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Gericht: Oberlandesgericht Koblenz
Beschluss verkündet am 16.10.2003
Aktenzeichen: 1 Ws 735/03
Rechtsgebiete: StGB, StPO
Vorschriften:
StGB § 67 e | |
StPO § 454 I 3 | |
StPO § 454 II 3 | |
StPO § 454 II 7 | |
StPO § 463 II |
2. Ausnahmefälle sind denkbar, wenn dem persönlichen Eindruck unter Berücksichtigung der nachrangigen Bedeutung der Sache und der nicht erheblichen Schwierigkeit der Entscheidung nur geringe Bedeutung zukommt, insbesondere wenn erst kurz zuvor eine Anhörung durch alle zur Entscheidung berufenen Richter stattgefunden hat, oder die örtlichen Verhältnisse eine Anhörung durch die gesamte Kammer nachhaltig erschweren.
3. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz stößt bei langjähriger Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus dort an Grenzen, wo es im Blick auf die Art der von dem Untergebrachten drohenden Taten, deren Bedeutung und Wahrscheinlichkeit vor dem staatlichen Schutzauftrag für die Rechtsgüter des Einzelnen und der Allgemeinheit unvertretbar erscheint, den Untergebrachten in die Freiheit zu entlassen.
Geschäftsnummer: 1 Ws 735/03 3081 VRs 16877/81 StA Mainz
OBERLANDESGERICHT KOBLENZ BESCHLUSS
In der Strafvollstreckungssache
wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern u.a. hier: Fortdauer der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus
hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Koblenz durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht von Tzschoppe, den Richter am Oberlandesgericht Völpel und die Richterin am Oberlandesgericht Hardt
am 16. Oktober 2003 beschlossen:
Tenor:
Auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten wird der Beschluss der 8. Strafkammer - Strafvollstreckungskammer - des Landgerichts Mainz vom 14. August 2003 aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Mainz zurückverwiesen.
Gründe:
I.
Das Landgericht hat den am 21. Oktober 1981 in Untersuchungshaft genommenen Untergebrachten am 27. April 1982 wegen homosexueller Handlungen in zwei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch eines Kindes, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten verurteilt. Gleichzeitig hat es gemäß § 63 StGB seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Seit dem 25. Mai 1982 befindet er sich im Maßregelvollzug in der Rheinhessen-Fachklinik Alzey. Am 18. Dezember 2000 wurde er mit Genehmigung der Staatsanwaltschaft von der forensischen Abteilung in die auf dem Klinikgelände befindliche Heimeinrichtung "Haus Mehlberg" verlegt.
Am 27. Januar 2003 hat die Strafvollstreckungskammer den Verurteilten - wie auch bei allen früheren Gelegenheiten - in voller Besetzung angehört, mit Beschluss vom selben Tag unter Bestimmung neuen Prüfungstermins auf spätestens den 26. August 2003 die Fortdauer der Unterbringung angeordnet und die Einholung eines (erneuten) externen Sachverständigengutachtens beschlossen.
Nach Eingang des schriftlichen Gutachtens von Prof. Dr. Glatzel vom 20. Mai 2003 (Bl. 469 ff d.A.) und des Berichts des Oberarztes S. der forensischen Abteilung der Rheinhessen-Fachklinik Alzey vom 22. Juli 2003 (Bl. 439 ff d.A.) hat die Strafvollstreckungskammer am 8. August 2003 Termin zur Anhörung des Untergebrachten und des Oberarztes S. auf den 14. August 2003 bestimmt. Mit Beschluss vom 14. August 2003 hat sie die Anhörung dem stellvertretenden Vorsitzenden als beauftragtem Richter übertragen (Bl. 450 d.A.). Sie ist am selben Tag durchgeführt worden. Noch vor dem Termin hatte die Staatsanwaltschaft auf die mündliche Anhörung des externen Sachverständigen verzichtet (Bl. 450 R d.A.). In dem über die Anhörung gefertigten Protokoll ist u.a. folgendes aufgenommen:
"Die Rechtsanwältin F. erklärte:
Auf die mündliche Erläuterung des Gutachtens vom 20.05.2003 durch den Sachverständigen Prof. Dr. G. werde verzichtet."
Mit Beschluss vom 14. August 2003 hat die große Strafvollstreckungskammer die Fortdauer der Unterbringung des Verurteilten in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet.
Dagegen wendet sich der Verurteilte mit seiner fristgerecht eingelegten sofortigen Beschwerde. Er ist der Auffassung, seine weitere Unterbringung sei nach über 20-jähriger Vollzugsdauer unverhältnismäßig. Außerdem rügt er die Durchführung der Anhörung durch den beauftragten Richter.
II.
Der zulässigen Beschwerde kann ein zumindest vorläufiger Erfolg nicht versagt werden. Die angefochtene Entscheidung leidet an einem wesentlichen Verfahrensfehler.
1.
Es kann allerdings offen bleiben, ob die Strafvollstreckungskammer gegen § 454 Abs. 2 S. 3 i.V.m. § 463 Abs. 3 S. 2 StPO verstoßen hat.
Die Strafvollstreckungskammer hat ein externes psychiatrisches Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. G. zu der Frage eingeholt, ob bei dem Verurteilten keine Gefahr mehr besteht, dass dessen durch die Tat zu Tage getretene Gefährlichkeit fortbesteht.
Wird ein Sachverständigengutachten eingeholt, auf welches sich die Entscheidung - wie hier - wesentlich stützt (S. 3 des angefochtenen Beschlusses), ist die mündliche Anhörung des Sachverständigen gemäß § 454 Abs. 2 S. 3 StPO vorgeschrieben. Den Verfahrensbeteiligten ist die Möglichkeit zu geben, das Gutachten eingehend zu diskutieren und das Votum des Sachverständigen zu hinterfragen (Senat, Beschluss vom 4. Januar 2001 - 1 Ws 809/00 - unter Hinweis auf BT-Drucks. 13/9092, S. 14). Diese Anhörung hat die Strafvollstreckungskammer nicht durchgeführt.
Gemäß § 454 Abs. 2 S. 7 StPO kann das Gericht von der mündlichen Anhörung absehen, wenn der Verurteilte, sein Verteidiger und die Staatsanwaltschaft darauf verzichten. Ein Verzicht aller Verfahrensbeteiligten auf die Erörterung des Gutachtens des externen Sachverständigen ist den Akten nicht eindeutig zu entnehmen. Danach lag zwar ein Verzicht der Staatsanwaltschaft und der Verteidigerin vor. Ob auch der Verurteilte im Anhörungstermin vom 14. August 2003 auf die mündliche Erläuterung des Gutachtens des externen Sachverständigen verzichtet hat, ergibt sich aus der (nicht zwingend erforderlichen und deshalb auch nicht an strenge Form- und Inhaltsvorschriften gebundenen) Niederschrift über den Anhörungstermin nicht. Die Strafvollstreckungskammer hat in der angefochtenen Entscheidung allerdings ausdrücklich ausgeführt, dass "die Beteiligten" auf die mündliche Erläuterung dieses Gutachtens verzichtet hätten (Bl. 456 d.A.). Der näheren Aufklärung, ob auch der Verurteilte selbst tatsächlich verzichtet hat, bedarf es jedoch nicht, weil die angefochtene Entscheidung wegen eines anderen Verfahrensfehlers zumindest vorläufig kein Bestand haben kann.
2.
Dieser Verfahrensfehler liegt darin begründet, dass die Strafvollstreckungskammer die Anhörung des Verurteilten und des Sachverständigen S. nur durch den stellvertretenden Vorsitzenden als beauftragten Richter und nicht in voller Besetzung durchgeführt hat. Der Senat hält an seiner Rechtsprechung fest, dass die für die Entscheidung über die Fortdauer der Unterbringung gemäß § 67 e StGB erforderliche mündliche Anhörung des Untergebrachten nach §§ 463 Abs. 3 S. 1, 454 Abs. 1 S. 3 StPO im Regelfall durch die Strafvollstreckungskammer in ihrer Gesamtheit und nicht nur von einem Kammermitglied als beauftragtem Richter durchzuführen ist (vgl. Senat, Beschlüsse vom 20. April 1982 - 1 Ws 211/82 - und 9. Mai 1984 - 1 Ws 314/84 -, Leitsätze in www.jurisweb.de; s. ausführlich OLG Düsseldorf, 4. Strafsenat, NStZ-RR 2002, 191 = StV 2002, 493 (LS); NJW 2002, 3963 = OLGSt StPO § 358 Nr. 2; OLG Rostock NStZ 2002, 109; OLG Karlsruhe MDR 1983, 363; einschränkend OLG Frankfurt NStZ-RR 1997, 29; a.A. Hans.OLG Hamburg NStZ 2003, 389; OLG Düsseldorf, 2. Strafsenat, Beschluss vom 15. März 2001 - 2 Ws 66/01 - in www.jurisweb.de = OLGSt StPO 454 Nr. 15). Dass der Gesetzgeber gerade für derartige Überprüfungsentscheidungen die Besetzung der Strafvollstreckungskammer mit drei Berufsrichtern angeordnet hat, beruht auf der von ihm für diese Fälle angenommenen besonderen Schwierigkeit (OLG Düsseldorf NStZ-RR 2002, 191), die auch konkret für den hier vorliegenden Fall gilt. Ausnahmefälle sind denkbar, wenn dem persönlichen Eindruck unter Berücksichtigung der nachrangigen Bedeutung der Sache und der nicht erheblichen Schwierigkeit der Entscheidung nur geringe Bedeutung zukommt, insbesondere wenn erst kurz zuvor eine Anhörung durch alle zur Entscheidung berufenen Richter stattgefunden hat, oder die örtlichen Verhältnisse eine Anhörung durch die gesamte Kammer nachhaltig erschweren (OLG Düsseldorf, 4. Strafsenat a.a.O.; vgl. Senat, Beschluss vom 9. Mai 1984 - 1 Ws 314/84 -; vgl. auch BGHSt 28, 138). Entsprechendes gilt für die gemäß §§ 463 Abs. 3 S. 2, 454 Abs. 2 S. 3 StPO mündlich durchzuführende Anhörung des oder der Sachverständigen.
Von einer nachrangigen Bedeutung der Sache kann angesichts einer Unterbringungsdauer von bereits mehr als 21 Jahren zzgl. Untersuchungshaft nicht ausgegangen werden. Deshalb käme die Zulässigkeit der Anhörung durch den beauftragten Richter allenfalls dann in Betracht, wenn alle zur Entscheidung berufenen Richter sich in der nahen Vergangenheit einen unmittelbaren Eindruck von dem Untergebrachten verschafft hätten. Ob ein Zeitabstand von acht Monaten hier noch als "zeitnah" zu beurteilen wäre, kann offen bleiben. Dies wäre nur dann von Bedeutung, wenn die Anhörung und Beschlussfassung vom selben Spruchkörper in derselben Kammerbesetzung durchgeführt worden wären. Das war hier aber nicht der Fall. Die von der gesamten Kammer am 27. Januar 2003 durchgeführte Anhörung wurde durch den Vorsitzenden Richter am Landgericht Kern und die Richter am Landgericht Dr. Wiesemann und Poetsch durchgeführt. Die angefochtene Entscheidung hingegen wurde von den Richtern am Landgericht Dr. W., P. und W. getroffen. Letzterer hat sich zu keinem Zeitpunkt einen persönlichen Eindruck von dem Verurteilten verschaffen und das Gutachten des Sachverständigen S. hinterfragen können.
Die Sache ist deshalb entgegen der Regel des § 309 Abs. 2 StPO an die Strafvollstreckungskammer zur Nachholung der Anhörung des Untergebrachten und des bzw. (falls nicht alle Verfahrensbeteiligten verzichten sollten) der Sachverständigen durch die gesamte Kammer und zur neuen Entscheidung über die Fortdauer der Unterbringung zurückzuverweisen.
III.
Für das weitere Verfahren weist der Senat auf folgendes hin:
Nach Aktenlage - vorbehaltlich weiterer Erkenntnisse durch die Anhörung des Verurteilten und des bzw. der Sachverständigen - liegt nach Auffassung des Senats hier einer der Fälle vor, in denen der - gewiss nachhaltige - Einfluss des bereits sehr gewichtig gewordenen Freiheitsanspruchs dort an Grenzen stößt, wo es im Blick auf die Art der von dem Untergebrachten drohenden Taten, deren Bedeutung (s. dazu Gutachten Prof. Dr. G. vom 20. Mai 2003, S. 6) und Wahrscheinlichkeit vor dem staatlichen Schutzauftrag für die Rechtsgüter des Einzelnen und der Allgemeinheit unvertretbar erscheint, den Untergebrachten in die Freiheit zu entlassen (s. Senatsbeschluss vom 23. Dezember 1999 - 1 Ws 671/99 - S. 13 [Bl. 262 d.A. unter Hinweis auf BVerfGE 70, 297, 315). Durch die Reform des Sexualstrafrechts hat der Gesetzgeber die hohe Gewichtung entsprechender Rechtsgutverletzungen zum Ausdruck gebracht (Senat a.a.O.). Nach heutigem Recht wäre die zum Nachteil des zur Tatzeit 12 Jahre alten H.-U. E. begangene fortgesetzte Tat als Verbrechen des schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes gemäß § 176 a Abs. 1 Nr. 4 StGB n.F. zu werten, weil die Verurteilung vom 7. Juli 1977 vor der neuen, in der Zeit von Juni 1980 bis Oktober 1981 begangenen Tat noch keine fünf Jahre zurücklag. Der Strafrahmen, der nach neuem Recht 15 Jahre im Höchstmaß beträgt, gibt nur einen Anhalt bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit. Die Strafrahmen sind aber nicht allein bestimmend. Denn anders als die Freiheitsstrafe verfolgt die keiner Höchstfrist unterliegende Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus den Zweck, die Allgemeinheit vor Schuldunfähigen bzw. in ihrer Schuldunfähigkeit erheblich verminderten Straftätern so lange zu schützen, wie von ihnen aufgrund ihres Zustandes die Gefahr erheblicher rechtswidriger Taten ausgeht.
Ende der Entscheidung
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