Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Köln
Beschluss verkündet am 29.09.2009
Aktenzeichen: 83 Ss 74/09
Rechtsgebiete: PflVG, StPO


Vorschriften:

PflVG § 1
StPO § 228 Abs. 2
StPO § 267 Abs. 4 Satz 3
StPO § 273 Abs. 3
StPO § 274
StPO § 302
StPO § 333
StPO § 335
StPO § 353
StPO § 354 Abs. 2
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Tenor:

Das angefochtene Urteil wird mit seinen Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der Revision - an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Köln zurückverwiesen.

Gründe:

I.

Dem Angeklagten wird in der Anklageschrift vom 30. September 2008 zur Last gelegt, am 30. Januar 2008 in L vorsätzlich als Halter eines Fahrzeugs dessen Gebrauch auf öffentlichen Wegen oder Plätzen gestattet zu haben, obwohl für das Fahrzeug der nach § 1 des Pflichtversicherungsgesetzes erforderliche Haftpflichtversicherungsschutz nicht bestand. Nach Eröffnung des Hauptverfahrens hat sich Rechtsanwalt C unter Versicherung ordnungsgemäßer Bevollmächtigung mit Schriftsatz vom 10. Dezember 2008 für ihn als Verteidiger bestellt und Akteneinsicht genommen. Der Verteidiger war vom Hauptverhandlungstermin informiert.

Die Hauptverhandlung ist ausweislich der Sitzungsniederschrift am 20. Januar 2009 in der Zeit von 9.30 Uhr bis 9.40 Uhr ohne den - erst um 9.44 Uhr erschienenen - Verteidiger durchgeführt worden. Sie schließt mit der Verurteilung des Angeklagten wegen Gestattens des Führens eines nicht haftpflichtversicherten Fahrzeugs zu einer Geldstrafe von 20 Tagessätzen zu je 5 €. Ein teils handschriftlich ausgefüllter, teils mit Streichungen versehener Stempelaufdruck im Protokoll weist im Anschluss an die Urteilsverkündung aus: "Der Angeklagte und die Staatsanwaltschaft verzichten um 9.40 Uhr auf Einlegung eines Rechtsmittels". Einen Vermerk, dass die beurkundete Erklärung verlesen und von dem Angeklagten genehmigt worden sei, enthält es nicht.

Gegen das - in abgekürzter Form abgefasste - Urteil, das zur Begründung allein auf den Anklagesatz Bezug nimmt, hat der Angeklagte mit Verteidigerschriftsatz vom 26. Januar 2009 Rechtsmittel eingelegt, das - nach Zustellung des Urteils am 19. Februar 2009 - mit weiterem Verteidigerschriftsatz vom 19. März 2009 zur Revision bestimmt und begründet worden ist.

Die Revision erhebt zunächst die allgemeine Sachrüge. Hinsichtlich des Rechtsmittelverzichts wird ausgeführt, der Angeklagte, der in M geboren und mit den "juristischen Feinheiten" nicht vertraut sei, sei sich nicht bewusst gewesen, eine solche Erklärung abgegeben zu haben. Im Wege der Verfahrensrüge wird ein Verstoß gegen die aus § 228 Abs. 2 StPO folgende Wartepflicht sowie eine Verletzung des Anspruchs auf ein faires Verfahrens geltend gemacht; denn zu Beginn der Hauptverhandlung habe der Angeklagte ausdrücklich darum gebeten, auf das Eintreffen des Verteidigers zu warten.

Die Generalstaatsanwaltschaft beantragt, die Revision wegen wirksam eingelegten Rechtsmittelverzichts als unzulässig zu verwerfen.

II.

Die nach §§ 333, 335 StPO statthafte (Sprung-) Revision ist zulässig, weil von einem wirksamen Rechtsmittelverzicht nach § 302 StPO nicht ausgegangen werden kann. Das Rechtsmittel hat auch mit der Sachrüge (vorläufigen) Erfolg; es führt gemäß §§ 353, 354 Abs. 2 StPO zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Köln.

1.

Der in der Hauptverhandlung vom 20. Januar 2009 protokollierte Rechtsmittelverzicht steht der Zulässigkeit der Revision nicht entgegen.

a)

Dabei mag davon ausgegangen werden, dass der Rechtsmittelverzicht vom Angeklagten erklärt worden ist.

Das kann allerdings nicht bereits im Hinblick auf den entsprechenden Protokollvermerk wegen der Beweiskraft des Hauptverhandlungsprotokolls gemäß § 274 StPO als erwiesen angesehen werden. Ein im Anschluss an die Urteilsverkündung erklärter Verzicht kann zwar auch im Sitzungsprotokoll vermerkt werden (BGHSt 18, 257 [258]; BGH NStZ 1996, 297). Hierbei handelt es sich aber nur dann um einen an der Beweiskraft des Hauptverhandlungsprotokolls teilnehmenden Bestandteil des Protokolls, wenn die Beurkundungsförmlichkeiten des § 273 Abs. 3 StPO beachtet worden sind (vgl. BGHSt 31, 109; BGH NStZ 1984, 181; BGH NStZ 1996, 297; BGH NJW 1997, 2691; SenE v. 15.05.2005 - 8 Ss 87/05 - = wistra 2005, 438 = JMinBl NW 2006, 58; OLG Düsseldorf NStZ 1984, 44 und VRS 97, 138). Es hätte also vermerkt werden müssen, dass die beurkundete Erklärung verlesen und vom Erklärenden, also dem Angeklagten, genehmigt worden ist (BGHSt 18, 257 [258]). Daran fehlt es vorliegend. Dies führt dazu, dass der Vermerk nur ein Beweisanzeichen ist, das den Rechtsmittelverzicht des Angeklagten beweisen kann, aber nicht notwendig zu beweisen braucht (BGH a.a.O.).

Zweifel an der tatsächlichen Abgabe der Erklärung ergeben sich hier daraus, dass die Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft dazu in ihrer dienstlichen Äußerung mitgeteilt hat, nach ihren Eintragungen in der Handakte sei weder von der Staatsanwaltschaft noch von dem Angeklagten auf die Einlegung eines Rechtsmittels verzichtet worden. Der erkennende Richter hat aktenkundig gemacht, er könne sich an "Einzelheiten" nicht erinnern.

Letztlich will der Angeklagte selbst aber wohl nicht die Abgabe der Verzichtserklärung in Abrede stellen. Die Revision führt nur aus, er sei sich "nicht bewusst" gewesen, eine Erklärung dahingehend abgegeben zu haben, deren Abgabe als solche in Abrede stellen will. Die Abgabe einer - möglicherweise von dem Gericht erfragten oder angeregten - Verzichtserklärung wird so aber nicht mit Bestimmtheit bestritten.

b)

Der Wirksamkeit des Rechtsmittelverzichts steht aber entgegen, dass der Angeklagte gehindert war, sich vor Abgabe der Erklärung mit seinem Verteidiger zu beraten (vgl. hierzu: BGHSt 19, 101 [104]; BGHSt 45, 51 [57]; BGH NStZ 2005, 114; SenE v. 17.05.2005 - 8 Ss 87/05 - = wistra 2005, 438 = JMinBl NW 2006, 58 sowie die Nachweise bei Paul in: Karlsruher Kommentar, StPO, 6. Aufl., § 302 Rdnr.12).

Es muss gesichert sein, dass der Angeklagte, der einen Rechtsmittelverzicht erwägt, die für und gegen einen solchen Entschluss sprechenden Gründe reichlich überlegen kann und nicht an unüberlegten und vorschnellen Erklärungen festgehalten wird; deswegen muss der mit seinem Verteidiger in der Hauptverhandlung erschienene Angeklagte Gelegenheit haben, sich mit diesem zu besprechen (BGHSt 18, 257 [260]). Das gilt auch dann, wenn ohne Einwirkung des Gerichts auf den Angeklagten ein entsprechender Verzicht zu Protokoll genommen wird (BGH NStZ-RR 1997, 305; SenE v. 17.05.2005 - 8 Ss 87/05 -).

Diese Grundsätze greifen auch in der vorliegenden Fallgestaltung ein.

Der in M geborene Angeklagte war mit den Einzelheiten der Strafprozessordnung ersichtlich nicht vertraut. Er wollte in der Hauptverhandlung durch seinen Rechtsanwalt verteidigt werden und hatte dies mit der Bitte, auf das Erscheinen des Wahlverteidigers zu warten, gegenüber dem Gericht auch zum Ausdruck gebracht. Es kann unter diesen Umständen nicht davon ausgegangen werden, dass der Angeklagte sofort nach der Urteilsverkündung die Aussichten eines Rechtsmittels sachgerecht beurteilen und demgemäß in voller Kenntnis der Tragweite und Bedeutung der Erklärung auf ein Rechtsmittel verzichten konnte.

Dass das Amtsgericht gleichwohl eine solche Erklärung entgegengenommen hat, stellt eine Verletzung der gerichtlichen Fürsorgepflicht und des Rechts des Angeklagten auf ein faires Verfahren dar, zumal es die Hauptverhandlung - und zwar innerhalb von nur 10 Minuten (!) - durchgeführt hat, anstatt die durch die einschlägige Kommentarliteratur hinlänglich bekannte Wartefrist von mindestens 15 Minuten (vgl. OLG Köln - 3. StrafS - StV 1984, 147 = VRS 67, 41; SenE v. 02.09.1997 - Ss 485/07 - = NZV 1997, 494 = VRS 94, 278 sowie Gmel in: Karlsruher Kommentar, 6. Aufl., § 228 Rdnr. 10 m.w.N.). einzuhalten. Eine solche Vorgehensweise lässt besorgen, dass es dem Tatrichter unter Missachtung der Verteidigungsrechte vorrangig auf eine schnelle und abschließende, die Absetzung eines abgekürzten Urteils ermöglichende Verfahrenserledigung ankam.

2.

Die Revision ist mit der Sachrüge auch begründet.

Die Feststellungen des Amtsgerichts nehmen allein auf den Anklagesatz Bezug. Sie sind nicht von einer ordnungsgemäßen Beweiswürdigung getragen, denn das Urteil lässt nicht erkennen, worauf das Amtsgericht seine Überzeugung von der Täterschaft und der Schuld des Angeklagten gestützt hat. Die in § 267 Abs. 4 Satz 3 StPO vorgesehene Möglichkeit einer nachträglichen Ergänzung der Urteilsgründe ist bei der vorliegenden Fallgestaltung nicht eröffnet.

Ende der Entscheidung

Zurück