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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Köln
Beschluss verkündet am 12.11.2008
Aktenzeichen: 2 Ws 488/08
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 270
1. Es wird daran festgehalten, dass eine (bindende) Verweisung gemäß § 270 StPO wegen Überschreitung der Strafgewalt des Amtsgerichts erst bei feststehendem Schuldspruch und ausreichend verfestigter Straferwartung in Betracht kommt.

2. In besonders gelagerten Einzelfällen ( hier : Verstreichenlassen von 10 Monaten zwischen Eingang der Akten bei dem Landgericht und der Rückverweisung an das Amtsgericht; Beantwortung von wiederholten Sachstandsanfragen der Staatsanwaltschaft mit dem Hinweis, die Sache könne derzeit nicht verhandelt werden; besonderer Umfang der Sache) kann der Verweisungsbeschluß gleichwohl als wirksam zu beurteilen sein.


Tenor:

Das Landgericht Köln - 9. große Strafkammer - ist für die Durchführung des Hauptverfahrens über die öffentliche Klage der Staatsanwaltschaft Köln vom 29.01.2007 - 115 Js 105/05 - zuständig.

Gründe:

I.

Mit Datum vom 29.01.2007, bei Gericht eingegangen am 01.02.2007, hat die Staatsanwaltschaft Köln Anklage gegen die vier Angeklagten wegen gewerbs- und bandenmäßigen Betrugs, der zudem mit der Absicht, durch die fortgesetzte Begehung von Betrug eine große Anzahl von Menschen in die Gefahr des Verlustes von Vermögenswerten zu bringen, begangen wurde, zum Amtsgericht - Schöffengericht - Köln erhoben und gemäß § 29 Abs. 2 GVG die Zuziehung eines zweiten Berufsrichters beantragt. Den Angeklagten liegt zur Last, geschädigten Anlegern vorgespiegelt zu haben, man werde die Anlagefirmen auf Schadensersatz in Anspruch nehmen und hierfür Vorschüsse in einer Größenordnung von insgesamt über 400.000,-- € erhalten zu haben. Nach der Anklage haben sich die Angeschuldigten I., N. und O. - wenn auch in verschiedenen Punkten wesentlich voneinander abweichend - zur Sache eingelassen.

Mit Beschluss vom 28.06.2007 ist die Anklage gegen die Angeklagten I., N. und O. wegen gemeinschaftlichen und gewerbsmäßigen Betruges zugelassen und das Hauptverfahren vor dem erweiterten Schöffengericht Köln eröffnet und Termin zur Hauptverhandlung auf den 24.08.2007 und fünf eventuelle weitere Termine vom 25.10. bis zum 09.11.2007 bestimmt worden, nachdem der Vorsitzende des Schöffengerichts zuvor (nämlich am 02.02. und am 06.06.2007) die Abgabe an die für Wirtschaftsstrafsachen zuständige Schöffenabteilung des Amtsgerichts Köln versucht hatte. Nach Festnahme des flüchtig gewesenen Angeschuldigten P. ist auch gegen ihn das Hauptverfahren wegen gemeinschaftlichen und gewerbsmäßigen Betruges mit Beschluss vom 24.07.2007 eröffnet worden.

Im - nach Vertagung am 24.08.2007 neuen - Hauptverhandlungstermin vom 26.10.2007 erklärten die Angeklagten I. und N., zur Äußerung zur Sache nicht bereit zu sein, während die Angeklagten O. und P. erklärten, Angaben machen zu wollen. Nach einer 50-minütigen Hauptverhandlung hat das erweiterte Schöffengericht gem. § 270 StPO das Verfahren an die Große Strafkammer des Landgerichts Köln verwiesen und zur Begründung unter anderem ausgeführt:

"Dies stellt einen gewerbsmäßigen und bandenmäßigen Betrug dar, der darauf gerichtet ist, eine große Zahl von Menschen - hier 133 - in die Gefahr des Verlusts von Vermögenswerten zu bringen und der letztlich insgesamt einen hohen Schaden von rund vierhunderttausend Euro angerichtet hat. Für jede einzelne vollendete Tat bedeutet dies eine Mindeststrafe von 1 Jahr.

Bei der letztlich zu bestimmenden Gesamtstrafe kann deshalb nach Ansicht des Gerichts der Strafrahmen des Schöffengerichts von 4 Jahren möglicherweise nur ausreichen, wenn die Angeklagten ein Geständnis ablegen und dem Gericht damit eine ausgesprochen umfangreiche Beweisaufnahme ersparen. Immerhin wären mindestens 88 Zeugen zu vernehmen.

Ein derartiges Geständnis aller 4 Angeklagten, die sich bisher im wesentlichen gegenseitig belasten, ist allerdings nicht gegeben. Selbst wenn teilweise Geständnisse vorlägen, wäre eine Verfahrenstrennung angesichts des Vorwurfs der bandenmäßigen Begehungsweise nicht tunlich. Insoweit haben die Verteidiger zu 1. und 2. dem auch ausdrücklich widersprochen."

Die Akten sind bei dem Landgericht am 02.11.2007 eingegangen. Auf Sachstandsanfragen der Staatsanwaltschaft vom 17.03. und 08.04.2008 teilte der Vorsitzende der 9. großen Strafkammer am 10.04.2008 mit, dass die Belastungssituation der Kammer derzeit eine zeitliche Perspektive für eine Verhandlung nicht ermögliche. Auf erneute Sachstandsanfrage teilte der Vorsitzende am 28.05.2008 an die Staatsanwaltschaft mit,

"dass das Strafverfahren gegen O. u.a. - insgesamt 4 Angeklagte - durch Beschluss des AG Köln vom 26.10.07 gem. § 270 StPO an das Landgericht Köln - gr. Strafkammer - verwiesen worden ist; das AG hielt seine Strafgewalt für unzureichend. Seit dem 5.11.07 ist das Verfahren bei meiner Kammer anhängig. Eine terminliche Perspektive für eine erneute Hauptverhandlung kann ich derzeit noch nicht aufzeigen."

Am 22.07.2008 teilte der Vorsitzende der Staatsanwaltschaft auf deren Sach-standsanfrage mit, dass das Verfahren zur Zeit noch nicht zu einer Hauptverhandlung geführt werden könne, da die Kammer mit mehreren früher eingegangenen Strafverfahren beschäftigt sei und schlug Sachstandsanfragen im Abstand von 3 Monaten vor.

Mit Beschluss vom 02.09.2008 verwies das Landgericht das Verfahren an das Amtsgericht - Schöffengericht - zurück. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass der Verweisungsbeschluss vom 26.10.2007 offenkundig gesetzwidrig sei und damit keine Bindungswirkung entfalte. Die Verweisung sei willkürlich ergangen, das Amtsgericht hätte die Beweisaufnahme soweit betreiben müssen, bis es sich von der Schuld der Angeklagten und seiner unzureichenden Strafgewalt überzeugt hätte. Eine auf neuen Feststellungen beruhende oder eine sog. korrigierende Verweisung liege nicht vor. Von einer Vorlage an das Oberlandesgericht nach §§ 14, 19 StPO analog hat das Landgericht ausdrücklich abgesehen.

Mit Beschluss vom 10.09.2008 hat das Amtsgericht das Verfahren gemäß §§ 14, 19 StPO analog dem Oberlandesgericht Köln zur Entscheidung darüber vorgelegt, dass das Landgericht - Wirtschaftsstrafkammer - Köln zur weiteren Bearbeitung zuständig ist.

II.

1.

Die Vorlage ist in entsprechender Anwendung der §§ 14, 19 StPO zulässig. Das Oberlandesgericht hat danach als das gemeinschaftliche obere Gericht das für die weitere Verhandlung und Entscheidung zuständige Gericht zu bestimmen. Das gilt auch dann, wenn - wie hier - die Zuständigkeit von der Klärung der Wirksamkeit und damit der Bindungswirkung eines Verweisungsbeschlusses abhängt (Senatsentscheidungen vom 21.07.2006 - 2 Ws 345/06, 09.12.05 - 2 Ws 595/05, 30.05.1995 - 2 Ws 215/95 - und 28.11.2000 - 2 Ws 631/00 -; BGH NStZ 1999, 524 ff.; Hanseatisches OLG Bremen, StV 1998, 558 S.; OLG Frankfurt NStZ-RR 1927 311, StV 1996, 533; OLG Düsseldorf JMBl. NW. 1979, 152, NStZ 1986, 426).

2.

Zuständig für die weitere Durchführung des Verfahrens 115 Js 105/05 Staatsanwaltschaft Köln ist das Landgericht - 9. große Strafkammer - Köln. An dieses Gericht hat das Amtsgericht - Schöffengericht - Köln die Sache in bindender Weise verwiesen.

a)

aa) An eine nach Beginn der Hauptverhandlung gemäß § 270 StPO ergangene Verweisung ist das Gericht höherer Ordnung grundsätzlich gebunden, selbst wenn der diesbezügliche Beschluss formell oder sachlich fehlerhaft sein sollte (Senat aaO; BGHSt. 29, 216 [219] = NJW 1980, 1586; OLG Bamberg, NStZ-RR 2005, 377; OLG Frankfurt, StV 1996, 533; OLG Zweibrücken, MDR 1992, 178; OLG Düsseldorf, NStZ 1986, 426 [427]; Gollwitzer in: Löwe/Rosenberg, StPO, 25. Auflage 2001, § 270 Rz. 37; Engelhardt in: Karlsruher Kommentar zur StPO, 6. Auflage 2008, § 270 Rz. 23; N.-Goßner, StPO, 50. Auflage 2008, § 270 Rz. 19).

Allerdings entfällt die Bindungswirkung, wenn die Verweisung mit dem Grundprinzip der rechtsstaatlichen Ordnung in Widerspruch steht, der Mangel für einen verständigen Betrachter offenkundig ist und die Entscheidung nicht mehr vertretbar erscheint (BGHSt. 29, 216 [219]). Dabei ist insbesondere der Gesichtspunkt von Bedeutung, ob sich das verweisende Gericht so weit von dem durch Artikel 101 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz vorgegebenen Grundsatz des gesetzlichen Richters entfernt hat, dass die Entscheidung nicht mehr zu rechtfertigen ist (Senat vom 21.07.2006 - 2 Ws 345/06; BGH NJW 1980, 1586; OLG Bamberg, NStZ-RR 2005, 377; OLG Zweibrücken, NStZ-RR 1998, 280; OLG Hamm, MDR 1993, 1002; OLG Frankfurt, NStZ-RR 1996, 338 = StV 1996, 553; OLG Karlsruhe, JR 1991, 36; OLG Düsseldorf, NStZ 1986, 426; Gollwitzer, aaO, § 270 Rz. 37).

In Anwendung dieser Kriterien hat der Senat in der Vergangenheit - in Übereinstimmung mit der einhelligen Auffassung in Rechtsprechung und Kommentarliteratur - mehrfach ausgesprochen, dass wegen unzureichender Strafgewalt des Amtsgerichts an das Landgericht erst verwiesen werden darf, wenn die Verhandlung so weit geführt worden ist, dass der Schuldspruch feststeht, und wenn sich die Straferwartung so weit verfestigt hat, dass nicht mehr zu erwarten ist, eine mildere Beurteilung werde noch eine Strafe im Rahmen der Strafgewalt als ausreichend erscheinen lassen (Senatsentscheidungen vom 28.11.2000 - 2 Ws 631/00, vom 09.12.05- 2 Ws 595/05 und vom 21.07.2006 - 2 Ws 345/06; BGHSt 45, 58, 60; OLG Hamm, B. v. 22.04.2008 - 3 (s) Sbd I 8/08, zitiert nach juris; OLG Düsseldorf NStZ 1986, 426; HansOLG Bremen StV 1998,558; Gollwitzer in: Löwe-Rosenberg; StPO, 25. Auflage 2001, § 270 Rz. 19; N.-Goßner, StPO, 50.Auflage, § 270 Rn 10 ; KMR-Voll, § 270 Rz. 16 jew. mit weit. Nachw.).

Für den vorliegenden Fall ist festzustellen, dass das Amtsgericht die Sache nach nur 50-minütiger Hauptverhandlung, der Erklärung zweier Angeklagter, sich zur Sache äußern zu wollen und der Erklärung zweier weiterer, keine Angaben machen zu wollen sowie nach Erörterung der Sach- und Rechtslage verwiesen hat. Zeugen waren - ebenso wie zum ersten Hauptverhandlungstermin vom 24.08.2008 - nicht geladen. Bei dieser Sachlage kann ersichtlich keine Rede davon sein, dass am 26.10.2007 die Verhandlung bereits so weit geführt worden war, dass der Schuldspruch und auf seiner Grundlage die konkrete Straferwartung feststand. Hieran ändert der Umstand nichts, dass zwei der Angeklagten bereit waren, Angaben zu machen. Im Ermittlungsverfahren hatte sich zwar lediglich der Angeklagte P. nicht zur Sache eingelassen, die übrigen Angeklagten hatten sich ihrerseits aber nicht zu den Tatvorwürfen bekannt. Nach der Darstellung in der Anklageschrift waren vielmehr - auch wenn der Angeklagte O. im Hafttermin vom 23.10.2007 erklärt hatte, er trete dem Anklagevorwurf "nicht mehr gänzlich entgegen" - Einlassungen in die Richtung zu erwarten, dass die den Tatopfern angekündigte Prozessführung tatsächlich beabsichtigt gewesen sei. Von einer substantiellen Verschlechterung der Beweissituation gegenüber der Eröffnungsentscheidung kann vor diesem Hintergrund nicht ausgegangen werden.

bb) Entgegen der von der Generalstaatsanwaltschaft geäußerten Rechtsauffassung kann im vorliegenden Fall auch nicht von einer sog. "korrigierenden Verweisung" gesprochen werden. Hiermit sind Fälle gemeint, in denen sich bereits aus der Verlesung der Anklageschrift ohne jede weitere Beweisaufnahme die Unzuständigkeit des angerufenen Gerichts ergibt, das seinerseits die Sache nur gleichsam "aus Versehen" vor sich eröffnet hat (etwa, weil ein schwerer Raub gem. § 250 Abs. 2 StGB zum Schöffengericht angeklagt war, vgl. Thüringer Oberlandesgericht, B. v. 18.09.2000 - AR (S) 146/00 = StraFo 2000; 411; s. weiter BGHSt 45, 58; OLG Hamm, B. v. 22.04.2008 - 3 (s) Sbd I 8/08, zitiert nach juris; OLG Frankfurt, NStZ-RR 1996, 338 = StV 1996, 533). Aus der Anklage ergibt sich, dass die Staatsanwaltschaft das Verhalten der Angeklagten als - u.a. - gewerbs- und bandenmäßigen Betrug im Sinne von § 263 Abs. 5 StGB mit der Folge einer auf ein Jahr erhöhten Mindeststrafdrohung gewertet hat, während beide Eröffnungsbeschlüsse die Tatbezeichnung "gemeinschaftlicher und gewerbsmäßiger Betrug" ausweisen. Selbst wenn hiermit eine von der Anklage abweichende - dann allerdings entgegen § 207 Abs. 2 Ziff. 3 StPO nicht näher dargelegte - rechtliche Würdigung verbunden sein sollte, bleibt zu sehen, dass auch der gewerbsmäßig begangene Betrug regelmäßig mit einer Mindeststrafe von sechs Monaten bedroht ist (§ 263 Abs. 2 Ziff. 1 StGB) und die Höchststrafe bei beiden Begehungsformen 10 Jahre beträgt. Auch sieht das Gesetz in minder schweren Fällen des Abs. 5 einen Strafrahmen von sechs Monaten (insoweit identisch mit § 263 Abs. 2 StGB) bis zu fünf Jahren vor. Bei dieser Sachlage reicht die bloße Lektüre der Anklageschrift nicht hin, um den Strafbann des Amtsgerichts als überschritten anzusehen.

Gegen eine versehentliche Eröffnung spricht schließlich auch der zweimalige Versuch, die Sache an die für Wirtschaftstrafsachen zuständige Schöffenabteilung des Amtsgerichts Köln abzugeben, zumal das Schöffengericht sich selbst auch gar nicht auf ein Versehen oder Übersehen beruft (s. dazu OLG Frankfurt, NStZ-RR 1996, 338 = StV 1996, 533).

b)

Besondere Umstände des hier zu beurteilenden Einzelfalles bringen den Senat gleichwohl zu der Auffassung, dass die erfolgte Verweisung als wirksam zu behandeln ist.

aa) Wie vorstehend bereits dargestellt, entfällt die Bindungswirkung eines Verweisungsbeschlusses (nur) dann, wenn die Verweisung mit dem Grundprinzip der rechtsstaatlichen Ordnung in Widerspruch steht, der Mangel für einen verständigen Betrachter offenkundig ist und die Entscheidung nicht mehr vertretbar erscheint (BGHSt. 29, 216 [219]; Senat vom 21.07.2006 - 2 Ws 345/06; OLG Frankfurt, NStZ-RR 1996, 338 = StV 1996, 533; Engelhardt in: Karlsruher Kommentar zur StPO, 6. Auflage 2008, § 270 Rz. 26). Im vorliegenden Falle sind zwischen dem Eingang der Akten bei dem Landgericht und der (Rück)Verweisung an das Schöffengericht zehn Monate verstrichen. In dieser Zeit hat die Strafkammer nicht etwa Zweifel an der Wirksamkeit der Verweisung geäußert, sondern auf Sachstandsanfragen der Staatsanwaltschaft lediglich mitgeteilt, dass eine zeitliche Perspektive für die Terminierung der Sache nicht aufgezeigt werden könne. Noch am 22.07.2008 teilte der Vorsitzende der Staatsanwaltschaft auf deren Sachstandsanfrage mit, dass das Verfahren zur Zeit noch nicht zu einer Hauptverhandlung geführt werden könne, da die Kammer mit mehreren früher eingegangenen Strafverfahren beschäftigt sei und schlug Sachstandsanfragen im Abstand von drei Monaten vor. Bei dieser Sachlage kann nicht davon gesprochen werden kann, der Mangel des Verweisungsbeschlusses sei für einen verständigen Betrachter in einer Weise offenkundig, dass er dem Beschluss gleichsam "auf die Stirn geschrieben" sei. Die lange Zeitdauer zwischen dem Eingang der Akten und der Rückverweisung an das Amtsgericht spricht vielmehr deutlich dafür, dass der die (ausnahmsweise) Unwirksamkeit des Verweisungsbeschlusses begründende Mangel eben nicht in diesem Sinne "offenkundig" war; ansonsten hätte die Strafkammer innerhalb deutlich kürzerer Frist entscheiden können und müssen.

bb) Unter dem Gesichtspunkt der Vertretbarkeit der Verweisungsentscheidung ist zu sehen, dass der besondere Umfang der Sache (§ 24 Abs. 1 Ziff. 3 GVG) von vorneherein die Anklage zur großen Strafkammer ermöglicht hätte. Von "besonderem Umfang" ist auszugehen, wenn die Sache wegen einer Vielzahl von Angeklagten und/oder einer Vielzahl von Zeugen, wegen besonderer Schwierigkeiten bei der Beweiswürdigung oder wegen absehbar langer Verfahrensdauer in einem Maße umfangreich ist, das auch durch die Zuziehung eines weiteren Richters am Amtsgericht gem. § 29 Abs. 2 GVG nicht sachgerecht bewältigt werden kann (Senat vom 26.04.2006 - 2 Ws 167-168/06; N.-Goßner, StPO, 51. Auflage 2008, § 24 GVG Rz. 7; Hannich in: Karlsruher Kommentar zur StPO, 6. Auflage 2008, § 24 GVG Rz. 6b jew. mit weit. Nachw.). Stets ist erforderlich, dass sich die Sache aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen deutlich aus der großen Masse der Verfahren, die denselben Tatbestand betreffen, heraushebt (OLG Karlsruhe, B. v. 16.10.2000 - 2 Ws 304/99 = StV 2003, 13). Der Senat (B. v. 26.04.2006, aaO) hat in der Vergangenheit das Vorliegen eines "besonderen Umfangs" bei einer Strafsache mit acht Angeklagten und dreißig Zeugen bejaht, allerdings angenommen, dass dieser durch die Zuziehung eines weiteren Richters am Amtsgericht (noch) bewältigt werden könne. Vorliegend handelt es sich um eine Strafsache mit vier Angeklagten und 88 Zeugen. Für die Verlesung der Anklage und die Angaben der äußerungsbereiten Angeklagten zur Person und zur Sache sind nach Auffassung des Senats eineinhalb bis zwei Verhandlungstage erforderlich; die Vernehmung der 88 Zeugen erfordert auch bei günstigster Terminsplanung (20 Minuten pro Zeuge bei sechs Nettostunden Verhandlungsdauer je Hauptverhandlungstag) nahezu fünf volle Verhandlungstage. Noch nicht einmal berücksichtigt ist hierbei, dass zum Aktenmaterial neben mehreren Beiakten auch 12 Sonderhefte Kontounterlagen, Finanzermittlungen und dergl. gehören und ggf. in größerem Umfang die Verlesung von Urkunden bzw. deren Einführung im - gleichfalls zeitaufwändigen - Selbstleseverfahren in Betracht kommt. Der Senat neigt - ohne dass es insoweit einer abschließenden Entscheidung bedürfte - der Auffassung zu, dass bei einer solchen Sachlage die Strafsache auch unter Zuziehung eines weiteren Berufsrichters mit den Ressourcen des Schöffengerichts nicht bewältigt werden kann, ohne dass dies an anderer Stelle des schöffenrichterlichen Dezernats zu einem zeitweisen Stillstand der Rechtspflege führen müsste (vgl. KG, NStZ-RR 2005, 26).

cc) Schließlich darf nicht übersehen werden, dass die (Rück)Verweisung der Sache an das Amtsgericht zu einer weiteren Verfahrensverzögerung führen würde. Gemäß Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK haben indessen die Angeklagten ein Recht darauf, dass ihr Verfahren innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. Zwar lässt sich die Länge der "angemessenen Frist" nicht abstrakt bestimmen (Schädler in: Karlsruher Kommentar zur StPO, 6. Auflage 2008, Art. 6 EMRK Rz. 34), seit Anklageerhebung sind aber bereits fast zwei Jahre ohne echte Verfahrensförderung verstrichen, wovon immerhin zehn Monate der landgerichtlichen Sachbehandlung geschuldet sind. Ebenso, wie im jugendgerichtlichen Verfahren eine (an sich gem. § 42 Abs. 3 JGG mögliche) Verweisung unterbleiben sollte, wenn sie zu erheblichen Verfahrensverzögerungen führen würde (Eisenberg, JGG, 11. Auflage 2006, § 42 Rz. 19a), streitet nach Auffassung des Senats auch im vorliegende Fall der - auch außerhalb des Haftrechts Geltung beanspruchende, aus dem allgemeinen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit abgeleitete (BVerfG, NJW 2003, 2897 [2898]) - Beschleunigungsgrundsatz dafür, die Sache bei dem Landgericht zu belassen.

Nach alledem ist das Landgericht Köln - 9. große Strafkammer - ist für die Durchführung des Hauptverfahrens über die öffentliche Klage der Staatsanwaltschaft Köln vom 29.01.2007 - 115 Js 105/05 - zuständig.

Ende der Entscheidung

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