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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht München
Beschluss verkündet am 10.08.2006
Aktenzeichen: 1 W 1314/06
Rechtsgebiete: BGB


Vorschriften:

BGB § 839 Abs. 3
Die Justizvollzugsanstalt trägt im Amtshaftungsprozess die Beweislast dafür, dass sie den Häftling bei einer begründeten Beschwerde über menschenunwürdige Haftbedingungen sofort verlegt hätte. Ein Prozesskostenhilfeantrag kann nicht unter Verweis auf § 839 Abs. 3 BGB zurückgewiesen werden, wenn über einen entsprechenden Vortrag der Behörde Beweis erhoben werden müsste.
Aktenzeichen: 1 W 1314/06

In dem Rechtsstreit

wegen Schmerzensgeldes

erlässt der 1. Zivilsenat des Oberlandesgerichts München durch die unterzeichnenden Richter ohne mündliche Verhandlung am 10.08.2006 folgenden

Beschluss:

Tenor:

Auf die sofortige Beschwerde des Antragstellers vom 03.04.2006 werden die Beschlüsse des Landgerichts Augsburg vom 16.03.2006 und 05.04.2006 abgeändert.

Dem Antragsteller wird Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung für den ersten Rechtszug für einen Schadenersatzanspruch von 1.500,00 € zuzüglich Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit gewährt.

Dem Antragsteller wird Rechtsanwalt B. beigeordnet.

Die weitergehende sofortige Beschwerde wird zurückgewiesen.

Gründe:

1.

Der Antragsteller macht wegen der Unterbringung während seiner Strafhaft ab dem 05.12.2002 in der Justizvollzuganstalt L. und deren Außenstelle R. einen Schmerzensgeldanspruch geltend, den er auf 100,00 € täglich und insgesamt 25.100,-- € beziffert. Er bringt substantiiert vor, er sei in überbelegten, mit einer offenen WC-Anlage versehenen, teilweise auch nicht hinreichend heizbaren, von Ungeziefer und Schimmel befallenen Zellen untergebracht worden, und bietet hierfür Beweis an.

Unstreitig hat der Antragsteller während seiner Haftzeit keine Verlegung in eine Einzelzelle beantragt. Das Landgericht hat die Gewährung der beantragten Prozesskostenhilfe mit Beschluss vom 16.03.2006 (Bl. 15/16 d. A.) mit der Begründung abgelehnt, der Antragsteller habe es vorsätzlich oder fahrlässig unterlassen, den behaupteten Schaden durch den Gebrauch eines Rechtsmittels abzuwenden.

Der Antragsteller hat seine sofortige Beschwerde vom 03.04.2006 im Wesentlichen damit begründet, dass die Beweislast dafür, dass ein Rechtsmittel zu einer Verlegung geführt hätte, den Antragsgegner treffe. Außerdem sei ein Rechtsmittel nicht zumutbar gewesen.

Das Landgericht hat der sofortigen Beschwerde nicht abgeholfen (Beschluss vom 05.04.2006).

Der Antragsgegner hat im Beschwerdeverfahren vorgebracht, die Justizvollzugsanstalt L. sei zwar mit dem Problem der Überbelegung konfrontiert. Dem Antrag eines Gefangenen, der sich in gemeinschaftlicher Unterbringung befinde und dies ablehne, auf Verlegung in eine Einzelzelle werde aber sofort stattgegeben, ohne dass ein gerichtlicher Rechtsbehelf notwendig sei.

2.

Die zulässige sofortige Beschwerde ist zum Teil begründet. Die Klage hat bezogen auf 30 Tage Haftzeit hinreichende Erfolgsaussicht im Sinne von § 114 ZPO.

Es muss über Vorbringen des Antragsgegners Beweis erhoben werden, was im Rahmen von § 118 Abs. 2 S. 3 ZPO nicht möglich ist. Das Landgericht hat sich zwar zu Recht auf § 839 Abs. 3 BGB gestützt. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs hat jedoch der Antragsgegner die Beweislast dafür, dass der Antragsteller auf einen Antrag hin sofort verlegt worden wäre. Da davon auszugehen ist, dass jedenfalls die Strafvollstreckungskammer dem Antrag stattgegeben hätte, beschränkt sich der Zeitraum, für den eine Entschädigung in Betracht kommt, auf einen Monat. Der Senat geht davon aus, dass die Strafvollstreckungskammer innerhalb dieses Zeitraums ihre Entscheidung gefällt hätte.

Eine Schadensausgleich von 50 € täglich hält der Senat für ausreichend.

a) Da der Antragsteller für die Behauptung seiner menschenunwürdigen Unterbringung substantiiert Beweis angeboten hat, muss dies im Prozesskostenhilfeverfahren unterstellt werden. Flächenangaben und Belegungszahlen, möglicherweise auch der Schädlings- und Schimmelbefall scheinen sogar unstreitig zu sein.

Ohne Beweiserhebung kann der Anspruch nur verneint werden, falls der Antragsteller gegen seine Unterbringung vorwerfbar nicht mit Rechtsmitteln vorgegangen und sein weiterer Aufenthalt in einer menschenunwürdigen Haftsituation auf dieses Unterlassen zurückzuführen ist. Dies ist zwar für den überwiegenden, nicht jedoch für den gesamten Zeitraum der Fall.

b) § 839 Abs. 3 BGB ist anwendbar.

aa) Die Empfindlichkeit gegen Haftbedingungen ist sehr unterschiedlich, wie den Mitgliedern des Senats aus ihrer auch strafrechtlichen Berufspraxis bekannt ist. Bei dem von der Antragstellerseite diskutierten Entschädigungsbetrag von 100,-- € je Tag gäbe es mit Sicherheit eine beträchtliche Anzahl von Häftlingen, die sich nicht gegen die doppelte Belegung einer Einmannzelle oder den Aufenthalt in einer Zelle ohne getrenntes WC wehren würden, wenn sie dafür nach Haftende einen finanziellen Ausgleich erhielten. Gerade der vorliegende Fall belegt daher exemplarisch den Sinn des § 839 Abs. 3 BGB, der, wie der Antragsgegner zu Recht ausführt, ein "dulde und liquidiere" ausschließt.

Es ist einem Gefangenen in einem Rechtsstaat zuzumuten, gegen ihm menschenunwürdig erscheinende Zustände in der Haft Rechtsmittel zu ergreifen.

bb) § 839 Abs. 3 BGB gilt auch für den verschuldensunabhängigen Anspruch nach § 5 Abs. 5 MRK (OLG Naumburg NJW 2005, 514; für den gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruch siehe BGH NJW 2004, 1241).

cc) Der Antragsteller weist allerdings zu Recht auf die Beweislastverteilung bei § 839 Abs. 3 BGB hin, auf die das Landgericht nicht eingegangen ist.

Für die Kausalität zwischen der Nichteinlegung des Rechtsmittels und dem Schadenseintritt ist der Schädiger beweispflichtig (BGH NJW 1986, 1924; 2004, 1241). Wenn es nicht um die Anrufung eines Gerichts gegen einen Verwaltungsakt geht, sondern darum, dass eine Verwaltungsbehörde - durch Gegenvorstellung oder Dienstaufsichtsbeschwerde - zur Überprüfung ihres eigenen Handelns veranlasst werden sollte, kann sich der Schädiger nicht in jedem Fall darauf berufen, wie über den Rechtsbehelf richtigerweise hätte entschieden werden müssen. In diesem Fall kommt es darauf an, ob die Behörde, das heißt im vorliegenden Fall die Justizvollzugsanstalt, ihre Entscheidung tatsächlich korrigiert hätte oder nicht (BGH NJW 1986, 1924). Hierüber müsste gegebenenfalls Beweis erhoben werden. Wegen der Beweislastverteilung müsste der Beklagte Beweis antreten. Bei dieser Sachlage ist die Gewährung von Prozesskostenhilfe zwingend, da im Prozesskostenhilfeverfahren nicht über Beweisangebote des Gegners Beweis erhoben werden kann (Thomas/Reichold, ZPO 27. Aufl., § 118 Rn 9). Ein formelles Beweisangebot liegt bisher zudem nicht vor.

Im vorliegenden Fall hätte der Antragsteller jedoch die Möglichkeit gehabt, sich mit einem Antrag auf gerichtliche Entscheidung gemäß § 109 StVollzG gegen eine menschenunwürdige Unterbringung zu wenden.

Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH NJW 2004,1241) kommt in diesem Fall der wirklichen Rechtslage eine größere Rolle zu. Berücksichtigt werden muss laut BGH aber die Rechtspraxis in der in Rede stehenden Frage zum Zeitpunkt, in dem der Rechtsbehelf hätte angebracht werden müssen, um den Eintritt des Schadens zu verhindern. Übertragen auf den vorliegenden Fall heißt das, dass der Bundesgerichtshof nicht die Vernehmung des zuständigen Richters darüber, wie er über den Antrag auf Verlegung entschieden hätte, fordert. Vielmehr stellt er darauf ab, ob zum Haftzeitpunkt eine eindeutige Rechtsprechung zu den Ansprüchen des Häftlings bei - zu unterstellender - menschenunwürdiger Unterbringung existiert hat.

Der Antragsteller stellt in seinem Entwurf der Klageschrift selbst die Rechtsprechung dar. Die von ihm in den Mittelpunkt seiner Argumentation gestellte Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts 2 BvR 553/01 vom 27.02.2002 und 2 BvR 261/01 vom 13.03. 2002 (NJW 2002, 2699 ff - Heft 37 vom 09.09.2002) waren allen mit Strafvollstreckungsrecht befassten Richtern Ende 2002 mit Sicherheit bekannt. Es ist daher davon auszugehen, dass die Strafvollstreckungskammer bei tatsächlich menschenunwürdiger Unterbringung einem Antrag auf Verlegung stattgegeben hätte.

Dass die Justizvollzugsanstalt eine gerichtliche Entscheidung unbeachtet gelassen hätte, erscheint äußerst unwahrscheinlich. Dem Senat, der aufgrund seiner Spezialzuständigkeit für Amtshaftungsansprüche einen Überblick gerade über die von Straf- und Untersuchungsgefangenen geltend gemachten Schadenersatzansprüche hat, ist ein derartiger Fall nicht bekannt geworden.

Damit bleibt die Frage, wie im Prozesskostenhilfeverfahren der Zeitraum zu bewerten ist, der bis zur Entscheidung der Strafvollstreckungskammer vergeht. Diesen Zeitraum schätzt der Senat auf einen Monat.

Der Antragsgegner bringt zwar vor, er wäre einem Verlegungswunsch sofort nachgekommen. Dies kann im Prozesskostenhilfeverfahren aber nicht unterstellt werden, weil es sich dabei angesichts der geschilderten Beweislastverteilung um eine verbotene vorweggenommene Beweiswürdigung handeln würde.

Wenn die Justizvollzugsanstalt eine Verlegung verweigert hätte, besteht kein Anlass, für den Zeitraum der Unterbringung bis zur Entscheidung des Gerichts eine Entschädigung zu versagen. Es geht nicht nur um zwei Tage wie im Urteil des Bundesgerichtshofs vom 04.11.2004 (NJW 2005, 58). Der Antragsgegner hat zudem angegeben, dass jederzeit eine Verlegungsmöglichkeit bestanden hat.

c) Der Antragsteller hat gegen die Unterbringung während der gesamten Haftzeit nichts unternommen. Dies spricht dafür, dass er die Unterbringung jedenfalls nicht als unerträglich angesehen hat. Der Senat hält deshalb einen Schadenausgleich von 50,00 € täglich für ausreichend.

d) Im Hauptverfahren wird es sich empfehlen, vorweg über das Vorbringen des Antragsgegners, der Antragsteller wäre im Falle eines Antrags sofort verlegt worden, Beweis zu erheben, falls der Antragsgegner ein entsprechendes Beweisangebot macht.

e) Die vorgelegte Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse rechtfertigt die Gewährung von Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung, gleich ob man die zweifelhafte Frage, ob ein Vorschussanspruch gegen die Ehefrau besteht oder nicht, bejaht. Auch die Ehefrau hätte einen Anspruch auf Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung.

Ende der Entscheidung

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