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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Köln
Beschluss verkündet am 19.06.2009
Aktenzeichen: 2 Ws 250/09
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 454a
Die Entscheidung des BVerfG vom 30.04.2009 - 2 BvR 2009/08 - ist als verfassungskonforme Auslegung der Bestimmung des § 454a StPO zur Durchsetzung des Freiheitsgrundrechtes des Verurteilten zu verstehen, hinter dem das Vollstreckungsinteresse der Rechtsgemeinschaft auch bei wegen unterbliebener Vollzugslockerungen bestehenden Prognoseunsicherheiten ggfs zurückstehen muß.
Tenor:

Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Entscheidung an die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts A. zurückverwiesen, die auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu befinden haben wird.

Gründe:

I.

Der seit 1993 erheblich, auch wegen Gewaltdelikten vorbestrafte und hafterfahrene Beschwerdeführer verbüßt gegenwärtig eine durch das Landgericht N. mit Urteil vom 12.05.2003 gegen ihn verhängte Gesamtfreiheitsstrafe von 7 Jahren und 8 Monaten wegen gemeinschaftlicher schwerer räuberischer Erpressung. Der Senat hat mit Beschluß vom 02.06.2008 - 2 Ws 263/08 - eine Entscheidung der Strafvollstreckungskammer vom 08.04.2008 bestätigt, mit der nach Einholung eines Prognosegutachtens eine Reststrafenaussetzung abgelehnt worden war. In der Senatsentscheidung ist u.a. ausgeführt, dass dem Verurteilten nunmehr jedoch die Erprobung im offenen Vollzug ermöglicht werden sollte, um die Chance zu wahren, die Freiheitsstrafe nicht vollständig verbüßen zu müssen. Die Strafvollstreckungskammer hat daraufhin mit Beschluß vom 30.01.2009 ein weiteres Prognosegutachten eingeholt und auf dessen Grundlage mit der von der Staatsanwaltschaft Neubrandenburg angefochtenen Entscheidung nunmehr die Reststrafe zur Bewährung ausgesetzt.

Zuvor war ein Antrag des Verurteilten auf Verlegung in den offenen Vollzug durch den Leiter der Justizvollzugsanstalt A. mit Bescheid vom 31.07.2008 abgelehnt worden. Dagegen hat der Verurteilte am 12.08.2008 Antrag auf gerichtliche Entscheidung gestellt, dem die Leiterin der Justizvollzugsanstalt mit Schriftsatz vom 14.04.2009 entgegengetreten ist. Die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts A. hat auf Anfrage mitgeteilt, dass die Einholung eines Lockerungsgutachtens "möglicherweise angezeigt" sei, jedoch noch eine Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt ausstehe.

II.

Die nach § 454 Abs. 3 S. 1 StPO statthafte, form- und fristgerecht (§ 311 Abs. 2 StPO) eingelegte und auch im übrigen zulässige sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft hat vorläufig Erfolg. Nach dem gegenwärtigen Erkenntnisstand kann die Reststrafe noch nicht ohne weiteres zur Bewährung ausgesetzt, die Aussetzung aber auch nicht (erneut) abgelehnt werden.

Dem Verurteilten sind bisher Vollzugslockerungen nicht gewährt worden.

Nach der Rechtsprechung des BVerfG, der der Senat folgt (vgl BVerfG, 2 BvR 2009/08 vom 30.04.2009; SenE vom 15.12.2004 - 2 Ws 521/04 -, NStZ-RR 2005, 191 (LS)); SenE vom 13.05.2009 - 2 Ws 199-200/09) kommt Vollzugslockerungen jedoch mit Blick auf eine günstige Sozialprognose eine gewichtige Bedeutung zu. Ein schrittweises Heranführen an Alltagssituationen ist deshalb unerlässliche Voraussetzung für die Erstellung einer positiven Prognose, insbesondere nach einer so langen Haftzeit wie sie der Verurteilte - der sich seit dem 30.10.2002 in Unfreiheit befindet - inzwischen hinter sich gebracht hat. Denn gerade das Verhalten anlässlich solcher Belastungserprobungen stellt einen geeigneten Indikator für die künftige Legalbewährung des Verurteilten dar (BVerfG a.a.O. m. w. N.).

Es kann im Einzelfall allerdings unter ganz besonderen Bedingungen gerechtfertigt sein, zu einer günstigen Sozialprognose auch ohne vorherige Lockerung zu gelangen (zu einem solchen Fall vgl Senat Beschluss vom 26.08.2005 - 2 Ws 202/05 -).

Um einen solchen Fall handelt es sich hier jedoch nicht. Das ergänzende fachpsychiatrische Gutachten der Sachverständigen Dr. M. vom 10.03.2009 und die sonstigen Erkenntnisse erlauben es nicht, dem Verurteilten ohne Erprobung in Vollzugslockerungen bereits jetzt eine günstige Prognose zu stellen.

Die Leiterin der Justizvollzugsanstalt A. beschreibt in der Stellungnahme vom 14.04.2009 den Verurteilten als eine Persönlichkeit, die zu realistischer Selbstwahrnehmung und Selbstkritik kaum in der Lage sei, darüber hinaus kränkbar und zu Konfliktlösungen unfähig.

Die Sachverständige Dr. M. beurteilt den Verurteilten deutlich positiver. Gleichwohl hat sie - wie bereits im Ausgangsgutachten vom 28.02.2008 - ein "gewisses" bzw. ein "Restrisiko" für weitere Straftaten bejaht, das sich bei Scheitern der Ehe, Kontakten zum früheren Milieu oder Rückfall in den Gebrauch schädlicher Substanzen erhöhen könne. Die Sachverständige wiederholt in diesem Zusammenhang die Anregung, möglichen Risiken durch Lockerungen und "behutsames Heranreifen im offenen Vollzug" zu begegnen.

Die abschließende Einschätzung der Gutachterin, angesichts der ablehnenden Haltung der Justizvollzugsanstalt zu Vollzugslockerungen werde die Gefährlichkeit des Probanden durch den weiteren "Verwahrvollzug" bis zur Endstrafe am 26.02.2011 eher erhöht als verringert, so dass eine vorzeitige Haftentlassung unter strengen Auflagen zu bevorzugen sei, zeigt keine derzeit vertretbare Lösung auf.

Die Erprobung des Verurteilten in Vollzugslockerungen - insbesondere in Gestalt der Zulassung zum offenen Vollzug - ist für eine positive Sozialprognose hier unverzichtbar. Nach der erwähnten Entscheidung des BVerfG müssen die zur Entscheidung über die Strafaussetzung berufenen Gerichte die Rechtmäßigkeit der bisherigen Versagung von Lockerungen eigenständig prüfen. Das ist hier bisher nicht ausreichend geschehen.

Das Erfordernis eigenständiger Prüfung schließt nicht aus, dass sich das Gericht im Aussetzungsverfahren die Gründe rechtskräftiger Entscheidungen im Lockerungsverfahren zueigen macht, sofern die Versagung von Lockerungen dort inhaltlich hinreichend überprüft worden ist (BVerfG a.a.O.).

An einer solchen Entscheidung fehlt es hier indes, und nach der Mitteilung der damit befassten Strafvollstreckungskammer ist nicht absehbar, wann über den Antrag des Verurteilten vom 12.08.2008 entschieden wird.

Es wird daher im Aussetzungsverfahren zu prüfen sein, ob dem Verurteilten Vollzugslockerungen ggfs zu Unrecht vorenthalten werden. Erst sofern das zu bejahen ist, darf die Ablehnung der Aussetzung auf die fehlende Erprobung des Verurteilten nicht gestützt werden und kann trotz des durch fehlende Erprobung bedingten Prognosedefizits eine vorzeitige Entlassung aus der Haft in Betracht kommen. Nach der Entscheidung des BVerfG bietet § 454a Abs. 1 StPO die Möglichkeit, die Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung anzuordnen und zugleich den Entlassungszeitpunkt so festzulegen, dass der Vollzugsbehörde noch eine angemessene Erprobung des Verurteilten in Lockerungen möglich bleibt, ohne damit unverantwortbare Risiken auf die Allgemeinheit zu verlagern (BVerfG a.a.O.).

Das BVerfG eröffnet der Bestimmung des § 454 a Abs. 1 StPO damit einen Anwendungsbereich, der über das bisherige Verständnis der Vorschrift in Rechtsprechung und Schrifttum hinausgeht. Dort wird dem Vollstreckungsinteresse der Rechtsgemeinschaft keine geringere Bedeutung als dem Resozialisierungsinteresse des Verurteilten beigemessen und deswegen als Voraussetzung einer Reststrafenaussetzung stets eine günstige Sozialprognose bereits im Zeitpunkt der Entscheidung gefordert.

(vgl .dazu KK-Appl, StPO, 6. Aufl., § 454 a Randr. 2; Meyer-Goßner, StPO, 51. Aufl., § 454a Randnr.1; OLG Frankfurt NStZ-RR 2001,311; OLG Hamm NStZ 2006,64 <Ls>).

Der Senat sieht sich jedoch gehalten, der Entscheidung des BVerfG zu folgen, die er als verfassungskonforme Auslegung der Bestimmung des § 454a StPO zur Durchsetzung des Freiheitsgrundrechtes des Verurteilten versteht, hinter dem das Vollstreckungsinteresse der Rechtsgemeinschaft auch bei Prognoseunsicherheiten ggfs zurückstehen muß.

Zur Prüfung und Entscheidung, ob und in welchem Umfang der Verurteilte lockerungsgeeignet ist und ob ggfs eine Reststrafenaussetzung zur Bewährung auch ohne vorherige Lockerungen mit einem zeitlichen Vorlauf, der noch Lockerungen erlaubt, in Betracht kommt, bedarf es eines Lockerungsgutachtens. Ein solches ist bisher nicht eingeholt worden.

Nach der Rechtsprechung des Senats zu § 454 Abs. 2 StPO ist das Gutachten von der Strafvollstreckungskammer in Auftrag zu geben, die auch eine - je nach Erklärungen zu § 454 Abs. 2 letzter Satz StPO - etwaige mündliche Anhörung des Sachverständigen vorzunehmen haben wird. Der Senat verweist die Sache daher zurück. Die Anordnung eines Sachverständigengutachtens und ggf. eine anschließende mündliche Anhörung durch den Senat als Beschwerdegericht - die zwar nicht ausgeschlossen erscheinen -, kommen im Regelfall nicht in Betracht ( vgl SenE vom 08.06.2000 - 2 Ws 281-282/00 - (NStZ 2000, 317 = StV 2001, 30 = StraFo 2001, 34; vom 02.12.2005 - 2 Ws 592/05- ; vom 23.02.2007 - 2 Ws 82/07- ).

Ein Fall des § 309 Abs. 2 StPO, in dem das Beschwerdegericht zugleich die in der Sache (abschließend) erforderliche Entscheidung zu treffen hätte, liegt nicht vor. Die derzeit eingelegte sofortige Beschwerde hat nur vorläufigen Erfolg. Eine Entscheidung darüber, ob im Ergebnis eine Reststrafenaussetzung angezeigt ist, kann noch nicht getroffen werden. Das in Auftrag zu gebende Gutachten stellt noch keine (abschließende) Sachentscheidung dar; vielmehr ist die entsprechende Beweisanordnung lediglich eine Zwischenentscheidung. Ob wirklich die bedingte Entlassung die in der Sache erforderliche Entscheidung sein wird, ist noch offen.

Ende der Entscheidung

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