurteilten hat am 29. September 1998 bei seiner polizeilichen Vernehmung Folgendes ausgesagt:
"Frage:
Wann hast Du denn das erste Mal von diesen Vorwürfen gehört?
Wann ist Dir erstmals etwas bekannt geworden, dass der M. sich an seiner Stiefschwester, also an Deiner Schwester, sexuell vergangen haben soll?
Antwort:
Das war vor ziemlich genau zwei Monaten. Ich war zu diesem Zeitpunkt in der Türkei. Ich lebte dort zu diesem Zeitpunkt bei meinen Eltern. Die R. rief zu Hause bei uns der Türkei an und hatte zunächst meine Mutter am Telefon. Was die R. genau zu meiner Mutter gesagt hat, weiß ich nicht. Ich kam während des Telefonats aber hinzu und konnte hören, was meine Mutter zu der R. gesagt hat. Meine Mutter hat zu der R. gesagt, sie sollte die Tür zulassen und den M. nicht mehr hineinlassen. Nach dem Telefonat habe ich meine Mutter gefragt, was denn los sei. Daraufhin hat meine Mutter gesagt, dass der M. die R. sexuell belästigen würde. Das war bei mir also klar herübergekommen, dass es um sexuelle Sachen ging. Einzelheiten habe ich zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht gekannt und hatte die auch noch nicht gehört. Ich habe aber am gleichen Tag noch meine Schwester R. zurückgerufen und alleine mit ihr gesprochen. Ich habe sie gefragt, was denn los sei. Sie hat sofort angefangen zu heulen. Sie hat gesagt: "Der M. ist schon die ganze Zeit hinter mir her, der lässt mich nicht in Ruhe". Daraufhin sagte ich ihr, dass sie aufpassen sollte und dass sie nicht mit dem M. reden und ihm auch nicht die Tür aufmachen soll"...
Die Behauptung des Verurteilten, er habe das Geständnis in der beschriebenen Verheimlichungsabsicht abgegeben, kann danach nicht zutreffen. Darüber hinaus hätte er sein Geständnis, wollte er damit tatsächlich zum Schutz seiner Halbschwester die alleinige Schuld auf sich nehmen, am oder zeitnah nach dem 22. September 1998 ablegen müssen. Denn an diesem Tag hatte der Ehemann der Geschädigten in seiner Wohnung den Verurteilten bei einer sexuellen Annäherung an seine Ehefrau auf frischer Tat betroffen, ihn zur Rede gestellt und mit einer Wasserflasche niedergeschlagen. Stattdessen hat er die ihm aufgrund der Aussage der Geschädigten nachfolgend im Haftbefehl zur Last gelegten Vergewaltigungstaten bestritten und in seinem schriftlichen Antrag auf Haftprüfung vom 5. Oktober 1998 seiner Halbschwester vorgeworfen, sie habe sich etwas "Absurdes aus den Fingern gesogen, um (ihn) als den Übeltäter dastehen zu lassen." Erst in der Hauptverhandlung am 27. Mai 1999 hat er sich schließlich dazu entschlossen, ein Geständnis abzulegen. Rachetaten des Ehemannes gegen seine Ehefrau wegen der - nach seinem damaligen Kenntnisstand gewaltlosen - sexuellen Kontakte mit ihrem Halbbruder wären mit diesem Prozessverhalten nicht zu verhindern gewesen.
Es kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass der Angeklagte, wie er weiter behauptet, ein Zweckgeständnis abgelegt hat, um einer im Fall des Bestreitens zu erwartenden höheren Freiheitsstrafe, nämlich einer solchen von acht Jahren, zu entgehen. Abgesehen davon, dass es schon vom Grundsatz her wenig wahrscheinlich ist, dass ein Unschuldiger sich mit einem wahrheitswidrigen Geständnis auf eine Verurteilung zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe einlässt, hat für den Verurteilten dazu auch keine Veranlassung bestanden. Denn wie er schon in seinem Haftprüfungsantrag während des Ermittlungsverfahrens angedeutet und jetzt mit seinem Wiedereinsetzungsantrag geltend macht, glaubt er sich im Besitz von Beweismitteln, die seiner Auffassung nach geeignet sind, seine Unschuld und die Unglaubwürdigkeit der Geschädigten zu belegen. Von daher hätte nichts näher gelegen, als die Erhebung dieser Beweise in der Hauptverhandlung zu beantragen, anstatt sich mit einem wahrheitswidrigen Geständnis selbst zu belasten.
2.
Auch mit den in dem Antragsschriftsatz vom 1. August 2000 benannten Beweismitteln lässt sich keine Zulässigkeit des Wiederaufnahmeantrags gemäß § 359 Nr. 5 StPO begründen. Sie sind zwar, da sie in der Hauptverhandlung nicht erhoben worden sind, neu im Sinne der genannten Vorschrift, waren dem Verurteilten jedoch schon zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung vor dem Landgericht Koblenz bekannt. Er hätte sie mit den dazu angegebenen Beweistatsachen ohne Weiteres schon dort benennen können. In einem solchen Fall muss der Verurteilte schon im Zulassungsantrag begründen, aus welchen Gründen die Beweismittel erst jetzt benannt worden sind. Es steht einem Angeklagten zwar grundsätzlich frei, ob er im Hauptverfahren nur ihm bekannte Beweismittel benennt. Das Zurückhalten von Beweismitteln ist noch als zulässiges Prozessverhalten anzusehen. Werden die zurückgehaltenen Beweismittel jedoch später im Wiederaufnahmeverfahren präsentiert, so gehört es zu den Voraussetzungen für die Zulässigkeit des Wiederaufnahmegesuchs, dass die Gründe für die gewählte Prozesstaktik dargelegt werden (vgl. Senatsbeschlüsse vom 29. April 1997 - 1 Ws 146/97 - und vom 4. September 1997 - 1 Ws 525/97 -).
Der Grund, warum der Verurteilte die Beweismittel nicht schon in der Hauptverhandlung benannt hat, liegt ersichtlich in seinem von der Strafkammer für glaubhaft erachteten Geständnis, dass eine weitere Erhebung be- oder entlastender Beweise erübrigt hat. Die nicht beantragte Beweiserhebung und das abgegebene Geständnis sind mithin im Zusammenhang zu sehen. Die nachträgliche Geltendmachung der entlastenden Beweise im Wiederaufnahmeverfahren wäre nur dann erklärbar, wenn der Verurteilte, worauf er sich zuvorderst beruft, in der Hauptverhandlung ein wahrheitswidriges Geständnis abgegeben und dieses nunmehr widerrufen hätte. Das hat er, wie ausgeführt, nicht plausibel darlegen können. Die Unzulänglichkeit der Widerrufsbegründung wirkt sich damit in gleicher Weise auch auf die jetzt im Wiederaufnahmeverfahren beantragte Beweiserhebung aus. Da das Geständnis unerschüttert als Urteilsgrundlage fortbesteht, sind schon nach dem eigenen Vorbringen des Verurteilten die von ihm angeführten Beweismittel ungeeignet, die Möglichkeit einer für ihn günstigeren Verurteilung zu begründen.
Nach alledem hat die Strafkammer den Wiederaufnahmeantrag des Verurteilten mit Recht als unzulässig verworfen.
Ende der Entscheidung
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