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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Koblenz
Beschluss verkündet am 11.02.2003
Aktenzeichen: 2 Ws 10/03
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 140 II
Die Schwere der Tat nach § 140 II StPO bestimmt sich vor allem nach der zu erwartenden Rechtsfolgenentscheidung. Bei wertender Gesamtbetrachtung sind dabei auch mittelbare Nachteile wie der Widerruf einer Strafaussetzung in anderer Sache zu berücksichtigen (anders Beschluss des 1. Strafsenats des OLG Koblenz vom 11.5.99 ­1 Ss 365/98­)
2 Ws 10/03 3532 Js 6211/02 ­ 6 Ds ­ 2 Ns ­ StA Mainz

OBERLANDESGERICHT KOBLENZ BESCHLUSS

In der Strafsache

wegen Diebstahls

hier: Beiordnung eines Pflichtverteidigers

hat der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Koblenz durch die Vorsitzende Richterin am Oberlandesgericht Krumscheid, den Richter am Oberlandesgericht Pott und den Richter am Amtsgericht Steinhauser

am 11. Februar 2003 beschlossen:

Tenor:

Auf die Beschwerde der Angeklagten wird der Beschluss des Vorsitzenden der 2. Strafkammer des Landgerichts M. vom 28. November 2002 aufgehoben.

Der Angeklagten wird auf ihren Antrag Rechtsanwalt Ernst F. in B. als Verteidiger beigeordnet.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die der Angeklagten dieserhalb entstandenen notwendigen Auslagen werden der Staatskasse auferlegt.

Gründe:

Der Strafrichter des Amtsgerichts B. hat die bereits mehrfach vorbestrafte Angeklagte am 31. Juli 2002 wegen Diebstahls geringwertiger Sachen (Ladendiebstahl) zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt, deren Vollstreckung er zur Bewährung ausgesetzt hat. Gegen das Urteil hat die Staatsanwaltschaft M. Berufung eingelegt, mit der sie unter Beschränkung auf den Rechtsfolgenausspruch den Wegfall der Strafaussetzung erstrebt. Mit Schriftsatz vom 25. Oktober 2002 hat sich Rechtsanwalt Ernst F. aus B. für die Angeklagte bestellt und um Beiordnung als Pflichtverteidiger gebeten. Mit Beschluss vom 28. November 2002 hat der Vorsitzende der für die Durchführung des Berufungsverfahrens zuständigen 2. Strafkammer des Landgerichts M. den Antrag zurückgewiesen. Hiergegen hat die Angeklagte Beschwerde eingelegt, der der Strafkammervorsitzende unter dem 20. Dezember 2002 nicht abgeholfen hat.

Das Rechtsmittel ist zulässig. Insbesondere steht ihm nach ständiger Rechtsprechung des Senats nicht die Ausschlusswirkung des § 305 S. 1 StPO entgegen, da der angefochtene Beschluss außerhalb der Hauptverhandlung ergangen ist (vgl. Beschluss des Senats vom 23. Februar 2001 ­ 2 Ws 122/01 ­).

Die Beschwerde hat auch in der Sache Erfolg. Der Strafkammervorsitzende hat den Begriff der "Schwere der Tat" in § 140 Abs. 2 StPO verkannt. Zwar besteht weitgehend Übereinstimmung dahin, dass die Schwere der Tat, die sich vor allem nach der zu erwartenden Rechtsfolgenentscheidung beurteilt, in der Regel erst dann Anlass zur Beiordnung eines Verteidigers gibt, wenn mit der Verhängung einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und darüber zu rechnen ist. Die vom Amtsgericht verhängte, in der Höhe dem Antrag der Staatsanwaltschaft entsprechende und von ihr nicht angegriffene Freiheitsstrafe lag mit sechs Monaten deutlich darunter. Indes besteht insoweit keine starre Grenze. Vielmehr bedarf es einer wertenden Gesamtbetrachtung, in die auch schwerwiegende mittelbare Nachteile wie etwa der drohende Widerruf einer Bewährung in anderer Sache mit einzubeziehen sind (vgl. OLG Düsseldorf in VRS 89, 367, 368; BayObLGSt 1995, 56).

So liegt der Fall hier. Die Angeklagte wurde am 19. Dezember 2000 ­ rechtskräftig seit demselben Tage ­ durch das Amtsgericht I.­O. ebenfalls wegen Diebstahls zu einer Freiheitsstrafe von fünf Monaten verurteilt, deren Vollstreckung auf die Dauer von vier Jahren zur Bewährung ausgesetzt wurde. Da nach dem von den Verfahrensbeteiligten nicht angegriffenen Schuldspruch des erstinstanzlichen Urteils Tatzeit in vorliegender Sache der 13. Februar 2002 ist, hat die Angeklagte sich als Bewährungsversagerin erwiesen. Ob sie demzufolge mit dem Widerruf der Strafaussetzung (§ 56 f Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StGB) und somit mit absehbaren, für sie schwerwiegenden weiteren Folgen zu rechnen hat, hängt wesentlich davon ab, ob es in vorliegender Sache bei der Aussetzung der Strafvollstreckung verbleiben oder ob die Staatsanwaltschaft mit ihrer Berufung Erfolg haben wird. Wird nämlich wegen einer neuen, in der Bewährungszeit begangenen Tat gleichwohl noch einmal Strafaussetzung gewährt, kommt ein Widerruf angesichts der sach­ und zeitnäheren Prognose des zuletzt entscheidend Tatrichters nur in Ausnahmefällen in Betracht (vgl. Tröndle/Fischer, StGB, 51. Auflage, § 56 f Rdn. 8 a). Die darin liegende Auswirkung der in vorliegender Sache zu treffenden Rechtsfolgenentscheidung verleiht ihr das in § 140 Abs. 2 StPO vorausgesetzte Gewicht und macht nach Auffassung des Senats die Mitwirkung eines Verteidigers in der Berufungshauptverhandlung erforderlich (vgl. OLG Frankfurt/Main in StV 1995, 628, 629).

Nach alledem war der angefochtene Beschluss aufzuheben. Da bei der gegebenen Sachlage nur die Beiordnung eines Pflichtverteidigers in Betracht kommt, ist eine Ermessensreduzierung auf Null eingetreten, so dass der Angeklagten ­ auch dann, wenn eine nur beschränkte Überprüfbarkeit der angefochtenen Entscheidung und eine nur eingeschränkte Entscheidungskompetenz des Beschwerdegerichts bejaht wird ­ dem Antrag der Generalstaatsanwaltschaft entsprechend vom Senat ein Pflichtverteidiger zu bestellen war (vgl. OLG Frankfurt/Main a.a.O., 630). Nach Sachlage bestand keine Veranlassung, einen anderen als den bisherigen, im Bezirk des Landgerichts M. zugelassenen (§ 142 Abs. 1 S. 1 StPO) Wahlverteidiger beizuordnen, dessen Wahlmandat mit der Beiordnung endet (vgl. OLG Düsseldorf in NStE 1988, Nr. 3 zu § 142 StPO sowie in NStE 1991, Nr. 7 zu § 142 StPO).

Ergänzend bleibt anzumerken, dass die Staatsanwaltschaft entgegen ihrer ablehnenden Stellungnahme vom 26. November 2002 (Bl. 84 R d.A.) in der Anklageschrift vom 28. März 2002 selbst noch die Bestellung eines Pflichtverteidigers beantragt hatte. Warum diese in erster Instanz unterblieben ist, obgleich das Amtsgericht der Angeklagten mit Schreiben vom 4. April 2002 Gelegenheit zur Benennung eines Rechtsanwalts gegeben (Bl. 12 d.A.) und lt. Protokoll in der Hauptverhandlung am 26. Juni 2002, in der die Angeklagte ausgeblieben war, die Beiordnung eines (namentlich nicht benannten) Pflichtverteidigers für den neu zu bestimmenden Hauptverhandlungstermin beschlossen hatte, erschließt sich dem Senat anhand der Akten nicht.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 467 StPO (vgl. Meyer­Goßner, a.a.O., § 473 Rdn. 2).

Ende der Entscheidung

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