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Gericht: Oberlandesgericht Köln
Beschluss verkündet am 24.10.2008
Aktenzeichen: 83 Ss 76/08
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 44
StPO § 45 Abs. 1 S. 1
StPO § 46 Abs. 3
StPO § 311
StPO § 329 Abs. 1
StPO § 329 Abs. 1 Satz 1
StPO § 329 Abs. 3
StPO § 342 Abs. 2 Satz 2
StPO § 467 Abs. 1
StPO § 473 Abs. 7
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Tenor:

Unter Aufhebung des angefochtenen Beschlusses wird dem Angeklagten auf seine Kosten Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungshauptverhandlung gewährt.

Die Revision des Angeklagten ist damit gegenstandslos.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem Angeklagten darin entstandenen notwendigen Auslagen hat die Staatskasse zu tragen.

Gründe:

I.

Das Amtsgericht Aachen hat den Angeklagten durch Urteil vom 7. März 2007 wegen unerlaubter Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge und wegen Erschleichens von Leistungen unter Freisprechung im Übrigen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt.

Die Berufung des Angeklagten hat das Landgericht Aachen durch Urteil vom 13. Dezember 2007 in Anwendung des § 329 Abs. 1 StPO verworfen, nachdem er zur Berufungshauptverhandlung nicht erschienen war.

Nach Zustellung der Entscheidung am 19. Dezember 2007 hat der Verteidiger mit Schriftsatz vom 20. Dezember 2007, bei Gericht eingegangen am Folgetag, unter Vorlage eines ärztlichen Attests vom 17. Dezember 2007 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungshauptverhandlung beantragt sowie für den Fall der Verwerfung dieses Antrags Revision eingelegt. Der Angeklagte sei akut erkrankt gewesen. Das vorgelegte ärztliche Attest der Ärztin Dr. T-H lautet:

"Der (...) Patient konnte seinen Termin am 13.12.2007 wegen Krankheit nicht wahrnehmen".

Ein vom Verteidiger nachgereichtes Attest vom 14.02.2008 lautet auszugsweise:

"Herr U. war bettlägerig erkrankt. (...)"

In der Folgezeit hat die Strafkammer bei der behandelnden Ärztin zur Art der Erkrankung und dazu, ob diese bereits am 13. Dezember 2007 bestanden habe, nachgefragt. Mit Attest vom 7. März 2008 teilte die Ärztin mit, dass bei dem Angeklagten beidseitige schmerzhafte Leistenabszesse mit massiver Lymphstauung in beiden Beinen bestanden hätten. Aus einem weiteren Attest vom 8. April 2008 schließlich ergibt sich, dass der Angeklagte sich erstmals am 17. Dezember 2007 bei ihr vorgestellt hatte. Weiter heißt es:

"Er war in einem sehr schlechten Allgemeinzustand, seinen Angaben zufolge injiziere er täglich 1 - 2 Gramm Heroin in die Leisten. Der Pat. klagte über unregelmäßig auftretende Fieberschübe (...). Bei der körperlichen Untersuchung zeigten sich bis zu 3 cm große Lymphknotenpakte, die sehr schmerzhaft waren. Außerdem war eine starke Schwellung des rechten Beins zu erkennen, so dass V. a. Phlebothrombose bestand. Zu diesem Zeitpunkt lehnte der Pat. eine weitergehende Diagnostik und Therapie unter stationären Bedingungen ab. (...) Im weiteren Verlauf begab sich der Patient Ende Januar ins G-Hospital".

Die Strafkammer hat das Wiedereinsetzungsgesuch durch Beschluss vom 10. Juni 2008 verworfen. Zur Begründung hat sie ausgeführt, eine zuverlässige Aussage über den Gesundheitszustand des Angeklagten am 13. Dezember 2007 habe die behandelnde Ärztin nicht treffen können. Zudem ergebe sich - auch wenn nicht verkannt werde, dass die bestehende Drogensucht dem Angeklagten nicht vorgeworfen werden könne - ein mitwirkendes Verschulden an der Versäumung des Termins zur Berufungshauptverhandlung daraus, dass er es unterlassen habe, sich rechtzeitig in ärztliche Behandlung zu begeben und ärztlichen Anweisungen Folge zu leisten.

Gegen diesen, dem Verteidiger am 16. Juni 2008 zugestellten Beschluss richtet sich die am 23. Juni 2008 bei Gericht eingegangene sofortige Beschwerde des Angeklagten vom 19. Juni 2008.

II.

1. Die gemäß §§ 329 Abs. 3, 46 Abs. 3 StPO statthafte, rechtzeitig innerhalb der Wochenfrist des § 311 StPO eingelegte und daher zulässige sofortige Beschwerde gegen die Verwerfung des Wiedereinsetzungsantrages hat auch in der Sache Erfolg.

a)

Es ist allgemein anerkannt, dass eine Erkrankung des Angeklagten einen Entschuldigungsgrund i. S. d. § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO darstellt (SenE v. 17.03.1987 - Ss 118/87 B - = VRS 72, 472; SenE v. 30.01.2007 - 1 Ws 40/06 -). Dies gilt schon dann, wenn das Erscheinen vor Gericht wegen der Erkrankung unzumutbar ist. Denn der Begriff der genügenden Entschuldigung darf nicht eng ausgelegt werden. § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO enthält eine Ausnahme von der Regelung, dass ohne den Angeklagten nicht verhandelt werden darf, und birgt die Gefahr eines sachlich unrichtigen Urteils in sich. Deshalb ist bei der Prüfung der vorgebrachten oder vorliegenden Entschuldigungsgründe eine weite Auslegung zugunsten des Angeklagten angebracht. Eine Entschuldigung ist dann genügend, wenn die im Einzelfall abzuwägenden Belange des Angeklagten einerseits und seiner öffentlich-rechtlichen Pflicht zum Erscheinen in der Hauptverhandlung andererseits den Entschuldigungsgrund als triftig erscheinen lassen, d. h. wenn dem Angeklagten unter den gegebenen Umständen ein Erscheinen billigerweise nicht zumutbar war und ihm infolge dessen wegen seines Fernbleibens auch nicht der Vorwurf schuldhafter Pflichtverletzung gemacht werden kann (vgl. zu allem: BayObLG NJW 2001, 1438 = VRS 100, 351; SenE v. 23.05.2006 - 1 Ws 14/06 -). Eine krankheitsbedingte Verhinderung liegt nicht etwa erst dann vor, wenn Verhandlungsunfähigkeit begründet ist.

Zur Glaubhaftmachung der Krankheit genügt in der Regel die Vorlage eines privatärztlichen Attestes (OLG Düsseldorf VRS 71, 292; SenE v. 17.03.1987 - Ss 118/87 B - = VRS 72, 442).

b)

Gemessen an diesen Maßstäben hat der Angeklagte sein Fernbleiben mit den vorgelegten Unterlagen hinreichend entschuldigt. Der abweichenden Sichtweise der Strafkammer vermag der Senat nicht zu folgen.

Dem Gesamtzusammenhang der vorgelegten Atteste vom 17. Dezember 2007, 14. Februar, 7. März und 8. April 2008 ist zwanglos zu entnehmen, dass die gravierende Erkrankung des Angeklagten - beidseitige schmerzhafte Leistenabszesse mit massiver Lymphstauung in beiden Beinen - bereits am 13. Dezember 2007 vorgelegen hat. An diesem Tag war der Angeklagte ausweislich des Attests vom 14. Februar 2008 bettlägerig erkrankt. Nach der Natur der Erkrankung kann auch ausgeschlossen werden, dass die Erkrankung innerhalb von vier Tagen einen so dramatischen Verlauf genommen hat, dass sie am 17. Dezember 2007 die Teilnahme an einer Hauptverhandlung verboten hätte, am 13. Dezember 2007 aber noch zuließ. Anhaltspunkte für die Annahme, es handele sich um ein durch Täuschung erschlichene oder erbetene "Gefälligkeitsatteste" (vgl. SenE v. 25.04.2002 - Ss 38/02 -), sind ebenfalls nicht ersichtlich.

Auch die Erwägung der Strafkammer, der Angeklagte habe es verabsäumt, sich rechtzeitig in ärztliche Behandlung zu begeben, trägt nicht. Das Verschulden im Sinne des § 44 StPO muss sich nämlich unmittelbar auf die Versäumung der Hauptverhandlung beziehen und nicht nur auf die Herbeiführung des Hindernisses (der Erkrankung) im Sinne des § 45 Abs. 1 S. 1 StPO (OLG Düsseldorf, B. v. 13.04.2000 - 1 Ws 165/00 - JMBl. NW 2000, 260 = VRS 99, 121 = StraFo 2001, 269). Es bleibt des weiteren die Frage offen, zu welchem Zeitpunkt der Angeklagte sich in ärztliche Behandlung hätte begeben müssen, um eine Teilnahme an der Hauptverhandlung sicherzustellen. Schließlich liefe die Annahme eines mitwirkenden Verschuldens dadurch, dass ein Angeklagter sich nicht rechtzeitig in ärztliche Behandlung begibt, auf die Verpflichtung hinaus, sich um der Belange der Strafverfolgung willen (hinlänglich) gesund zu halten und keinen Raubbau am eigenen Körper zu betreiben. Dass solches - auch und gerade unter dem Blickwinkel des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 2 Abs. 1 GG) - nicht verlangt werden kann, liegt auf der Hand (dazu, dass Art. 2 Abs. 1 GG auch die "Deformation der Persönlichkeit durch selbstgefährdendes Handeln" schützt s. Jarass in: Jarrass/Pieroth, Grundgesetz, 9. Auflage 2007, Art. 2 Rz. 8 mit weit. Nachw.).

Nach allem hat der Angeklagte die Unzumutbarkeit einer Teilnahme an der Hauptverhandlung glaubhaft gemacht.

c)

Die Kostenentscheidung zur Wiedereinsetzung folgt aus § 473 Abs. 7 StPO.

Die Kosten- und Auslagenentscheidung im Beschwerdeverfahren beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 467 Abs. 1 StPO.

2.

Durch die Gewährung der Wiedereinsetzung, über die gemäß § 342 Abs. 2 Satz 2 StPO vorab zu befinden war, ist das Verwerfungsurteil vom 13. Dezember 2007 beseitigt und die Revision gegenstandslos (SenE v. 25.04.2002 - Ss 38/02 -; SenE v. 07.12.2004 - 1 Ws 24/04 -).

Ende der Entscheidung

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