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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Köln
Urteil verkündet am 26.04.2007
Aktenzeichen: 8 U 49/06
Rechtsgebiete: EStG, BGB


Vorschriften:

EStG § 23 Abs. 1
EStG § 23 Abs. 1 S. 1 b)
EStG § 23 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 b)
EStG § 23 Abs. 1 S. 1 lit. 1. b)
BGB § 280 Abs. 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Tenor:

Die Berufung des Klägers gegen das am 20.07.2006 verkündete Urteil der 2. Zivilkammer des Landgerichts Köln - 2 O 175/05 - wird zurückgewiesen.

Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt der Kläger.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird zugelassen.

Gründe:

I.

Der Kläger begehrt vom Beklagten, seinem langjährigen steuerlichen Berater, Schadensersatz wegen angeblicher Pflichtwidrigkeit im Zusammenhang mit steuerberatender Tätigkeit.

Die Mandatierung des Beklagten umfasste die laufende Beratung und beinhaltete die Erstellung der Buchführung sowie der Steuererklärungen.

Der Kläger hatte im Jahr 1997 Einkünfte aus Spekulationsgewinnen in Höhe von 450.960,00 DM erzielt, im Jahr 1998 solche in Höhe von 678.536,00 DM. Unter dem 24.01.2001 erließ das Finanzamt K. die Einkommensteuerbescheide des Klägers für die Veranlagungszeiträume 1997 und 1998. Die Bescheide gingen dem Beklagten am 24.01.2001 zu. Er legte gegen diese Bescheide keinen Einspruch ein, so dass sie mit Ablauf des 24.02.2001 bestandskräftig wurden.

Der Kläger begehrt von dem Beklagten die Leistung von Schadensersatz in Höhe von 318.712,00 €; hierbei handelt es sich um den Betrag, den er aufgrund der genannten Steuerbescheide an Spekulationssteuern entrichten musste.

Der Kläger hat die Ansicht vertreten, der Beklagte hätte gegen die genannten Einkommensteuerbescheide Einspruch einlegen müssen. Die Verfassungsmäßigkeit bzw. -widrigkeit von § 23 Abs. 1 S. 1 b) EStG sei bereits lange vor der unterlassenen Einspruchseinlegung im Februar 2001 in Rechtsprechung und Literatur intensiv thematisiert und diskutiert worden. In der Ausgabe Nr. 4 der Zeitschrift EFG im Jahr 2000 sei das Urteil des Schleswig Holsteinischen Finanzgerichts vom 23.09.1999 - V 7/99 - mit dem ausdrücklichen Hinweis abgedruckt gewesen, dass gegen dieses Urteil Revision beim Bundesfinanzhof eingelegt worden sei, auch das Aktenzeichen des Bundesfinanzhofs sei mitgeteilt worden. Damit habe bereits Anfang des Jahres 2000 festgestanden, dass beim Bundesfinanzhof ein Revisionsverfahren anhängig gewesen sei, das sich spezifisch mit der Frage der Verfassungsmäßigkeit bzw. Verfassungswidrigkeit von § 23 Abs. 1 S. 1 b) EStG befasst habe. Der Bundesfinanzhof habe dann mit Beschluss vom 16.07.2002 - IX R 62/99 - die Verfassungswidrigkeit der Vorschrift angenommen und habe eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hierzu eingeholt. Das Bundesverfassungsgericht habe die Vorschrift für verfassungswidrig erklärt. In der einschlägigen Kommentarliteratur sei bereits seit Anfang 2000 von einer Verfassungswidrigkeit der Vorschrift ausgegangen worden.

Der Kläger hat behauptet, die zur Beurteilung anstehende Frage der Verfassungswidrigkeit von § 23 Abs. 1 S. 1 lit. 1. b) EStG sei vor Ablauf der Einspruchsfrist am 24.02.2001 die vermutlich am meisten diskutierte - und insbesondere auch in der Tagespresse am meisten publizierte - Frage des Steuerrechts gewesen. Der Kläger ist insoweit der Ansicht gewesen, der Beklagte habe diese Berichterstattung kennen, ihn hierüber informieren und ihm zur Einlegung eines Rechtsmittels raten müssen. Der Beklagte habe ihn so weit belehren müssen, dass ihm eine eigenverantwortliche Entscheidung möglich gewesen sei. Hätte der Beklagte ihn auf die Möglichkeit der Anfechtung und die einzuhaltenden Fristen hingewiesen, hätte er auf der Einlegung von Rechtsmitteln bestanden. Er behauptet, er sei auf der Grundlage der mit dem Beklagten vor Zustellung der maßgeblichen Steuerbescheide geführten Gespräche ohnehin als selbstverständlich davon ausgegangen, dass der Beklagte vor dem Hintergrund des anhängigen und hinreichend medial verbreiteten sog. "Tipke-Verfahrens" Einspruch einlegen werde.

Wenn der Beklagte gegen die Steuerbescheide fristgerecht Einspruch eingelegt hätte, hätte er, der Kläger, die in den Steuerbescheiden aufgeführten Spekulationsgewinne nicht versteuern müssen. Ihm ist - insoweit unstreitig - ein Schaden in Höhe von 318.712,00 € entstanden - Anl K 3 AnlH.

Der Kläger hat behauptet, er habe das Thema der Verfassungswidrigkeit von § 23 Abs. 1 S. 1 b) EStG mehrfach vor Ablauf der Einspruchsfrist mit dem Beklagten thematisiert. Dieser habe ihm erklärt, solange die Steuererklärungen noch offen seien, bestehe kein Handlungsbedarf. Ende Mai 2004 - nach Bekanntwerden der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts - habe der Beklagte ihm gegenüber eingeräumt, dass er einen Fehler gemacht habe.

Der Kläger hat beantragt,

den Beklagten zu verurteilen, an ihn 318.712,00 € nebst Zinsen in Höhe von 8 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 14.04.2005 zu zahlen.

Der Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Der Beklagte hat behauptet, das von Prof. Tipke eingeleitete Klageverfahren sei zwischen den Parteien weder vor noch unmittelbar nach Erlass der streitgegenständlichen Einkommensteuerbescheide für die Jahre 1997 und 1998 thematisiert worden.

Der Beklagte ist der Ansicht gewesen, ihm sei keine Pflichtverletzung im Hinblick darauf anzulasten, dass er gegen die streitgegenständlichen Einkommensteuerbescheide keinen Einspruch eingelegt habe. Das Urteil des Finanzgerichts Schleswig Holstein vom 23.09.1999 habe er nicht kennen müssen, da es keine höchstrichterliche Entscheidung darstelle und im übrigen in der Zeitschrift EFG veröffentliche worden sei, mithin in einer Zeitschrift, deren Nichtdurchsicht keine Pflichtverletzung eines Steuerberaters darstelle. Er habe dieses anhängige Verfahren auch nicht kennen müssen, da eine Verpflichtung, alle beim Bundesfinanzhof, beim Bundesverfassungsgericht und beim Europäischen Gerichtshof anhängigen Verfahren in Steuersachen zu kennen, nicht erfüllbar sei. Zudem sei weder nach der Rechtsprechung bzw. nach dem Stand der herrschenden Meinung in der Literatur erkennbar gewesen, dass § 23 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 b) EStG für verfassungswidrig erklärt werden würde. Es gehöre nicht zum Pflichtenkreis des Steuerberaters, einen Einspruch einzulegen, wenn nach dem Stand von Rechtsprechung und Literatur einem Einspruch keine Erfolgsaussicht beigemessen werden könne. Es könne einem Steuerberater nicht zugemutet werden, Kenntnis von allen möglicherweise für seinen Mandantenkreis relevanten finanzgerichtlichen Verfahren zu haben. Eine solche weitreichende Informationspflicht des Steuerberaters könne diesem auch im Hinblick auf das Gebot, Schaden von seinem Mandanten fern zu halten, nicht zugemutet werden. Es sei in diesem Zusammenhang auch zu bedenken, dass ein später zurückgenommener Einspruch erhebliche Kosten für den Mandanten auslöse, die vorliegend mit 2.826,11 € zu Buche geschlagen wären.

Der Beklagte hat darüberhinaus die Einrede der Verjährung erhoben.

Das Landgericht hat in seinem am 20.07.2006 verkündeten Urteil ein pflichtwidriges Unterlassen durch den Beklagten verneint. Dieser habe von der Verfassungsmäßigkeit des § 23 Abs. 1, Satz 1 Nr. 1 b) EStG ausgehen dürfen. Die Unkenntnis der Entscheidung des Schleswig- Holsteinischen Finanzgerichts v. 23.09.1999 sei dem Beklagten nicht vorzuwerfen, zumal das Gericht sogar von der Verfassungsmäßigkeit der genannten Norm ausgegangen sei. Abweichende Auffassungen im Schrifttum habe der Beklagte nicht berücksichtigen müssen. Aus der Tagespresse habe er das sog. Tipke-Verfahren nicht kennen müssen.

Mit seiner Berufung verfolgt der Kläger sein erstinstanzliches Rechtschutzziel weiter, wobei er im Wesentlichen sein erstinstanzliches Vorbringen wiederholt und vertieft:

Schon in der Ausgabe 4 der Zeitschrift EFG sei das Urteil des Schleswig- Holsteinischen Finanzgerichts v. 23.09.1999 mit dem ausdrücklichen Hinweis abgedruckt gewesen, dass Revision zum BFH eingelegt worden sei. In der Tagespresse sei die Frage der Verfassungsmäßigkeit § 23 Abs. 1, Satz 1 Nr. 1 b) EStG noch vor Ablauf der Einspruchsfrist am 24.02.2001 in umfassender Weise diskutiert worden. Schmidt habe im Standardkommentar zum EStG in der 19. Aufl. 2000 darauf hingewiesen, dass zur erwähnten Problematik ein Revisionsverfahren beim Bundesfinanzhof anhängig sei. Im Übrigen behauptet der Kläger weiterhin, mit dem Beklagten die Frage der Verfassungsmäßigkeit mehrfach vor Ablauf der Einspruchsfrist thematisiert zu haben. In einer solchen Diskussion Anfang 2000 habe der Beklagte erwidert, solange die Steuererklärungen noch offen seien, bestehe kein Handlungsbedarf. In einem Gespräch Ende Mai 2004 habe der Beklagte als Fehler eingeräumt, dass er die Einlegung der Einsprüche offensichtlich übersehen habe. Der Kläger meint, der Beklagte habe hier den sichersten Weg wählen müssen und daher auf jeden Fall vorsorglich Einspruch gegen die Steuerbescheide 1997 und 1998 einlegen müssen, wenn er sich pflichtgemäß informiert hätte. Eine weitere regresspflichtige Pflichtverletzung liege auch darin, dass der Beklagte ihn nicht einmal über die Möglichkeit der Einspruchseinlegung und den Fristablauf unterrichtet habe; diese Pflicht gelte unabhängig davon, welche Erfolgsaussicht für den Rechtsbehelf bestehe. Das angefochtene Urteil gehe hier offensichtlich von einem falschen Sachverhalt aus, wenn es annehme, der Kläger habe nicht belehrt werden müssen, weil ihm die Möglichkeit der Einspruchseinlegung ohnehin bekannt gewesen sei. Die Steuerbescheide mit der Rechtsmittelbelehrung seien nämlich beim Beklagten zugestellt worden. Bei zutreffender Belehrung hätte er den Beklagten selbstverständlich zur Einspruchseinlegung angewiesen.

Der Kläger beantragt,

den Beklagten unter Abänderung des am 20.07.2006 verkündeten Urteils der 2. Zivilkammer des Landgerichts Köln zu verurteilen, an ihn 318.712,00 € nebst Zinsen in Höhe von 8 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 14.04.2005 zu zahlen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil unter Wiederholung und Vertiefung seines erstinstanzlichen Vorbringens. Er meint, die Entscheidungssammlung EFG gehöre nicht zur Pflichtlektüre des Steuerberaters. Die Anforderungen würden überspannt, wenn die Auswertung sämtlicher Fachpublikationen verlangt würde. Im relevanten Zeitraum sei gerade nicht erkennbar gewesen, dass § 23 Abs. 1, Satz 1 Nr. 1 b) EStG für verfassungswidrig erklärt werden würde, erst im Juli 2002 sei der Vorlagebeschluss des BFH bekannt geworden. Das Vorbringen, der Kläger habe die Problematik mehrfach mit ihm ab Anfang 2000 erörtert, hält der Beklagte für unsubstantiiert und bestreitet es im Übrigen. Das erstmals im nachgelassenen Schriftsatz vom 07.06.2006 erfolgte Vorbringen, er - der Beklagte - habe den Kläger nicht über die Möglichkeit der Einspruchseinlegung belehrt, sei neu und schon erstinstanzlich nicht berücksichtigungsfähig gewesen. Eine Rechtspflicht zur Belehrung bestehe im Übrigen nur dann, wenn es für ein Rechtsmittel einen Anlass geben könnte.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Berufungsvorbringens der Parteien wird auf den Inhalt der im Berufungsverfahren gewechselten Schriftsätze verwiesen.

II.

Die formell bedenkenfreie Berufung hat in der Sache keinen Erfolg.

Das Landgericht hat nach Auffassung des Senates zu Recht eine Verletzung von Beratungs- und Aufklärungspflichten der Beklagten gegenüber dem Kläger abgelehnt. Demzufolge besteht auch kein Schadensersatzanspruch gemäß § 280 Abs. 1 BGB. Mit den für die Entscheidung wesentlichen Gesichtspunkten hat sich das Landgericht in der angefochtenen Entscheidung bereits zutreffend auseinandergesetzt.

1.

Im Grundatz ist davon auszugehen, dass der Steuerberater im Rahmen seines Auftrages und im Rahmen der diesbezüglich gegebenen Beratungspflicht seinen Mandanten umfassend zu beraten und ungefragt über alle bedeutsamen steuerlichen Einzelheiten und deren Folgen zu unterrichten hat (vgl. BGH, WM 1994, 602, 603; BGH, WM 1998, 301, 302; BGH, MDR 2003, 689; BGH, MDR 2004, 746; Senat, OLGR 2003, 69 ff; OLG Bremen, GI 2002, 213). Da der Steuerberater seinen Auftraggeber möglichst vor Schaden bewahren muss, muss er den sichersten Weg zu dem erstrebten steuerlichen Ziel aufzeigen und sachgerechte Vorschläge zu dessen Verwirklichung unterbreiten (vgl. BGH NJW 1993, 2799, 2800; BGHZ 129, 386, 396; BGH WM 1998, 301 f; BGH, MDR 2004, 746; OLG Bremen, GI 2002, 213). Er hat dabei den Mandanten auch in die Lage zu versetzen, eigenverantwortlich seine Rechte und Interessen zu wahren und eine Fehlentscheidung vermeiden zu können. Er muss den Auftraggeber daher auch ungefragt nach jeder Richtung über alle steuerrechtlichen Einzelfragen und deren Folgen erschöpfend belehren und ihn über das Ergebnis seiner Sach- und Rechtsprüfung aufklären.

Dabei hat er auch für die Kenntnis des Steuerrechts einzustehen. Von einem Steuerberater kann erwartet werden, dass er die im Einzelfall einschlägigen Steuergesetze, Verordnungen und Erlasse, die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs in gleich gelagerten Fällen und die ständige Verwaltungspraxis der Finanzämter kennt (vgl. Gräfe/Lenzen/Schmeer, Steuerberaterhaftung, 4. Aufl., Rn. 234; LG Frankfurt GI 2006, 61 f.).

2.

Unter dem Blickwinkel der vom Kläger erhobenen Vorwürfe ist ein beratungsrechtliches Fehlverhalten des Beklagten nach den og. Grundsätzen zu verneinen.

a)

Nicht als Pflichtwidrigkeit vorwerfbar ist der Umstand, dass der Beklagte die Entscheidung des Schleswig- Holsteinischen Finanzgerichts v. 23.09.1999 nicht kannte. Die Entscheidung bzw. der Hinweis auf das Revisionsverfahren beim BFH (nebst Angabe des revisionsgerichtlichen Aktenzeichens) war zum hier maßgebenden Zeitpunkt des Ablaufs der Einspruchsfrist am 24.02.2001 nur in der Zeitschrift EFG ("Entscheidungen der Finanzgerichte") veröffentlicht. Diese Veröffentlichung musste der Beklagte nicht kennen und in seine Überlegungen hinsichtlich des weiteren Vorgehens einbeziehen.

Der Steuerberater hat zwar grundsätzlich für die Kenntnis des Steuerrechts und damit - in den Grundzügen - auch der veröffentlichten Rechtsprechung der Finanzgerichte einzustehen. Allgemeiner Meinung zufolge geht diese Verpflichtung indes nicht so weit, dass jede veröffentlichte erstinstanzliche Entscheidung bzw. jedes Publikationsorgan sowie jedes beim BFH anhängige Revisionsverfahren bekannt sein muss (vgl. eingehend Gräfe/Lenzen/Schmeer, Steuerberaterhaftung 4. Aufl., Rdn. 234 ff.). In der Regel kann vom Steuerberater nur die Kenntnisnahme von Urteilen erwartet werden, die im Bundessteuerblatt (BStBl) sowie in der von der Bundessteuerberaterkammer herausgegebenen Zeitschrift "Deutsches Steuerrecht" (DStR) veröffentlicht sind, wobei sich diese Verpflichtung in erster Linie auch nur auf Urteile des BFH bezieht (vgl. Gräfe/Lenzen/Schmeer aaO Rdn. 237, 241; LG Hamburg GI 1993, 15 m. w. Nachw.).

Gemessen hieran oblag dem Beklagten am 24. Februar 2001 nicht die Kenntnis der Entscheidung des Schleswig- Holsteinischen Finanzgerichts v. 23.09.1999: In den zur Pflichtlektüre gehörenden Publikationen war die Entscheidung nicht abgedruckt. Die Nichtkenntnis der Veröffentlichung in EFG kann dem Beklagten nicht vorgeworfen werden, weil diese Zeitschrift nicht zur Standardausstattung einer Steuerberatungspraxis gehört (vgl. Gräfe/Lenzen/Schmeer aaO Rdn. 238; ausdrücklich auch LG Hamburg a.a.O.).

b)

Die zur möglichen Verfassungswidrigkeit der Besteuerung von Spekulationsgewinnen ab etwa 1999 erfolgten Veröffentlichungen in der Tagespresse mussten dem Beklagten nicht nahe legen, von sich aus Einspruch gegen die fraglichen Steuerbescheide einzulegen.

Wird in der Tages- oder Fachpresse über Vorschläge zur Änderung des Steuerrechts berichtet, die im Falle ihrer Verwirklichung von dem Mandanten des Beraters erstrebte Ziele unter Umständen vereiteln oder beeinträchtigen, kann der Steuerberater zwar gehalten sein, sich aus allgemein zugänglichen Quellen über den näheren Inhalt und den Verfahrensstand solcher Überlegungen zu unterrichten, um danach prüfen zu können, ob es geboten ist, dem Mandanten Maßnahmen zur Abwehr drohender Nachteile anzuraten (so BGH NJW 2004, 3487). Entgegen der Auffassung des Beklagten dürften hier nicht nur Gesetzgebungsvorhaben und daraus folgende Änderungen des Steuerrechts gemeint sein, sondern auch solche Änderungen des Steuerrechts, die aus der möglichen Verfassungswidrigkeit einer Steuernorm herrühren. Im Grundsatz gilt hier allerdings, dass der Steuerberater auf die Verfassungsmäßigkeit der Gesetze vertrauen darf. Wird später ein Gesetz für verfassungwidrig erklärt, kann ihm nicht vorgeworfen werden, er habe dies vorher erkennen müssen und u. U. einen Rechtsbehelf gegen einen Steuerbescheid einlegen müssen. Dies gilt im vorliegenden Falle erst recht vor dem Hintergrund, dass das Schleswig-Holsteinische Finanzgericht ausdrücklich von der Verfassungsmäßigkeit der Norm ausging und es das Bundesverfassungsgericht zuvor noch abgelehnt hatte, Gesetzesnormen wegen Vollzugsdefizites für verfassungswidrig zu erklären. Bis zur gegenteiligen Entscheidung des BVerfG oder des EuGH haben die Gesetze die Vermutung der Verfassungsmäßigkeit für sich. Erst Musterprozesse beim BVerfG und dessen Urteile, die im BStBl oder in der DStR veröffentlicht worden sind, müssen zum Anlass genommen werden, Steuerbescheide vorsorglich nicht rechtskräftig werden zu lassen (vgl. Gräfe/Lenzen/Schmeer aaO Rdn. 245 m. w. N.).

Damit beantwortet sich die Frage, ab wann der Steuerberater die Diskussion in der Tagespresse zum Anlass nehmen muss, diese für sein berufliches Handeln zu beachten. In der gerade hier maßgebenden Frage der Verfassungswidrigkeit des § 23 Abs. 1, Satz 1 Nr. 1 b) EStG stellt Gräfe nach Ansicht des Senats zutreffend auf den Zeitpunkt ab, zu dem die Tagespresse über den Musterprozess beim Bundesverfassungsgericht berichtet hat: Wenn der BFH die Rechtsfrage dem BVerfG vorlegt, muss dies vom Steuerberater beachtet werden. Dabei reicht insoweit die Information durch die Tagespresse aus, wenn zuvor schon breit über die Thematik berichtet worden ist (vgl. Gräfe/Lenzen/Schmeer aaO Rdn. 245 m. w. N.). In der hier zugrunde liegenden Frage teilte der Bundesfinanzhof aber erst in der Pressemitteilung vom 18.07.2005 (zu finden unter der Adresse http://www.bundesfinanzhof.de/www/index2.html) mit, dass er eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu der Frage einhole, ob die Versteuerung privater Wertpapiergeschäfte gem. § 23 Abs. 1, Satz 1 Nr. 1 b) EStG 1997 mit dem Grundgesetz insoweit unvereinbar sei, als die Durchsetzung des Steueranspruchs wegen struktureller Vollzugshindernisse weitgehend vereitelt werde. Bis zu diesem Zeitpunkt musste ein Steuerberater keine ernsthaften Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Besteuerung von Spekulationsgewinnen haben (so auch LG Frankfurt GI 2006, 64 zu einem Parallelfall; Gräfe/Lenzen/Schmeer aaO Rdn. 245 m. w. N.).

Ein Ansatzpunkt für die Haftung des Beklagten wegen Nichtbeachtung der Tagespresse besteht danach nicht.

Auch aus den in der mündlichen Verhandlung erörterten Gründen war der Beklagte nicht zum Offenhalten der Steuerbescheide verpflichtet. Weder die Breite der Berichterstattung in der Tagespresse noch die Höhe der hier in Rede stehenden Steuerforderung mussten den Beklagten hier veranlassen, vorsorglich Einspruch gegen die Steuerbescheide einzulegen. Der Senat sieht in den genannten Punkten keine geeigneten Kriterien, um Ausnahmen vom oben erwähnten Grundsatz annehmen zu können, dass der Steuerberater jedenfalls solange von der Verfassungsmäßigkeit einer Norm ausgehen kann, bis über die Anhängigkeit eines Verfahrens beim Bundesverfassungsgericht berichtet wird. Wie bereits das Landgericht zutreffend ausgeführt hat, fehlt jede Eingrenzung, anhand welcher Tageszeitungen der Steuerberater sich insoweit informieren müsste und ab welcher Häufigkeit der Berichterstattung er veranlasst sein soll, seinen Mandanten entsprechend zur Einlegung von Einsprüchen zu raten oder dies im Sinne der Geschäftsführung ohne Auftrag gar selbst vorzunehmen. Weiterhin kann die Höhe der in Rede stehenden Steuerforderungen kein geeignetes Abgrenzungskriterium darstellen; auch ein Mandant, bei dem es um weniger hohe Einkünfte geht, darf erwarten, dass der Steuerberater sich im Rahmen des vorgegebenen Pflichtenkreises bestmögliche Kenntnisse des Steuerrechts und der anstehenden Veränderungen der gesetzlichen Grundlagen verschafft. Ein Auswerten der gesamten Tagespresse auf relevante steuerrechtliche Fragen kann dem Steuerberater nicht zugemutet werden. Dabei müsste er über die schon nicht zu leistende reine Lektüre hinaus stets für jeden seiner - möglicherweise mehreren hundert - Steuerfälle hinaus untersuchen, ob sich aus einer Zeitungsmeldung für den einzelnen Mandanten eine Relevanz ergeben könnte. Dies stellt eine Überspannung des Pflichtenkreises dar und führte letztlich dazu, dass der Steuerberater quasi aus Vorsichtsgründen in jedem Fall zur Einlegung von Einsprüchen raten müsste, so dass es zur Überschwemmung der Finanzbehörden mit Rechtsbehelfen käme.

c)

Der Vortrag des Klägers, er habe in einer Reihe von Gesprächen Anfang 2000 den Beklagten auf die Problematik hingewiesen, ist unsubstantiiert und wird vom Kläger auch nicht unter Beweis gestellt.

d)

Schließlich hatte der Beklagte auch keine Pflicht, den Kläger über die Möglichkeit der Einlegung eines Rechtsmittels zu belehren bzw. diesem die Einspruchseinlegung zu empfehlen. Dies wäre nur dann geboten gewesen, wenn das Rechtsmittel hinreichende Aussicht auf Erfolg versprochen hätte und daher ein Anlass für eine entsprechende Belehrung bestanden hätte. Für die Beurteilung der hinreichenden Erfolgsaussicht ist auf die Rechtslage während des Laufes der Rechtsmittelfristen abzustellen. Ist die Rechtsprechung zu dem Zeitpunkt ungeklärt und sind Tendenzen nicht eindeutig absehbar, ist eine hinreichende Erfolgsaussicht zu verneinen (Senat, OLGR 2003, 69).

Hier gelten die Ausführungen zu b) sinngemäß; nach der seinerzeitigen Rechtsprechung der Finanzgerichte konnte der Beklagte nicht prognostizieren, dass § 23 Abs. 1, Satz 1 Nr. 1 b) EStG 1997 für verfassungswidrig erklärt werden würde. Er durfte von der fortbestehenden Geltung der Norm ausgehen.

Darüber hinaus bedurfte der Kläger nach Ansicht des Senat auch keiner abstrakten Belehrung über die Einspruchsmöglichkeit. Er schreibt als Journalist und Börsenanalyst Bücher über Aktiengeschäfte und moderiert Fernsehsendungen zu Geldmarkthemen. Die von ihm vorgelegten Presseartikel dürften jedenfalls teilweise (z. B. Wirtschaftswoche, Capital, Financial Times Deutschland u. ä.) zu seiner eigenen Pflichtlektüre gehören. Die Kenntnis, dass man gegen Steuerbescheide Einspruch einlegen kann, dürfte bei ihm zu unterstellen sein, zumal er selbst vorträgt (Bl. 63 GA), er habe sich vor Ablauf der hier streitgegenständlichen Einspruchsfrist mit Bekannten über die mögliche Verfassungswidrigkeit der Steuernorm unterhalten, die ebenfalls Spekulationsgewinne erzielt haben und über ihre Steuerberater - "selbstverständlich" - gegen die entsprechenden Steuerbescheide hätten Einspruch einlegen lassen. Dass die Steuerbescheide beim Beklagten eingegangen waren, war dem Kläger jedenfalls mit dem Zugang des Schreibens vom 01.02.2001 (Bl. 108 GA) bekannt.

Nach alldem war die Berufung mit der Kostenfolge aus § 97 Abs. 1 ZPO zurückzuweisen. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO.

Die Revision ist zuzulassen, da die Rechtssache nach Auffassung des Senats grundsätzliche Bedeutung für den Berufsstand der Steuerberater hat. Die Frage, wie weit die Informationspflichten des Steuerberaters in Bezug auf die Auswertung der Tagespresse und die daraus zu ziehenden Konsequenzen geht, erscheint bislang höchstrichterlich noch nicht hinreichend geklärt.

Streitwert für das Berufungsverfahren: 318.712,- €

Ende der Entscheidung

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