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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Koblenz
Urteil verkündet am 11.06.1999
Aktenzeichen: 8 U 1495/98
Rechtsgebiete: BGB, ZPO


Vorschriften:

BGB § 823
BGB § 847
ZPO § 543 Abs. 1
ZPO § 295
ZPO § 355
ZPO § 539
ZPO § 447
ZPO § 448
ZPO § 92 Abs. 1
ZPO § 708 Nr. 10
ZPO § 713
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
OLG Koblenz Urteil 11.06.1999 - 8 U 1495/98 - 2 O 4/97 LG Koblenz

Der 8. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Koblenz hat durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht Hölzer, die Richterin am Oberlandesgericht Krumscheid und den Richter am Landgericht Schwarz auf die mündliche Verhandlung vom 21. Mai 1999 für Recht erkannt:

Tenor:

I. Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil der 2. Zivilkammer des Landgerichts Koblenz vom 21. Juli 1998 teilweise abgeändert und wie folgt neu gefasst:

1. Unter Abweisung der Klage im Übrigen wird der Beklagte verurteilt, an die Klägerin 15.000 DM nebst 4 % Zinsen seit dem 24. Februar 1997 zu zahlen.

2. Die weitergehende Berufung des Beklagten wird zurückgewiesen.

II. Die Anschlussberufung der Klägerin wird zurückgewiesen.

III. Von den Kosten des Rechtsstreits haben zu tragen: Die Klägerin 2/5 und der Beklagte 3/5.

IV. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Die Klägerin begehrt von dem Beklagten, einem Facharzt für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie, wegen dessen kieferchirurgischer Behandlung am 2. und 8. August 1994 Schmerzensgeld mit der Behauptung, die Operation des Weisheitszahnes 48 sei fehlerhaft gewesen, weshalb es zur Schädigung des Nervus lingualis gekommen sei. Jedenfalls habe der Beklagte es verabsäumt, sie auf das Risiko der Nervenschädigung auch bei ordnungsgemäßer Operation hinzuweisen.

Das Landgericht hat der Klage nach Beweisaufnahmen durch einen "beauftragten Richter" stattgegeben.

Hiergegen wendet sich der Beklagte mit der Berufung, mit der er insbesondere eine fehlerhafte Verfahrensweise des Landgerichts rügt. Die Klägerin hat sich der Berufung mit dem Begehren eines höheren Schmerzensgeldbetrages angeschlossen.

Beide Parteien wiederholen ihren erstinstanzlichen Vortrag und ergänzen ihn.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf das angefochtene Urteil sowie auf die zu den Akten gereichten Schriftsätze und Urkunden verwiesen.

I. Die Berufung des Beklagten hat zum Teil Erfolg.

Die Klägerin hat gegen den Beklagten einen Anspruch auf Schmerzensgeld in Höhe von 15.000 DM gemäß §§ 823, 847 BGB. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf die zum Grunde des Anspruchs zutreffenden Gründe des angefochtenen Urteils Bezug genommen, denen der Senat folgt, § 543 Abs. 1 ZPO.

Eine Aufhebung der Entscheidung mit dem zugrunde liegenden Verfahren und eine Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Landgericht Koblenz kommt nicht in Betracht, da zwar die Beweisaufnahme durch den beauftragten Richter fehlerhaft war, dieser Mangel aber durch die jeweils nach den Beweisaufnahmen erfolgten mündlichen Verhandlungen geheilt wurde, §§ 295, 355, 539 ZPO.

Die Prozessbevollmächtigten der Parteien nahmen jeweils an den Beweisaufnahmen teil und billigten das Verfahren, indem sie vor der Kammer ihre Anträge wiederholten. Dabei bestand kein Zweifel darüber, dass eine Wiederholung der Beweisaufnahme durch die Kammer nicht erfolgen würde. Das haben die Prozessbevollmächtigten nicht gerügt, sondern rügelos verhandelt.

Die Klägerin hat gegen den Beklagten einen Anspruch auf Schmerzensgeld in Höhe von 15.000 DM, weil sie vom Beklagten nicht über ein typisches Risiko bei dem Entfernen eines Weisheitszahnes aufgeklärt und der operative Eingriff so unter Missachtung ihres Selbstbestimmungsrechts durchgeführt worden ist.

Der Arzt darf den Patienten nicht ohne dessen Einwilligung behandeln. Diese Einwilligung ist nur wirksam, wenn der Patient weiß, worin er einwilligt. Die Aufklärung soll ihm also aufzeigen, was der Eingriff für seine persönliche Lage bedeuten kann. Der Patient soll Art und Schwere des Eingriffs erkennen. Auch über seltene Risiken ist aufzuklären, wenn sie für den Eingriff typisch, für den Laien jedoch überraschend sind (OLG München, VersR 1995, 464).

Eine sachgemäße Aufklärung umfasst im Einzelfall auch den Hinweis auf mit dem Eingriff nicht beabsichtigte, aber durch ärztliche Kunst nicht sicher vermeidbare Folgeschäden, für die eine mehr oder minder große, dem medizinisch nicht vorgebildeten Patienten aber aus der Art des Eingriffs nicht schon ohne weiteres ersichtliche Möglichkeit besteht (BGH VersR 1971, 929; OLG Düsseldorf VersR 1989, 290; OLG München VersR 1995, 464).

Zwar ist eine bis in Einzelheiten gehende medizinische Aufklärung nicht erforderlich, soweit ein Patient wegen der Natur und des Umfangs eines Eingriffs mit gewissen Gefahren für den Fall eines unglücklichen Verlaufs rechnen muss. Die Erwähnung selbst entfernter Komplikationsgefahren ist jedoch umso stärker geboten, je weniger der Eingriff aus der Sicht des Patienten vordringlich und geboten erscheint. Das trifft auch dann zu, wenn die Wahrscheinlichkeit erheblicher Folgen zahlenmäßig gering ist (BGH VersR 1981, 456). Auch unterhalb einer Komplikationsdichte von 1 % kann von einer Aufklärung über mögliche Zwischenfälle regelmäßig nur dann abgesehen werden, wenn diese Möglichkeit bei seinem Willensentschluss zur Einwilligung nicht ernsthaft ins Gewicht fallen kann (BGH VersR 1971, 153).

Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze hat der Beklagte seine Aufklärungspflicht verletzt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Erwähnung selbst entfernter Komplikationsgefahren umso stärker geboten ist, je weniger der Eingriff aus der Sicht des Patienten vordringlich und geboten erscheint. Im vorliegenden Fall ging es aus Sicht der Klägerin und des sie behandelnden und überweisenden Hausarztes allein um eine Korrektur, die geboten erschien, um das Zahnbild zu erhalten. Es bestand die Gefahr, dass die Weisheitszähne auf andere drückten. Das Problem, das der Hausarzt gesehen und der Klägerin mitgeteilt hatte, war, dass durch ein Weiterwachsen der Weisheitszähne es zu einer Verschiebung des Gebisses kommen konnte mit der Folge, dass die korrekte Verzahnung nicht mehr gegeben war und auch nicht mehr ein optisch einwandfreies Bild vorlag. Dies bekundete der Hausarzt bei seiner Vernehmung vor dem Landgericht. Dementsprechend war die Klägerin auch nicht entschlossen, sich die Weisheitszähne ziehen zu lassen, bevor sie den Beklagten aufsuchte. Vielmehr begehrte sie von diesem, als er ihr bereits bei dem ersten Besuch die Weisheitszähne entfernen wollte, dass sie zunächst über die Operation aufgeklärt werde. Verlangte die Klägerin aber ausdrücklich von dem Beklagten eine Aufklärung, musste dieser sie auch über das Risiko von Nervenschädigungen unterrichten.

Bei Nervenverletzungen im Zusammenhang mit dem operativen Entfernen eines Weisheitszahns handelt es sich um eine zwar seltene, aber für den Eingriff doch typische Komplikation, über die der Beklagte die Klägerin nicht aufgeklärt hat. Dies ergibt sich eindeutig aus der Aussage der Mutter der Klägerin, die sowohl bei dem Beratungsgespräch als auch bei der Behandlung durch den Beklagten anwesend war. Eine Parteivernehmung des Beklagten kommt insoweit nicht in Betracht. Einer Vernehmung des Beklagten gemäß § 447 ZPO hat die Klägerin widersprochen. Die Voraussetzungen einer Vernehmung nach § 448 ZPO liegen nicht vor. Der Beklagte hat nicht substantiiert dargetan, dass und in welchem Umfange er die Klägerin darüber unterrichtet haben will, dass im Verlaufe der Operation eine Nervenschädigung eintreten kann. Vielmehr erklärt der Beklagte nur lapidar, er habe die Klägerin aufgeklärt, ohne Einzelheiten darzutun. Da der Beklagte die Klägerin nicht ausreichend aufgeklärt hat, konnte sie ihre Entscheidung für oder gegen das operative Entfernen der Zähne nicht frei und unter Abwägung der maßgeblichen Umstände treffen.

Der Beklagte kann sich nicht mit Erfolg darauf berufen, die Klägerin hätte auch bei ordnungsgemäßer Aufklärung über die Risiken des Eingriffs ihre Einwilligung erteilt. Denn die Klägerin hat nachvollziehbar dargelegt, dass sie sich bei entsprechender Aufklärung zumindest in einem Entscheidungskonflikt befunden hätte, ob sie den Eingriff durchführen lassen wollte.

Das folgt bereits daraus, dass es im vorliegenden Fall, wie die Klägerin dargelegt und der Zeuge S. bestätigt hat, um eine reine Schönheitsoperation ging. Die Klägerin hat den Beklagten nicht wegen Beschwerden an den streitgegenständlichen Weisheitszähnen konsultiert.

Unter diesen Umständen kommt es nicht darauf an, wie sich ein vernünftiger Patient, dem die erforderliche Aufklärung zuteil geworden ist, voraussichtlich verhalten hätte. Vielmehr ist allein die persönliche Entscheidungssituation der Klägerin aus damaliger Sicht maßgebend. Dabei sind an die Darlegungspflicht der Klägerin keine zu hohen Anforderungen zu stellen. Es ist nachvollziehbar, dass sie den zahnchirurgischen Eingriff als solchen und die Art und Weise seiner Durchführung noch gründlich überdacht hätte, wenn sie zumindest in groben Zügen darüber aufgeklärt worden wäre, dass sie als noch junge Frau wegen einer möglichen Nervenverletzung auf Dauer mit erheblichen Behinderung im Mundbereich werde leben müssen (BGH VersR 1991, 315).

Auch der Umstand, dass die Klägerin sich fünf Monate später von einem anderen Kieferchirurgen die beiden übrigen Weisheitszähne ziehen ließ indiziert nicht, dass sie auch bei ausreichender Aufklärung bereits im August 1995 dazu entschlossen hätte, die Operation vom Beklagten durchführen zu lassen. Im Januar 1996 stellte sich die Situation für die Klägerin anders dar. Zu dieser Zeit waren die beiden übrigen Weisheitszähne krankhaft verändert und sie litt unter starken Schmerzen. Die andauernden starken Schmerzen und Entzündungen veranlassten die Klägerin dann trotz Kenntnis des Risikos im Januar 1996 die beiden übrigen Weisheitszähne ziehen zu lassen.

Da der vom Beklagten vorgenommene Eingriff mangels Aufklärung und wegen der deshalb fehlenden wirksamen Einwilligung der Klägerin rechtswidrig war und sich das aufklärungsbedürftige Risiko der Nervenverletzung verwirklicht hat, haftet der Beklagte für alle Folgen des Eingriffs.

Dabei kann sich der Beklagte nicht auf mangelndes Verschulden berufen. Zwar ist es zutreffend, dass in der Rechtsprechung die Frage der Aufklärungsbedürftigkeit dieses Risikos kontrovers diskutiert wurde. Dabei ist jedoch festzustellen, dass zwar die Entscheidungen aus den Jahren 1985 und 1986 kontrovers gegenüberstehen, dass aber seit dem Jahre 1987 von der überwiegenden Rechtsprechung die Aufklärungspflicht bejaht wird. So hat zum Beispiel das Oberlandesgericht München in einer Entscheidung vom 20.11.1986 noch eine Aufklärungspflicht verneint (AHRS 4800/10), diese aber in einer Entscheidung vom 23.6.1994 (AHRS 4800/105) bejaht. Auch der Beklagte war sich seiner Aufklärungspflicht bewusst. So stellt er selbst dar, dass ihm aufgrund seiner Gutachtertätigkeit vor Gericht die Anforderungen an die sogenannten "patientenbezogene Aufklärung" bekannt sei und er dafür Sorge trage, dass diese mittels Formblatt, dem Aushang im Wartezimmer nachgekommen werde. Auf diesem Merkblatt, das im Wartezimmer aushängt, sind die Möglichkeiten der Nervenschädigung ausführlich dargestellt. Da die Klägerin sich mit ihrer Mutter jedoch zu keinem Zeitpunkt im Wartezimmer aufgehalten hat, konnte sie dieses nicht zur Kenntnis nehmen. Im Übrigen ist das Aushängen eines Merkblattes im Wartezimmer nicht ausreichend (OLG Oldenburg AHRS 4800/6).

Bei der Festsetzung der Höhe des Schmerzensgeldes wird berücksichtigt, dass die Klägerin nach wie vor an den vorderen zwei Dritteln der rechten Zungenhälfte eine verminderte Schmerzreaktion hat, dass Tastempfinden und das Temperaturempfinden vermindert sind und diese im anterioren Bereich nahezu vollständig ausgefallen sind. Auch die Geschmacksempfindungen für süß, sauer, salzig und bitter zeigen sich auf der rechten Zungenhälfte reduziert. Des Weiteren hat der Sachverständige ausgeführt, dass die Prognose einer Regeneration als sehr ungünstig einzustufen ist.

Die Klägerin wird aller Voraussicht nach auf Dauer an diesen nicht nur körperlich, sondern auch seelisch beeinträchtigenden Folgen leiden.

Unter Abwägung dieser Umstände ist ein Schmerzensgeld in Höhe von 15.000 DM angemessen.

Das Schmerzensgeld in Höhe von 15.000 DM erscheint auch deshalb als ausreichend, weil ein Verschulden des Beklagten als sehr gering anzusehen ist. Der Beklagte konnte das individuelle Risiko bei der Klägerin als gering einschätzen. Er hat nach den Angaben des Sachverständigen zutreffend erkannt, dass es sich bei der Klägerin um eine eher unkomplizierte operative Weisheitszahnentfernung handelte, was auch durch die Angaben der Klägerin zu Operationsdauer und Operationsverlauf bestätigt wurde. Des Weiteren führt der Sachverständige aus, dass die röntgenologischen Befunde für ein individuell sehr geringes Risiko einer Nervläsion bei der Zahnentfernung sprechen. Insofern liegt in der fehlenden Aufklärung bezüglich des Risikos der Nervläsion nur ein geringes Verschulden auf Seiten des Beklagten vor.

II. Die Anschlussberufung der Klägerin hat keinen Erfolg.

Der Senat bemisst den Schmerzensgeldanspruch der Klägerin mit 15.000 DM. Dies ist angemessen und ausreichend. Der Fall der Klägerin kann nicht mit dem verglichen werden, den das OLG München (VersR 1995, 464) zu entscheiden hatte. In diesem Fall lag nicht nur eine größere Nervschädigung der Klägerin vor, sondern sie war durch Nachfolgeoperationen schwer beeinträchtigt und zeitweise arbeitsunfähig.

III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 1 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO.

Der Streitwert für die Berufungsinstanz wird auf 25.000 DM festgesetzt.

Der Wert der Beschwer des Beklagten beträgt 15.000 DM.

Der Wert der Beschwer der Klägerin beträgt 10.000 DM.

Ende der Entscheidung

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