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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Köln
Beschluss verkündet am 01.07.2009
Aktenzeichen: 2 Ws 69/09
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 210 Abs. 2
StPO § 400 Abs. 2 S. 1
Feststellung der Verhandlungsfähigkeit eines wegen Ermordung von drei niederländischen Staatsbürgern im Jahre 1944 angeklagten 87-jährigen früheren SS-Angehörigen trotz schwerer Herzerkrankung.
Tenor:

Unter Abänderung des angefochtenen Beschlusses wird die Anklage der Staatsanwaltschaft D. vom 14.04.2008 zugelassen und das Hauptverfahren vor dem Landgericht A. - Schwurgerichtskammer - eröffnet.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens trägt der Angeschuldigte, der auch die dem Nebenkläger hierin entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen hat.

Gründe:

I.

Der 87-jährige Angeschuldigte ist, nachdem ein früheres Ermittlungsverfahren im Jahre 1984 eingestellt worden war und der Senat den Antrag der Niederlande auf Übernahme der Vollstreckung der gegen ihn in Abwesenheit durch Urteil eines niederländischen Gerichts im Jahre 1949 verhängten, später in lebenslange Freiheitsstrafe umgewandelten Todesstrafe mit Beschluß vom 03.07.2007 - 2 Ws 156/07 - wegen Nichteinhaltung rechtsstaatlicher Mindeststandards (der Angeschuldigte war vor dem Sondergerichtshof in Amsterdam nicht durch einen Verteidiger vertreten) abgelehnt hat, mit Anklageschrift der Zentralstelle im Lande Nordrhein-Westfalen für die Bearbeitung nationalsozialistischer Massenverbrechen bei der Staatsanwaltschaft Dortmund vom 14.04.2008 vor dem Schwurgericht in Aachen wegen Ermordung von drei niederländischen Staatsbürgern im Jahre 1944 angeklagt worden. Die Tötungsdelikte waren im Rahmen der sog. Aktion "Silbertanne" von der deutschen Besatzungsmacht als "Vergeltungsmaßnahmen" gegen Widerstandsaktionen der niederländischen Untergrundsbewegung begangen worden.

Durch den angefochtenen Beschluß hat das Schwurgericht nach Einholung eines Sachverständigengutachtens, das durch den Direktor des Herzzentrums der Universität Köln, Herrn Prof. Dr. E. unter dem 06.12.2008 erstattet und mit Schreiben vom 18.12.2008 ergänzt wurde, die Eröffnung des Hauptverfahrens aus rechtlichen Gründen wegen eines aufgrund dauerhafter Verhandlungsunfähigkeit des Angeschuldigten angenommenen Verfahrenshindernisses abgelehnt.

Der Sachverständige hat das Ergebnis seiner Untersuchungen wie folgt zusammengefasst :

"Bei Herrn B. liegt eine fortgeschrittene chronisch, progressiv verlaufende kardiopulmonale Erkrankung - schwerste chronische (Ruhe)-Herzinsuffizienz basierend auf einer koronaren Herzerkrankung und arteriellen Hypertonie - mit hoher Mortalitätsrate vor. Die funktionelle Belastungskapazität und damit die physischen Eigenschaften von Herrn B. werden als schwer eingeschränkt eingestuft. Durch psychische Belastungssituationen, wie z.B. im Rahmen einer Verhandlung, kann eine akute kardiale Dekompensation bis hin zum Herz-Kreislaufversager induziert werden. In Anbetracht des multimorbiden Gesamtbildes (siehe oben) mit deutlich erhöhter Mortalität und erhöhtem gesundheitlichen Risiko während einer Verhandlung meinen wir, dass eine Verhandlungsfähigkeit nicht gegeben ist."

Auf Nachfrage des Schwurgerichts zu einer ggfs eingeschränkten Verhandlungsfähigkeit hat der Sachverständige mit Schreiben vom 18.12.2008 folgendes ausgeführt :

"Ihre Frage, ob eine Verhandlungsfähigkeit grundsätzlich vorliegen würde, oder ob der Zustand von Herrn B. eine Verhandlungsdauer von einer oder wenigen Stunden pro Verhandlungstag zulassen würde kann ich folgendermaßen beantworten:

Herr B. leidet an einer schweren koronaren Herzerkrankung mit Z. n. Herzinfarkt im April 2008 mit jetzt ausgeprägter Herzinsuffizienz Stadium IV und Z. n. mehrfachen Dekompensationen sowie der Notwendigkeit einer Langzeitsauerstofftherapie neben vielen anderen Erkrankungen, die wir in unserem Gutachten festgelegt haben. Unter meiner Aufsieht konnte Herr B. nur 65 Meter zu ebener Erde mit Hilfeleistung gehen und musste wegen Luftnot viermal seinen Gang unterbrechen und stehen bleiben. In dieser Situation, bei schwerer koronarer Herzerkrankung und Z. n. Herzinfarkt in diesem Jahr ist keine Verhandlungsfähigkeit gegeben. Der Patient ist ruhedyspnoeisch und benötigt permanent Sauerstoff. Jede Aufregung, die er im übrigen wahrscheinlich tolerieren würde, kann zu einer erneuten Dekompensation führen."

Dieser Beurteilung hat sich das Landgericht in der angefochtenen Entscheidung angeschlossen, gegen die die Staatsanwaltschaft sowie der Nebenkläger jeweils sofortige Beschwerde eingelegt und diese mit Schriftsätzen vom 23.01.2009 bzw. vom 04.02.2009 begründet haben. Der Nebenkläger geht davon aus, dass der Angeschuldigte in der Lage sei, an einer Hauptverhandlung zumindest eingeschränkt teilzunehmen. Die Staatsanwaltschaft meint, das Landgericht stelle einseitig auf die physische Verfasstheit des Angeschuldigten ab, der trotz seiner schwerwiegenden Herzerkrankung in der Lage sei, den Anklagevorwurf zu erfassen und Entscheidungen zur Wahrnehmung seiner Rechte eigenständig zu treffen. Eine konkrete Gefahr, dass der Angeschuldigte durch das Verfahren sein Leben einbüßen könnte, sei nicht feststellbar. Das mit der schweren Erkrankung verbundene allgemeine Lebensrisiko hindere die Durchführung der Hauptverhandlung nicht. Die Generalstaatsanwaltschaft in Hamm ist dem Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft beigetreten.

Der Senat hat mit Beschluß vom 09.03.2009 zur Klärung des aktuellen Gesundheitszustandes des Angeschuldigten die Befragung des Pflegepersonals der Einrichtung, in der der Angeschuldigte lebt, angeordnet. Daraufhin sind am 18.05.2009 der Leiter der Einrichtung sowie die Pflegedienstleiterin zeugenschaftlich vernommen worden. Die Verteidigung des Angeschuldigten hat rechtliches Gehör zu den Rechtsmitteln erhalten und hat der Zeugenvernehmung beigewohnt.

II.

Die Rechtsmittel sind gemäß §§ 210 Abs. 2, 400 Abs. 2 S.1 StPO statthaft und form- und fristgerecht ( § 311 Abs. 2 StPO) eingelegt worden. Sie haben in der Sache Erfolg.

Der Senat vermag abweichend vom Landgericht auf der Grundlage der zusätzlich gewonnenen Erkenntnisse von dauernder Verhandlungsunfähigkeit des Angeschuldigten nicht auszugehen.

1. Für die strafrechtliche Verhandlungsfähigkeit genügt es grundsätzlich, dass der Angeklagte die Fähigkeit hat, in und außerhalb der Verhandlung seine Interessen vernünftig wahrzunehmen, die Verteidigung in verständiger und verständlicher Weise zu führen, Prozeßerklärungen abzugeben oder entgegenzunehmen (BGH NStZ 96, 242).

a) In dieser Hinsicht bestehen gegen die Annahme der Verhandlungsfähigkeit des Angeschuldigten keine durchgreifenden Bedenken. Nach dem Sachverständigengutachten von Prof. Dr. E. befand sich der Angeschuldigte bei der im November 2008 durchgeführten Begutachtung in einem ausgeglichenen psychischen Zustand, Anzeichen einer Demenz oder einer Depression fanden sich nicht, Konzentration und Gedächtnis waren unauffällig, so dass die psychomentale Leistungsfähigkeit insgesamt als normal eingestuft wurde. Die Befragung des Leiters der Seniorenresidenz und der Leiterin des Pflegedienstes zum aktuellen Zustand des Angeschuldigten im Mai 2009 hat insoweit keine Hinweise auf eine Verschlechterung ergeben, sondern das von dem Sachverständigen geschilderte Bild bestätigt. Die Zeugen haben angegeben, dass der Angeschuldigte am Alltagsleben der Einrichtung teilnimmt, insbesondere an den gemeinsamen Mahlzeiten, wozu er - im Rollstuhl - selbständig das Restaurant aufsucht. Sofern er Hilfe benötigt, etwa beim An-und Auskleiden oder beim (nächtlichen) Wechsel von Urinflaschen und Vorlagen, meldet er sich beim Pflegepersonal. Er nehme, wenn er sich wohlfühle, an Ausflügen teil und erscheine regelmäßig zu den Festen. Soweit die Zeugin H. den Angeschuldigten als "zeitweise desorientiert" beschrieben hat, bezieht sich diese Beobachtung darauf, dass er Termine und Absprachen vergißt, was über eine altersgemäße Vergeßlichkeit nicht hinausgeht.

b) Soweit sich daraus - wie auch aufgrund der geringen körperlichen Belastbarkeit des Angeschuldigten - Einschränkungen der Verhandlungsfähigkeit ergeben, kann dem durch angepaßte Verhandlungsführung (etwa Pausen, Unterbrechungen, ärztliche Betreuung) begegnet werden.

2. Die Annahme der Verhandlungsfähigkeit verletzt nicht die durch die Rechtsprechung des BVerfG gezogenen verfassungsrechtlichen Grenzen. (vgl dazu grundlegend BVerfGE 51, 324 = NJW 79, 2349; fortgeführt durch BVerfG Beschluss vom 22.9.1993 - 2 BvR 1732/93 = NStZ 93,598; vom 24.2.1995 - Kammerbeschluß - 2 BvR 345/95 = NJW 95,1951(Fall Mielke); vom 20.9.2001 - Kammerbeschluß - 2 BvR 1349/01 = NJW 02,51; vom 8.6.2004 - Kammerbeschluß - 2 BvR 785/04 = NJW 05, 2382).

a) Ausgangspunkt der verfassungsrechtlichen Prüfung ist die Abwägung zwischen der Pflicht des Staates zur Gewährleistung einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege mit dem durch Art. 2 Abs. 2 GG geschützten Interesse des Angeschuldigten an seiner körperlichen Unversehrtheit.

Danach kann eine der Durchführung des Strafverfahrens entgegenstehende Verhandlungsunfähigkeit nur angenommen werden, wenn die Fortführung des Verfahrens, namentlich die Durchführung der Hauptverhandlung mit einer an allen maßgeblichen Umständen des Falles zu prüfenden konkreten Lebens- oder schwerwiegenden Gesundheitsgefährdung verbunden ist. Die Abwägung führt zu dem Ergebnis, dass der Angeschuldigte die Durchführung des Strafverfahrens hinzunehmen hat.

b) Der Senat legt seiner Entscheidung entsprechend den Ausführungen des Sachverständigen zugrunde, dass der Angeschuldigte im April 2008 einen Herzinfarkt erlitten hat, sich deswegen vom 4.4. bis 23.4. sowie vom 30.4. bis zum 20.5.2008 in stationärer Behandlung befand, dass er an einer schweren koronaren Herzerkrankung mit ausgeprägter Herzinsuffizienz im Stadium NYHA IV leidet, die zu einer höchstgradigen Einschränkung der körperlichen Leistungsfähigkeit führt, dass sich hieraus ein erhöhtes Risiko für den plötzlichen Herztod ableiten läßt, und dass es z.B. im Rahmen einer belastenden Hauptverhandlung zu einer lebensbedrohlichen akuten kardialen Dekompensation kommen kann.

c) Allerdings hatte der Senat ebenso zugrunde zu legen, dass der Angeschuldigte entgegen den Annahmen des Sachverständigen nicht - jedenfalls derzeit nicht - ständig auf die Versorgung mit Sauerstoff angewiesen ist. Nach den Schilderungen der Zeugen B. und H. steht ein Sauerstoffgerät im Zimmer des Angeschuldigten zwar für den Notfall zur Verfügung, was jedoch zuletzt vor einem halben Jahr der Fall gewesen und derzeit nicht erforderlich sei. Darüberhinaus hat der Zeuge B. angegeben, dass sich der Gesundheitszustand des Angeschuldigten seit dem letzten Krankenhausaufenthalt im Mai 2008 "zusehends verbessert habe". Seine nur eingeschränkte Pflegebedürftigkeit wird durch die Einstufung in die Pflegestufe I belegt.

3) Nach der Rechtsprechung des BVerfG vermag nur eine hinreichend sichere Prognose über den "Schadenseintritt" die Einstellung des Verfahrens (bzw. hier : die Ablehnung der Eröffnung des Verfahrens) vor der Verfassung zu rechtfertigen. Einerseits darf bei unterhalb der Wahrscheinlichkeitsgrenze liegender bloßer Möglichkeit des Todes von der Durchführung der Hauptverhandlung nicht Abstand genommen werden; andererseits dürfen die Anforderungen an die Vorhersehbarkeit von gesundheitlichen Beeinträchtigungen nicht überspannt werden. Es ist vielmehr ein dazwischen liegender spezifischer Wahrscheinlichkeitsgrad erforderlich, der sich einer genauen Quantifizierung entzieht (BVerfGE 51, 324).

4) An diesen Vorgaben gemessen hält der Senat die Durchführung der Hauptverhandlung für verantwortbar.

a) Die lebensbedrohliche Herzerkrankung des Angeschuldigten bedeutet sein allgemeines Lebensrisiko, das sich - jedenfalls bei angepaßter Verhandlungsführung - nicht noch zusätzlich in einer Weise erhöht, dass von der Hauptverhandlung Abstand genommen werden muß. Mit deren Durchführung ist keine über die latente Gefahr des plötzlichen Todes hinausgehende, sich aus der Verhandlung selbst ergebende Gefährdung des Angeschuldigten verbunden.

b) Das Angewiesensein auf den Rollstuhl steht der Durchführung der Hauptverhandlung ebenso wenig entgegen wie die mit der Inkontinenz verbundenen Unannehmlichkeiten und die schwer eingeschränkte physische Belastbarkeit. Körperlichen Anstrengungen wird der Angeschuldigte in der Hauptverhandlung nicht ausgesetzt. Dass es infolge emotionaler Belastung durch die Teilnahme an der Hauptverhandlung zu einer akuten kardialen Dekompensation kommen könnte, ist zwar nicht auszuschließen. Jedoch ist die Wahrscheinlichkeit angesichts der vom Sachverständigen geschilderten psychischen Ausgeglichenheit des Angeschuldigten - nach der plastischen Schilderung der Zeugin H. "ein Mensch von der heiteren Seite" - als eher gering anzusehen. Der Sachverständige geht selbst davon aus, dass der Angeschuldigte eine Aufregung als solche "wahrscheinlich tolerieren würde." Das gilt auch bei Berücksichtigung des Medieninteresses, das dem Verfahren entgegen gebracht wird.

c) Zu den in die Entscheidung einzubeziehenden maßgeblichen Umständen des Falles gehört auch, dass sich die Beweisaufnahme im wesentlichen in der Verlesung der in der Anklageschrift aufgeführten Urkunden (Niederschriften über die Vernehmung verstorbener Zeugen) erschöpfen wird, was für den Angeschuldigten naturgemäß eine deutlich geringere Belastung mit sich bringt als etwa die Vernehmung von noch lebenden Tatzeugen. Die Dauer der Hauptverhandlung wird sich deswegen auch in einem zeitlich überschaubaren Rahmen halten.

Ende der Entscheidung

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