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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Koblenz
Urteil verkündet am 20.10.2000
Aktenzeichen: 10 U 1521/99
Rechtsgebiete: AUB 88


Vorschriften:

AUB 88 § 7 IV (1) (V) 1
AUB 88 § 8
Will der Versicherer wegen Vorerkrankungen (Adipositas permagna (Fettsucht) mit Zwerchfellhochstand und obstruktive Atemwegserkrankung) eine Kürzung des Krankenhaustage- und Genesungsgeldes vornehmen, ist er dafür beweispflichtig, dass sich der Heilungserfolg des Patienten hierdurch verzögert hat, insbesondere ohne diese Gegebenheiten zu einem früheren Zeitpunkt eine erfolgversprechende operative Behandlung möglich gewesen wäre.
OBERLANDESGERICHT KOBLENZ IM NAMEN DES VOLKES Urteil - abgekürzt gemäß § 543 Abs. 1 ZPO -

10 U 1521/99

Verkündet am: 20. Oktober 2000

in dem Rechtsstreit

Der 10. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Koblenz hat durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht Werner und die Richter am Oberlandesgericht Weiss und Dr. Reinert auf die mündliche Verhandlung vom 22. September 2000

für Recht erkannt:

Tenor:

1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil der 5. Zivilkammer des Landgerichts Koblenz vom 20. August 1999 wird zurückgewiesen.

Auf die Anschlussberufung des Klägers wird das vorbezeichnete Urteil teilweise neugefasst und wie folgt abgeändert:

Die Beklagte wird verurteilt, an die S. Bank eG, 10.556,-- DM nebst 7 % Zinsen hieraus seit dem 22. September 1997 zu zahlen. Die weitergehende Klage wird abgewiesen.

2. Die Beklagte hat die Kosten beider Rechtszüge zu tragen.

3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist nicht begründet. Die Anschlussberufung ist begründet.

I.

Der Kläger nimmt die Beklagte aus einer Unfallversicherung (AUB 88) auf Zahlung von Krankenhaustagegeld und Genesungsgeld in Anspruch. Da die Ansprüche an die S. Bank M. abgetreten sind, begehrt er Zahlung an die Zessionarin.

Der an Adipositas permagna (Fettsucht) mit Zwechfellhochstand leidende Kläger (1,65 m groß, 118 kg schwer) erlitt am 6.2.1996 einen Unfall. Der Kläger hatte sich fernsehend im Bett befunden und war beim Versuch, das Fernsehgerät auszuschalten, nach links aus dem Bett gefallen. Er zog sich dabei eine Rippenserienfraktur der Rippen 8, 9 und 10 dorsal mit Hämathorax links und eine Brustwandinstabilität mit Brustwandhernie zu, was nicht sofort erkannt wurde. Der Kläger befand sich in der Zeit vom 09.02.1996 bis 22.2.1996, 5.3.1996 bis 23.3.1996, 28.3.1996 bis 9.4.1996 und 18.4.1996 bis 29.4.1996 im L-Krankenhaus in A. in stationärer Behandlung. Für diese Zeit zahlte die Beklagte an den Kläger pro Tag 182 DM Krankenhaustagegeld, insgesamt 10.556 und 10.556 DM Genesungsgeld, mithin zusammen 21.112 DM.

Die Beklagte vertrat die Auffassung, dass die Vorerkrankungen Auswirkungen auf das Krankheitsbild und den Heilungsverlauf der Thoraxwandhernie hatten. Gestützt auf ein Gutachten der T-Klinik Heidelberg (Prof. Dr. Sch.) vom 18.11.1996 (GA 8-19) kürzte sie die geltend gemachte Invaliditätsentschädigung um 50 % und forderte im Wege der Verrechnung ebenfalls 50 % des ihrer Auffassung nach überzahlten Krankenhaustage- und Genesungsgeldes in Höhe von 10.555,-- DM zurück. Die Parteien streiten in diesem Rechtsstreit ausschließlich darüber, ob die Kürzung des Krankenhaustage- und Genesungsgeldes um 50 % berechtigt ist. Die Frage, in welcher Höhe dem Kläger ein Anspruch auf Invaliditätsentschädigung zusteht, ist nicht Gegenstand dieses Rechtsstreits.

Das Landgericht hat die Beklagte unter Kürzung des Zinsanspruchs antragsgemäß verurteilt. Hiergegen wendet sich die Beklagte mit ihrer form- und fristgerecht eingelegten Berufung. Mit der Anschlussberufung erstrebt der Kläger eine höhere Verzinsung des ausgeurteilten Betrages.

II.

Die Berufung der Beklagten hat keinen Erfolg.

1) Das Landgericht hat zu Recht der Klage entsprochen. Der Senat nimmt zur Vermeidung von Wiederholungen auf Tatbestand und die zutreffenden Ausführungen in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils Bezug (§ 543 Abs. 1 ZPO). Das Berufungsvorbringen gibt zu einer abweichenden Beurteilung keine Veranlassung.

a) Dem Kläger steht gemäß § 7 IV (1) und (V) (1) AUB 88 Krankenhaustage- und Genesungsgeld in der geltend gemachten Höhe zu. Haben Krankheiten oder Gebrechen bei der durch ein Unfallereignis hervorgerufenen Gesundheitsschädigung oder deren Folgen mitgewirkt, so ist die Leistung entsprechend dem Anteil der Krankheit oder des Gebrechens zu kürzen, wenn dieser Anteil mindestens 25 Prozent beträgt (§ 8 AUB 88). Entgegen der Auffassung der Berufung liegen diese Voraussetzungen, für welche die Beklagte in vollem Umfange beweispflichtig ist, zur Überzeugung des Senats nicht vor.

b) Zutreffend geht das Landgericht aufgrund des Gutachtens des gerichtlichen Sachverständigen Prof. Dr. C. vom 30.6.1998 (GA 71) sowie den ergänzenden Stellungnahmen vom 5.11.1998 (GA 90) und 19.4.1999 (GA 131) und der Anhörung im Termin davon aus, dass bei dem Kläger weder eine Lungenhernie noch eine Bauchwandhernie (Rectusdiastasen), sondern eine Thoraxwandhernie (Brustwandhernie) vorgelegen hat. Dies wird auch durch das Operationsgutachten von Prof. Dr. H., Klinik der A-L-Universität Freiburg vom 7.10.1998 (GA 92) bestätigt. Entsprechend den Ausführungen von Prof. Dr. C. versteht man unter einer Lungenhernie eine Verwölbung der Lunge in einen intrathorakalen Raum, in der Regel durch das sog. Mediastinum. Bei der Thoraxwandhernie (Brustwandhernie) werde hingegen die Muskulatur des Brustkorbes gedehnt bzw. überdehnt. Voraussetzung sei in der Regel, dass die darunter liegenden Rippen frakturiert seien bzw. sich eine sog. Pseudoarthrose ausgebildet habe. In diese Ausdehnung der Brustwandmuskulatur folge das Rippenfell und folge die Lunge. Druckunterschiede im Brustkorb würden über die Lunge direkt an die Außenwand übertragen und könnten so durch Einziehung und Verwölbung der Hernie sichtbar werden. Druckerhöhungen im Brustkorb wie beim Husten könnten die Hernie hervorwölben, seien aber für das ursächliche Entstehen der Hernie nicht verantwortlich. Klinisches Faktum sei, dass Brustwandhernien im Gegensatz zu Bauchwandhernien (Rectusdiastasen) weder bei adipösen Patienten noch bei Rauchern gesehen werden, sondern nur als Folge von Rippenbrüchen entstünden, meist mit Pseudo-Arthrosenbildung oder Operationen im Thoraxbereich. Druckerhöhungen im Bauchraum infolge einer Adipositas permagna mit Zwechfellhochstand könnten auf die Hernierung an der Thoraxwand keinen Einfluss haben, weil bei einem erhöhten Druck im Bauchraum das Zwerchfell höher trete und die Lunge aufgrund ihrer Elastizität sich zusammenziehe und sich die Druckschwankungen auf die Brustwand nicht auswirkten. Prof. Dr. C. hat in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 19.4.1999 dargelegt, dass eine vorhandene Übergewichtigkeit oder ein Nikotinabusus sich auf eine Brustwandhernie, anders als bei einer Bauchwandhernie, nicht auswirken könne.

c) Die Berufung greift diese Feststellungen ohne Erfolg mit der Begründung an, es liege keine Brustwandhernie, sondern eine Lungenhernie vor. Die Berufung stützt sich dabei auf das vorgerichtliche Gutachten von Prof. Dr. Sch., T-Klinik Heidelberg (Anlage K 3, GA 8ff.) sowie den vom Kläger selbst vorgelegten radiologischen Befund Dr. H. vom 16.9.1998, der aufgrund eines CT-Befundes eine posttraumatische Lungenhernie bestätigt habe. Prof. Dr. Sch. sei entgegen der Auffassung des gerichtlichen Sachverständigen Prof. Dr. C. zu der Oberzeugung gelangt, dass die Brustwandinstabilität mit Lungenhernie links lateral nicht ausschließlich Folge des Unfalls vom 6.2.1996 sei. Vielmehr hätten die bestehenden Vorerkrankungen, zu der neben der Adipositas permagna mit Zwechfellhochstand noch eine chronische Bronchitis aufgrund Nikotinabusus hinzukomme, zu der wesentlichen Ausbildung der Lungenhernie beigetragen. Dies rechtfertige die Einholung eines Obergutachtens. Die Berufung bezieht sich ferner zur Stützung ihres Vortrages erstmals auf ein im Berufungsverfahren vorgelegtes Privatgutachten des Internisten und Facharztes für Lungen- und Bronchialheilkunde Dr. G. vom 30.11.1998 (GA 185ff.).

d) Die Argumentation der Berufung überzeugt nicht. Aufgrund des Operationsgutachtens von Prof. Dr. H., Klinik der A-L-Universität F. vom 7.10.1998 (GA 92) steht zwischenzeitlich fest, dass keine Lungenhernie und auch keine Bauchwandhernie, sondern eine Thoraxwandhernie vorliegt. Auch das von der Berufung vorgelegte Privatgutachten Dr. G. vom 30.11.1998 geht aufgrund der von Prof. Sch. beschriebenen CT-Befunden diagnostisch gesichert von einer Thoraxwandhernie aus. Dr. G. führt hierzu aus, dass die Ausführungen von Professor Dr. C. zur Entstehung einer Thoraxwandhernie bzw. einer Lungenhernie zutreffend seien und nicht anwaltlich angezweifelt werden sollten (Seite 6 des Gutachtens GA 190).

2) Die Kernfrage ist deshalb ausschließlich darauf zu konzentrieren, ob der adipositasbedingte Zwechfellhochstand und eine etwaige obstruktive Atemwegserkrankung (hier strittig) sich hinderlich auf den Heilungserfolg ausgewirkt haben und ohne diese zu einem früheren Zeitpunkt eine erfolgversprechende operative Behandlung, u. a. auch durch früheres Erkennen der drei Rippenfrakturen, möglich gewesen wäre. Wie bereits ausgeführt, ist für das Vorliegen der Voraussetzungen des § 8 AUB 88 die Beklagte beweispflichtig. Es mag hier offen bleiben, ob die bei einer Größe von 1,65 m und einem Gewicht von 118 kg bestehende Adipositas permagna bereits als Krankheit (regelwidriger Körperzustand, der ärztlicher Behandlung bedarf, vgl. Prölss/Knappmann, VVG Kommentar, 26. Aufl. § 8 AUB 88 Rn. 3) oder, wie die Berufungserwiderung meint, als ein in der Gesellschaft verbreiteter und sich verbreitender Zustand anzusehen ist (GA 205). Von einem Gebrechen, d. h. einem dauernden abnormen Gesundheitszustand, der eine einwandfreie Ausübung normaler Körperfunktionen (teilweise) nicht mehr zulässt, wird man nicht ausgehen können (Prölss/Knappmann, aaO). Aufgrund der vorliegenden Gutachten ist der Senat nicht zu der im Sinne von § 286 ZPO gesicherten Überzeugung gelangt, dass sich der Heilungserfolg des Klägers durch die körperlichen Gegebenheiten entscheidend verzögert hat bzw. Jedenfalls ohne diese Begleitumstände sich die stationären Behandlungen in der Zeit vom 09.02.1996 bis 22.2.1996, 5.3.1996 bis 23.3.1996, 28.3.1996 bis 9.4.1996 und 18.4.1996 bis 29.4.1996 teilweise erübrigt bzw. verkürzt hätten.

a) Prof. Dr. Sch. räumt in seinem Gutachten vom 18.11.1996 (S. 22/23 GA 18/19), auf das sich die Berufung bezieht, selbst ein, dass wissenschaftlich keine gesicherten Daten vorliegen, die geeignet seien, darzulegen, in welchem prozentualen Umfang diese Erkrankungen an der Entstehung von Unfallfolgen beteiligt waren. Er gehe aufgrund von Erfahrungswerten davon aus, dass unfallunabhängige Erkrankungen wie Adipositas permagna und chronische Bronchitis zu mindestens 50 % an der Entstehung von Unfallfolgen beteiligt seien. Auch nach Auffassung des Privatgutachters Dr. G. kann nicht sicher gesagt werden, wie sich der adipositasbedingte Zwechfellhochstand und die (streitige) obstruktive Atemwegserkrankung auf den Heilungserfolg negativ ausgewirkt haben. Seiner Auffassung nach sei die Adipositas permagna ein Grund für die verzögerte Diagnostik gewesen. Dr. G. meint, ein sicherer Zusammenhang lasse sich aber zwischen den Vorerkrankungen und dem ausbleibenden Heilungserfolg bezüglich einer operativen Sanierung herstellen. Zu einem solchen ja nicht sehr großen Eingriff hätte man sich mit hoher Wahrscheinlichkeit bereits nach Nachweis der Hernierung entschlossen, wenn nicht die Vorerkrankung Adipositas, Diabetes und obstruktive Atemwegserkrankung das Narkoserisiko als zu groß hätten erscheinen lassen.

b) Dem steht entgegen, dass bei einer Rippenfraktur eine Operation nicht stets geboten ist, sondern in der Praxis teilweise auch eine konservative Behandlung erfolgt. Entscheidend gegen die Annahme, es sei gesichert davon auszugehen, dass ohne das Vorhandensein einer Adipositas permagna und einer Atemwegserkrankung die Krankenhausaufenthalte von Februar bis April 1996 nicht nötig gewesen seien, spricht, dass die letztlich am 2.10.1998 durchgeführte Operation nicht zu dem gewünschten Heilungserfolg beigetragen hat und am 13.12.1999 eine weitere Operation erforderlich machte. Selbst wenn im Jahre 1996 das Vorhandensein von drei Rippenbrüchen sofort erkannt und eine Operation vorgenommen worden wäre, bliebe in Kenntnis der tatsächlich beim Kläger eingetretenen Komplikationen völlig offen, wie sich die Dinge gestaltet hätten. Bezeichnenderweise führt Dr. G. in seinem Schreiben an die Beklagte vom 3.11.1999 (Anlage BB 3 GA 196) hierzu aus: "Es lässt sich natürlich trefflich darüber streiten, wie eine Sache weiter gegangen wäre, wenn nicht...Eine völlig sichere Aussage zu einem Krankheitsverlauf lässt sich nie machen."

c) Im übrigen hat Prof. Dr. C. in seinen Gutachten, Stellungnahmen und im Rahmen seiner Anhörung vor dem Landgericht nachvollziehbar dargelegt, dass aufgrund der Befunde bei dem Kläger nicht von einer chronisch obstruktiven Atemwegserkrankung und einer chronischen Bronchitis ausgegangen werden könne, da die beim Kläger festgestellten Lungenfunktionswerte normal seien. Im übrigen weist der Sachverständige zutreffend darauf hin, dass auch nicht von einem Nikotinabusus gesprochen werden könne, da der Kläger bereits 1970, d. h. 26 Jahre vor dem Unfallereignis mit Rauchen aufgehört habe. Der Kläger sei auf seine Diabetes mellitus gut bis befriedigend eingestellt gewesen. Schließlich verwies der Sachverständige Prof. Dr. C. auf den Umstand, dass bei einem normalgewichtigen Verunfallten die Verletzungsfolgen wegen der fehlenden Pufferung durch das Fett noch umfangreicher hätten ausfallen können.

Da die gutachterlichen Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. C. in sich nachvollziehbar und überzeugend sind, erachtet der Senat die Einholung eines Obergutachtens gemäß § 412 ZPO für nicht erforderlich.

Die Berufung war aus den dargelegten Gründen zurückzuweisen.

III.

Die Anschlussberufung hat Erfolg. Die Parteien haben in der mündlichen Verhandlung vom 22.9.2000 einen Zinssatz von 7 % unstreitig gestellt.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 91, 97 Abs. 1 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO.

Der Wert des Streitgegenstandes für den Berufungsrechtszug und die Höhe der Beschwer der Beklagten wird auf 10.566,-- DM festgesetzt.

Ende der Entscheidung

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