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Gericht: Oberlandesgericht Köln
Beschluss verkündet am 20.07.2007
Aktenzeichen: 2 Ws 369/07
Rechtsgebiete: StPO, StGB, JGG
Vorschriften:
StPO § 112 a | |
StPO § 112 a Abs. 1 Nr. 2 | |
StPO § 118 Abs. 2 | |
StPO § 309 Abs. 2 | |
StPO § 310 Abs. 1 | |
StGB § 243 Abs. 1 Nr. 3 | |
StGB § 244 Abs. 1 Nr. 2 | |
JGG § 38 Abs. 2 Satz 3 | |
JGG § 67 Abs. 2 | |
JGG § 72 | |
JGG § 72 Abs. 1 | |
JGG § 72 a |
Tenor:
Der angefochtene Beschluß wird aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten (Abhilfe-)Entscheidung über die Haftbeschwerde der Beschuldigten vom 14.5.2007 an das Amtsgericht Köln - Abt. 646 - zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens wird dem Amtsgericht übertragen.
Gründe:
I.
Gegen die am 14.5.2007 vorläufig festgenommene und am selben Tag in Untersuchungshaft genommene Beschuldigte besteht ein auf Wiederholungsgefahr gestützter Haftbefehl des Amtsgerichts Köln vom 8.5.2007 - 646 Gs 34/07 -, in dem ihr gemeinschaftlicher Computerbetrug in 2 Fällen sowie gemeinschaftlicher gewerbsmäßiger Diebstahl in 3 Fällen vorgeworfen wird. Sie soll im wechselnden Zusammenwirken mit den gesondert Verfolgten T I und S P sowie mit dem strafunmündigen O L am 20.10.2006 in C mit zuvor entwendeten EC-Karten bei der C-Bank Geldbeträge von einmal 200 € und wenige Minuten danach von nochmals 1.000 € abgehoben haben. Am 21.1. 2007 sowie bei 2 weiteren Gelegenheiten am 6.2.2007 soll die Beschuldigte mit den erwähnten Mittätern auf dem Kölner Hauptbahnhof Trickdiebstähle begangen haben. Sie soll mehreren Reisenden aus Rucksäcken bzw. Handtaschen Geldbörsen entwendet und dabei Geldbeträge von 30 €, 60 € bzw. 415 € erbeutet haben. Eine Haftbeschwerde der Beschuldigten hat das Landgericht durch Beschluss vom 12.6.2007 verworfen. Dagegen richtet sich die weitere Beschwerde der Beschuldigten, der das Landgericht nicht abgeholfen hat.
Wegen der dem Haftbefehl zugrundeliegenden Vorwürfe hat die Staatsanwaltschaft Köln unter dem 26.6.2007 Anklage zum Jugendschöffengericht erhoben. Das Jugendschöffengericht beabsichtigt, das Verfahren mit dem dort bereits anhängigen Verfahren 646 Ls 266/07, das weitere Diebstahlsvorwürfe zum Gegenstand hat, zu verbinden. Die Hauptverhandlung wird voraussichtlich im August stattfinden.
II.
1. Die nach § 310 Abs. 1 StPO zulässige weitere Beschwerde hat den vorläufigen Erfolg der Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und Zurückverweisung der Sache an das Amtsgericht zur erneuten Abhilfe-Entscheidung über die Haftbeschwerde der Beschuldigten.
2. Den Vorinstanzen kann insoweit gefolgt werden, als sie dringenden Tatverdacht bejaht haben. Er ergibt sich aus den in der Anklageschrift angegeben Beweismitteln.
3. In Übereinstimmung mit Amtsgericht und Landgericht nimmt der Senat des weiteren gemäß § 112 a StPO den Haftgrund der Wiederholungsgefahr an.
a) Bei den Diebstahlstaten handelt es sich um Anlaßtaten nach § 112 a Abs. 1 Nr. 2 StPO, weil die Beschwerdeführerin nach den bisherigen Erkenntnissen gewerbsmäßig stiehlt und damit ein besonders schwerer Fall des Diebstahls gemäß § 243 Abs. 1 Nr. 3 StGB vorliegt. Der Senat nimmt hierzu auf die zutreffenden Ausführungen des Landgerichts in der angefochtenen Entscheidung und in der Nichtabhilfeentscheidung vom 27.6.2007 Bezug. Sie werden durch das Beschwerdevorbringen nicht entkräftet, sondern bestätigt. Denn darin ist davon die Rede, dass die Beschwerdeführerin mangels staatlicher Unterstützungsleistungen "aus Not" handele. Das legt die Annahme, dass sich die Angeschuldigte durch die Diebstähle eine nicht nur vorübergehende Einnahmequelle verschaffen will, nahe.
Der Senat merkt ergänzend an, dass die Vorgehensweise der Täter darüber hinaus die Prüfung nahe legt, ob nicht auch Bandendiebstahl nach § 244 Abs. 1 Nr. 2 StGB gegeben ist.
b) Der Senat bejaht mit den Vorinstanzen auch, dass es sich bei den Anlaßtaten um solche handelt, die die Rechtsordnung wegen der Art der Begehung, der Tatörtlichkeit und auch der Höhe der im Einzelfall erbeuteten Beträge schwerwiegend beeinträchtigen. Das Amtsgericht hat dazu treffend ausgeführt, dass bei Taschendiebstählen die Beute für den Täter nicht kalkulierbar, sondern vom Zufall abhängig ist, es der Angeschuldigten gleichwohl bei jedem einzelnen Tatentschluß darauf ankommt, eine größtmögliche Beute zu machen. Im Fall 5 des Haftbefehls betrug der erbeutete Geldbetrag 415 €, was eine nicht unbeträchtliche Summe darstellt. Das Vertrauen der Allgemeinheit, auf Bahnhöfen und in Zügen sicher vor Diebstählen zu sein, wird durch jede einzelne der hier verfolgten Taten nachhaltig erschüttert.
c) Aufgrund der massiven Erziehungs- und Sozialisationsdefizite der Angeschuldigten, die schon in strafunmündigen Alter in einer Vielzahl von Fällen polizeilich in Erscheinung getreten und sodann als Jugendliche mehrfach wegen Diebstahlsdelikten vor dem Jugendrichter gestanden hat (vgl dazu die in der Nichtabhilfeentscheidung des Amtsgerichts vom 18.5.2007 im einzelnen aufgeführten Verfahren), ist zu befürchten, dass sie bis zur Aburteilung der angeklagten Taten weitere Diebstähle begehen würde, wenn sie auf freien Fuß gesetzt würde.
d) Die in § 112 a StPO vorausgesetzte Straferwartung von mehr als 1 Jahr Jugendstrafe ist aus Sicht des Senats ebenfalls gegeben und gründet sich darauf, dass die Angeschuldigte unmittelbar nach Ablauf der Bewährungszeit aus dem Urteil des Amtsgerichts Köln vom 10.10.2005 in dem Verfahren 646 Ls 492/04 und offensichtlich gänzlich unbeeindruckt hiervon mit der Begehung von Diebstählen weiter gemacht hat. Das zwingt zu der Annahme, dass die Angeschuldigte nunmehr mit einer wesentlich strengeren Sanktion rechnen muß.
4. Die angefochtene Entscheidung kann gleichwohl keinen Bestand haben, weil im bisherigen Verfahren keine genügenden Feststellungen zu den nach dem JGG zwingend zu beachtenden Voraussetzungen der Anordnung von Untersuchungshaft gegen Jugendliche getroffen worden sind.
a) Im Jugendstrafrecht gilt das Prinzip der Subsidiarität der Untersuchungshaft. Nach § 72 Abs. 1 JGG darf aus Gründen der Verhältnismäßigkeit Untersuchungshaft gegen einen Jugendlichen nur verhängt oder vollstreckt werden, wenn ihr Zweck nicht durch eine vorläufige Anordnung über die Erziehung oder durch andere Maßnahmen erreicht werden kann. Wird Untersuchungshaft verhängt, sind im Haftbefehl die Gründe anzuführen, aus denen sich ergibt, dass andere Maßnahmen nicht ausreichen und die Untersuchungshaft nicht unverhältnismäßig ist. Nach § 72 a JGG ist die Jugendgerichtshilfe unverzüglich von der Vollstreckung eines Haftbefehls zu unterrichten; sie hat nach § 38 Abs. 2 Satz 3 JGG in Haftsachen beschleunigt über das Ergebnis ihrer Nachforschungen zu berichten.
b) Diesen Anforderungen werden die Entscheidungen der Vorinstanzen nicht vollständig gerecht. Im landgerichtlichen Beschluss vom 12.6.2007 und in der Nichtabhilfeentscheidung des Landgerichts finden sich zu § 72 JGG und zur Frage der Subsidiarität der Untersuchungshaft keine Ausführungen, ebenso nicht im Haftbefehl. Lediglich in der Nichtabhilfeentscheidung des Amtsgerichts wird ausgeführt, dass Erziehungsanordnungen oder andere Maßnahmen wie etwa eine Heimunterbringung angesichts des Werdegangs der Angeschuldigten "erkennbar sinnlos" bzw. "aussichtslos" erscheinen. Diese Sichtweise kann der Senat nicht teilen. Sie ist ohne Einschaltung der Jugendgerichtshilfe nicht tragfähig. Ihr steht auch entgegen, dass die Angeschuldigte ausweislich der Berichte der Bewährungshelferin in dem Verfahren 646 Ls 492/04 durchaus zu Wohlverhalten in der Lage ist und in dem Schulprojekt für Roma-Flüchtlingskinder "Amaro Kher" zur Zufriedenheit der Leitung der Einrichtung gearbeitet hat. Ansätze für Erziehungsmaßnahmen können daher nicht von vorneherein verneint werden.
Außerdem ist als Alternative zur Untersuchungshaft eine auswärtige - möglichst geschlossene - Heimunterbringung, die sich als weniger belastende Maßnahme im Sinne des § 72 JGG darstellt, in Betracht zu ziehen, mit der die Angeschuldigte bis zur Beendigung des Verfahrens dem sozialen Milieu ferngehalten werden kann, aus dem heraus es zu den Straftaten kommt. Dass die Angeschuldigte in wenigen Monaten volljährig wird, rechtfertigt keine andere Beurteilung. Soweit von ihrer Mutter - die entgegen § 67 Abs. 2 JGG vom Termin zur Verkündung des Haftbefehls nicht benachrichtigt worden ist - eine erzieherische Einwirkung nicht (mehr) zu erwarten ist, stellt sich das gesetzliche Gebot der Einschaltung der Jugendgerichtshilfe um so dringlicher. Der Zeitraum bis zur Volljährigkeit stellt sich als möglicherweise letzte Chance dar, auf die Entwicklung der Angeschuldigten noch Einfluß nehmen zu können.
5. Der Senat ist an einer eigenen Sachentscheidung gehindert, weil bislang die tatsächlichen Voraussetzungen für eine eventuell in Betracht kommende Aufhebung des Haftbefehls oder jedenfalls eine Haftverschonung nicht abgeklärt sind. Der Senat hat lediglich - aber immerhin - in Erfahrung gebracht, dass die Angeschuldigte in einem Heim in T untergebracht werden könnte. Sofern dieses Heim über keine geschlossene Einrichtung verfügen sollte, wird notfalls auch unter Einschaltung des Justizministeriums NRW eine geeignete Einrichtung in Erfahrung zu bringen sein.
Die näheren Einzelheiten hierzu und sonst nötige Ermittlungen, an denen neben der Jugendgerichtshilfe auch die Mutter der Angeschuldigten zu beteiligen ist, überträgt der Senat dem mit den Gegebenheiten am besten vertrauten Amtsgericht, das die Sache demnächst auch zu verhandeln hat. Das wäre die in der Sache erforderliche Entscheidung gewesen, die nach § 309 Abs. 2 StPO bereits die Beschwerdekammer zu treffen gehabt hätte.
Der Senat weist abschließend daraufhin, dass das Amtsgericht erwägen sollte, die neue Entscheidung aufgrund mündlicher Verhandlung nach § 118 Abs. 2 StPO zu treffen.
Die Kostenentscheidung ist dem Amtsgericht vorzubehalten.
Ende der Entscheidung
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