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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Koblenz
Urteil verkündet am 10.01.2003
Aktenzeichen: 8 U 396/02
Rechtsgebiete: ZPO


Vorschriften:

ZPO § 286
ZPO § 538 Abs. 2 Nr. 1
ZPO § 775 Nr. 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
OBERLANDESGERICHT KOBLENZ IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

Geschäftsnummer: 8 U 396/02

Verkündet am 10. Januar 2003

In dem Rechtsstreit

Der 8. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Koblenz hat durch den Vizepräsidenten des Oberlandesgerichts Hölzer und die Richter am Oberlandesgericht Grüning und Marx auf die mündliche Verhandlung vom 29. November 2002

für Recht erkannt:

Tenor:

Die Berufung des Beklagten gegen das am 20. Februar 2002 verkündete Urteil der 5. Zivilkammer des Landgerichts Trier wird zurückgewiesen, soweit sie sich gegen die Abweisung der Widerklage richtet.

Im Übrigen wird das am 20. Februar 2002 verkündete Urteil der 5. Zivilkammer des Landgerichts Trier auf die Berufung des Beklagten mit dem zugrunde liegenden Verfahren aufgehoben, soweit es zum Nachteil des Beklagten ergangen ist. Insoweit wird die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Berufungsverfahrens, an das Landgericht Trier zurückverwiesen.

Gerichtskosten werden für das Berufungsverfahren nicht erhoben, soweit es sich gegen die Klage richtet.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe:

I.

Die Klägerin ist Alleinerbin ihres Ehemannes, der am 1. Oktober 1997 an einer amyothrophen Lateralsklerose (ALS) verstarb. Sie nimmt den Beklagten, der ihren verstorbenen Ehemann am 4. Juni 1996 wegen eines angeblichen Bandscheibenvorfalles operierte, auf Zahlung eines Schmerzensgeldes sowie auf Feststellung der Ersatzpflicht des Beklagten für ihre zukünftigen materiellen und immateriellen Schäden in Anspruch. Wegen der weiteren Darstellung des Sach- und Streitstandes wird auf die tatsächlichen Feststellungen in dem angefochtenen Urteil Bezug genommen.

Das Landgericht hat nach Einholung von zwei Sachverständigengutachten der Schmerzensgeldklage in Höhe von 10.225,84 EUR (= 20.000 DM) stattgegeben, die Feststellungsklage als unzulässig sowie die weitergehende Schmerzensgeld- und die Widerklage als unbegründet abgewiesen.

Die Schmerzensgeldklage sei in der zuerkannten Höhe zulässig und begründet, weil der Beklagte dem Ehemann der Klägerin durch die nicht indizierte Operation an der Nervenwurzel L5 eine Körperverletzung beigebracht habe und der Beklagte die fehlende Indikation bei Anwendung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt hätte erkennen können. Das folge aus den Ausführungen in den beiden eingeholten Sachverständigengutachten. Auch der Sachverständige V... habe ausgeführt, das Gesamtbild sei nicht erklärbar als Folge eines Bandscheibenvorfalles. Es habe deshalb vor Durchführung der Operation einer weiteren Abklärung des Krankheitsbildes bedurft. Die Schlussfolgerung des Sachverständigen V..., die Operation sei dennoch zu rechtfertigen gewesen, sei angesichts der unzureichenden Diagnose nicht überzeugend. Die Kammer folge den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen Prof. S......, wonach die Operation nicht indiziert gewesen sei. Selbst wenn die Operationsindika-tion offen geblieben sei, sei von einer durch den Beklagten begangenen Körperverletzung auszugehen, da die unzureichende diagnostische Absicherung einen groben Behandlungsfehler darstelle und zu einer Beweislastumkehr zu Lasten des Beklagten dahin führe, dass davon auszugehen sei, dass die Operation medizinisch nicht indiziert gewesen sei. Die von dem Verstorbenen gegebene Operationseinwilligung habe keine rechtfertigende Wirkung, weil sie auf dem von dem Beklagten erregten Irrtum der Operationsindikation beruht habe. Der Höhe nach sei das Schmerzensgeld mit 20.000 DM zu beziffern. Der Feststellungsantrag sei unzulässig, weil die Schäden bezifferbar seien und es deshalb an einem Feststellungsinteresse fehle. Die Widerklage sei unbegründet, weil die Forderung nicht schlüssig dargelegt worden sei.

Gegen das Urteil richtet sich die Berufung des Beklagten, mit der er in erster Linie die Abweisung auch der zugesprochenen Schmerzensgeldforderung begehrt und die Widerklageforderung in Höhe von 3.088,55 DM nebst Zinsen weiterverfolgt. Hilfsweise beantragt er Aufhebung und Zurückverweisung.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die von den Parteien zu den Akten gereichten Schriftsätze und Unterlagen, die eingeholten Sachverständigengutachten und die Sitzungsniederschriften verwiesen.

II.

Die zulässige Berufung hat in der Sache keinen Erfolg, soweit sie sich gegen die Abweisung der Widerklage richtet. Im Übrigen hat sie einen vorläufigen Erfolg.

1.

Die mit der Widerklage geltend gemachte restliche Honorarforderung von 3.088,55 DM besteht nicht mehr. Vielmehr ist davon auszugehen, dass sie erfüllt worden ist.

Der Beklagte legt selbst eine Honorarforderung in Höhe von 11.993,78 DM zugrunde (Bl. 288 GA) und räumt ein (§ 288 Abs. 1 ZPO), dass darauf Zahlungen von 8.287,74 DM, 500 DM und 117,49 DM geleistet worden sind (Bl. 289 GA).

Zahlungen auf die Rechnungen vom 12. Juli 1996 über 1.962,68 DM und vom 9. Oktober 1996 über 1.872,06 DM bestreitet er (Bl. 288 GA).

Demgegenüber hat die Klägerin Kopien von Überweisungsträgern vorgelegt (Bl. 309, 311 GA), wonach auf diese Rechnungen 1.872,06 DM und 2.762,72 DM gezahlt worden sind. Die auf den Überweisungsträgern angegebenen Rechnungsnummern stimmen mit denjenigen auf den entsprechenden Rechnungen (Bl. 49-52 und 53, 54 GA) überein, so dass davon ausgegangen werden kann, dass die Zahlungen auch auf diese Rechnungen erfolgt sind. Die Überweisungsträger sind am 1. Dezember 1996 (Bl. 309 GA) bzw. am 13. Februar 1997 (Bl. 311 GA) bei der R.........bank K...-O........ eingegangen, so dass weiterhin davon auszugehen ist, dass die Überweisungen ausgeführt worden sind.

Damit kann als nachgewiesen angesehen werden, dass die geltend gemachte Forderung beglichen worden ist.

2.

Soweit die Schmerzensgeldklage zugesprochen worden ist, beruht das Urteil auf einem Verfahrensfehler im Sinne des § 538 Abs. 2 Nr. 1 ZPO.

Die Haftung des Beklagten richtet sich entgegen seiner Auffassung in der Berufung nicht danach, ob ihm ein grober Behandlungs- bzw. Diagnosefehler anzulasten ist. Grundsätzlich haftet ein Arzt auch bei von ihm zu vertretenden einfachen Behandlungsfehlern. Bei groben Behandlungsfehlern greifen allerdings in der Regel Beweiserleichterungen zugunsten des Patienten ein (BGH NJW 1996, 1589; 1998, 1780).

Einen groben Behandlungsfehler hat das Landgericht in einer Hilfserwägung verfahrensfehlerhaft angenommen (Bl. 257 Abs. 1 GA). Aus der von beiden Gutachtern getroffenen Feststellung, dass eine hinreichende Absicherung der Diagnose vor Durchführung der Bandscheibenoperation nicht erfolgt sei, hat es einen groben Behandlungsfehler hergeleitet, obwohl keiner der beiden Gutachter eine derartige Einordnung vorgenommen hat. Der Gutachter V... ist vielmehr dahin zu verstehen, dass nicht einmal ein einfacher Behandlungsfehler vorgelegen hat. Er kommt zu dem Ergebnis, dass die Operation klinisch zu rechtfertigen war, vor der Operation also keine weiteren Befunderhebungen mehr erforderlich waren.

Die mithin von dem Landgericht ohne hinreichende eigene Sachkenntnis und ohne Absicherung durch einen Sachverständigen vorgenommene Einschätzung der Unterlassung weiterer Befunderhebungen als grober Behandlungsfehler muss deshalb als sachfremde Erwägung angesehen werden, die gegen § 286 ZPO verstößt und verfahrensfehlerhaft ist.

Aber auch der von dem Landgericht in seiner Hauptbegründung angenommene einfache Behandlungsfehler beruht auf einem Verfahrensfehler, weil das Landgericht die Feststellung einer von dem Beklagten durch die Operation begangenen Körperverletzung ohne weitere Aufklärung nicht auf das Sachverständigengutachten S...... stützen durfte.

Zwar ist der Tatrichter, wenn mehrere Sachverständige einander widersprechende Gutachten erstatten, nicht stets gehalten, sich diese Gutachten mündlich erläutern zu lassen oder ein weiteres Gutachten einzuholen. Wenn die Gutachten inhaltlich klar sind und jeweils für sich keine Zweifelsfragen offenlassen, ist es kein Ermessens-fehler, sich mit der schriftlichen Begutachtung zu begnügen. Im Einzelfall kann es dann gute Gründe dafür geben, einem der Gutachten den Vorzug zu geben. Diese Gründe hat der Tatrichter dann allerdings darzulegen. Auch eine verfahrensrechtliche Pflicht zur Einholung eines weiteren Gutachtens (§ 412 ZPO) besteht nur ausnahmsweise, nämlich bei besonders schwierigen Fragen, bei groben Mängeln der vorhandenen Gutachten und dann, wenn ein neuer Gutachter über überlegene Forschungsmittel verfügt.

Indessen hat der dem Tatrichter bei der Würdigung widerstreitender Gutachten eingeräumte Ermessensspielraum Grenzen: Der Streit der Sachverständigen darf vom Gericht nicht dadurch entschieden werden, dass es ohne einleuchtende und logisch nachvollziehbare Begründung einem von ihnen den Vorzug gibt. Das würde nicht sachgerecht, sondern willkürlich sein. Vorhandene weitere Aufklärungsmöglichkeiten müssen deshalb genutzt werden, wenn sie sich anbieten und Erfolg versprechen. Anderenfalls verletzt das Gericht das ihm bei Anordnung und Durchführung des Sachverständigenbeweises eingeräumte Ermessen (§§ 144, 411 Abs. 3, 412 ZPO) und verstößt gegen die Grundsätze der freien Beweiswürdigung (§ 286 ZPO), die sachfremde Erwägungen verbieten (BGH VersR 1980, 533 f.).

Dementsprechend war das Landgericht vor einer Entscheidung gehalten, die beiden Sachverständigen anzuhören (§ 411 Abs. 3 ZPO), gegebenenfalls auch noch ein Obergutachten (§ 412 ZPO) einzuholen.

In den vorliegenden Gutachten sind die Sachverständigen übereinstimmend der Auffassung, dass bei der von dem Beklagten erstellten Diagnose das Gesamtbild nicht als Folge eines Bandscheibenvorfalles erklärbar war. Es lagen nach der Auffassung beider Sachverständiger sowohl Symptome vor, die auf eine Nervenwurzelschädigung L5, also einen Bandscheibenvorfall hindeuteten, als auch zahlreiche andere Krankheitssymptome. Aus dem Gutachten V... ergibt sich, dass sich nach den Aufzeichnungen des Beklagten bei der Operation dann auch ergeben hat, dass ein Bandscheibenvorfall vorlag (Bl. 169, 170 GA). In dem Gutachten S...... werden die anderen Krankheitssymptome näher beschrieben (Bl. 212 GA). Lediglich in der Wertung dieser im Wesentlichen übereinstimmenden Feststellungen weichen die Gutachten voneinander ab. Während V... meint, die Operation sei klinisch noch zu rechtfertigen gewesen, ist S...... der Meinung, die Nichtanwendung der diagnostischen Möglichkeiten bei einem so unklaren Bild müsse kritisiert werden. Die Frage, ob die Operation notwendig und geboten gewesen sei, werde verneint.

Eine nachvollziehbare Begründung für ihre Ergebnisse liefern die Sachverständigen in ihren schriftlichen Gutachten nicht. Dementsprechend vermochte das Landgericht auch keine nachvollziehbaren Gründe darzulegen, warum es dem Gutachten Schramm den Vorzug gegeben hat. Dazu war es jedoch nach den vorstehenden Ausführungen verpflichtet.

In der fehlenden Angabe der Gründe liegt ein Verfahrensfehler, aufgrund dessen die Anhörung der beiden Sachverständigen und damit eine aufwendige Beweisaufnahme erforderlich wird. Unter Umständen muss auch noch ein Obergutachten eingeholt werden. Da zudem ein entsprechender Antrag des Beklagten vorliegt, erscheint dem Senat die Zurückverweisung der Sache unter Aufhebung der angefochtenen Entscheidung geboten.

Bei der durchzuführenden Anhörung der beiden Gutachter wird das Landgericht auch einen bisher nicht erörterten Gesichtspunkt zu berücksichtigen haben:

Es dürfte davon auszugehen sein, dass der Verstorbene zur Zeit der Diagnosestellung durch den Beklagten sowohl an einer amyotrophen Lateralsklerose als auch an einem Bandscheibenvorfall litt. Von den Sachverständigen wird deshalb auch zu erörtern sein, ob eine Operationsindikation gegeben gewesen wäre, wenn der Beklagte von beiden Krankheiten ausgegangen wäre. Der Sachverständige V... hat zwar ausgeführt, der ausbleibende Effekt des Eingriffs habe die Erfolgslosigkeit der operativen Intervention erklärt (Bl. 169 GA). Dabei handelt es sich jedoch um eine Ex-post-Betrachtung. Abstellend auf den Zeitpunkt der von dem Beklagten getroffenen Operationsentscheidung kann die Indikationslage anders gewesen sein. Denkbar ist, dass bei einer von einem Bandscheibenvorfall überlagerten amyotrophen Lateralsklerose eine Bandscheibenoperation zur Schmerzlinderung indiziert sein kann.

Da noch nicht abzusehen ist, ob die Berufung des Beklagten endgültig Erfolg haben wird, hat das Landgericht auch über die Kosten des Berufungsverfahrens zu entscheiden. Soweit die Berufung sich gegen die zugesprochene Klageforderung richtet, werden die gerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens allerdings nicht erhoben (§ 8 GKG).

Im Hinblick auf § 775 Nr. 1 ZPO ist das Urteil für vorläufig vollstreckbar zu erklären.

Die Revision war nicht zuzulassen. Die Rechtssache hat weder grundsätzliche Bedeutung noch erfordern die Fortbildung des Rechts oder die Sicherheit einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts (§ 543 Abs. 2 ZPO).

Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird wie folgt festgesetzt:

Schmerzensgeld 10.225,84 EUR Widerklageforderung 1.579,15 EUR 11.804,99 EUR

Ende der Entscheidung

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