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Gericht: Oberlandesgericht München
Beschluss verkündet am 30.12.2005
Aktenzeichen: 1 W 3015//05
Rechtsgebiete: SGB X, ZPO
Vorschriften:
SGB X § 116 | |
ZPO § 406 Abs. 2 S. 2 | |
ZPO § 412 |
Aktenzeichen: 1 W 3015/05
In dem Rechtsstreit
wegen Forderung
erlässt der 1. Zivilsenat des Oberlandesgerichts München durch die unterzeichnenden Richter ohne mündliche Verhandlung am 30.12.2005 folgenden Beschluss:
Tenor:
1. Die sofortige Beschwerde der Klägerin gegen den Beschluss des Landgerichts München I vom 11.11.2005 wird zurückgewiesen.
2. Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
3. Der Wert des Beschwerdeverfahrens wird auf 3.657,60 € festgesetzt.
Gründe:
1.
Die Klägerin, eine Betriebskrankenkasse, macht gegen die Beklagten, die betroffene Klinik, die operierenden Orthopäden und den Anästhesisten nach § 116 SGB X übergegangene Schadenersatzansprüche wegen schwerer Blutungen der bei ihr versicherten Frau K. während einer Wirbelsäulenoperation am 28.08.2002 geltend. Die Klägerin hatte deshalb Aufwendungen für eine intensivmedizinische Behandlung zu tragen. Die Klägerin wirft den Beklagten vor, die Operation nicht früher abgebrochen zu haben, wodurch man die eingetretenen Komplikationen hätte vermeiden können.
Das Landgericht München I beauftragte den Unfallchirurgen und Orthopäden Prof. Dr. R. als Sachverständigen. Prof. Dr. R. erstattete am 21.02.2005 ein erstes Gutachten (Bl. 73/79 d. A.), in dem er Behandlungsfehler verneinte. Der Sachverständige führte aus, aus den vorhandenen Unterlagen einschließlich des Operationsberichts gehe nicht hervor, wie lange die einzelnen Operationsphasen gedauert hätten und in welcher Phase welcher Blutbedarf entstanden sei. Eine etwas detailliertere Darstellung finde sich jedoch im Schriftsatz der Anwältin des Beklagten zu 3) vom 07.01.2005. Der Sachverständige behandelte diese Stellungnahme im Rahmen seines Gutachtens.
Die Klägerin bestritt in einem Schriftsatz vom 02.06.2005 (Bl. 82/85 d. A.) den Sachvortrag des Beklagten zu 3), verlangte, dass der Sachverständige ausschließlich die Krankenakte seiner Beurteilung zu Grunde lege, und stellte verschiedene Ergänzungsfragen.
In einem Beweisbeschluss vom 30.06.2005 (Bl. 90/92 d. A.) bat das Landgericht den Sachverständigen Prof. Dr. R. darum, in seinem Ergänzungsgutachten "nur von der ärztlichen Dokumentation auszugehen, soweit die Parteien die Tatsachen nicht übereinstimmend schildern".
Am 18.07.2005 erstattete Prof. Dr. R. das Ergänzungsgutachten (Bl. 95/100 d. A.). Darin begründete er seine Berücksichtigung des Schriftsatzes vom 07.01.2005 damit, dass die darin enthaltene Schilderung inhaltlich offensichtlich von einem der beteiligten Ärzte stamme. Die Ausführungen würden durch den Operationsbericht, wenn auch etwas pauschal, bestätigt. Sie könnten daher seiner Auffassung nach mit hoher Wahrscheinlichkeit als objektiv gegeben angesehen werden. Auch das Narkoseprotokoll spreche für einen dergestaltigen Verlauf der Operation. Den Schilderungen der Klägerin und ihrer Rechtsanwälte über den Operationsverlauf fehle "naturgegeben jede Objektivität."
Mit Schriftsatz vom 26.09.2005 (Bl. 102/107 d. A.) lehnte die Klägerin innerhalb der ihr gewährten Stellungnahmefrist zum Ergänzungsgutachten den Sachverständigen Prof. Dr. R. wegen Besorgnis der Befangenheit ab, beantragte ihm die Entschädigung zu versagen und einen anderen Sachverständigen zu beauftragen. Sie begründete dies mit den Äußerungen von Prof. Dr. R. im Ergänzungsgutachten. Außerdem habe sich der Sachverständige über die Weisung des Gerichts hinweggesetzt, nur von der ärztlichen Dokumentation auszugehen und sich auch im Ergänzungsgutachten nur auf die Schriftsätze der Beklagten gestützt (zu den Einzelheiten wird auf Bl. 104/106 d. A. verwiesen).
Prof. Dr. R. nahm zum Ablehnungsantrag in einem Schreiben vom 24.10.2005 (Bl. 116/120 d. A.) Stellung. Unter anderem führte er aus:
"Bei den in der Krankenakte dokumentierten Vorgängen, zu denen ja auch die ärztliche Dokumentation gehört, handelt es sich um den Operationsbericht und das Narkoseprotokoll.
Durch die späteren Ausführungen der Operateure wird der Operationsverlauf und der Operationsbericht weiter detailliert, so dass diese Ausführungen im wesentlichen einem Operationsbericht gleichzusetzen sind.
Der Vorwurf, dass ich die Ausführungen der Operateure als "mit hoher Wahrscheinlichkeit gegeben" angesehen und demgegenüber festgestellt habe, dass "den Schilderungen der Klägerin und ihrer Rechtsanwälte über den Operationsverlauf naturgegeben jede Objektivität fehlt", ist mir unverständlich.
Die Operateure haben die Operation durchgeführt und erlebt, die Patientin war in dieser Zeit in Narkose, der Rechtsanwalt war nicht anwesend.
Als Chirurg und Unfallchirurg mit fast 40jähriger Operationserfahrung steht es mir durchaus zu, anhand des Operationsberichtes über eine mögliche Objektivität der Ausführungen der Operateure zu befinden."
Wegen der weiteren Einzelheiten nimmt der Senat auf das Schreiben Bezug.
Mit Beschluss vom 11.11.2005 (Bl. 121/122 d. A.) wies das Landgericht München I den Befangenheitsantrag zurück. Zur Begründung bezog es sich auf die Stellungnahme des Sachverständigen.
Mit Schreiben vom 30.11.2005 (Bl. 125/130 d. A.) legte die Klägerin gegen den Beschluss des Landgerichts sofortige Beschwerde ein. Sie brachte vor, der Sachverständige habe sich erneut der gerichtlichen Weisung widersetzt, ausschließlich die in den Krankenunterlagen dokumentierten Sachverhalte und Daten zu berücksichtigen. Wie sich aus der Stellungnahme vom 24.10.2005 ergebe, habe sich der Sachverständige in seinem Erstgutachten auf den schriftsätzlichen Vortrag der Beklagten gestützt und sei nicht in der Lage, die Beweisfragen zu beantworten. Im Ergänzungsgutachten habe der Sachverständige wahrheitswidrig ausgeführt, dass sich die Verwendung eines Elektrokauters und das Einsetzen des Hautspreitzers aus dem Operationsbericht ergebe.
Das Landgericht München I half der sofortigen Beschwerde nicht ab (Beschluss vom 07.12.2005 Bl. 131/133 d. A.).
Die Beklagten halten den Ablehnungsantrag für unbegründet.
2.
Die zulässige sofortige Beschwerde ist nicht begründet. Das Landgericht hat dem Befangenheitsantrag zu Recht nicht stattgegeben. Aus der Sicht einer vernünftigen Partei ist die Besorgnis der Befangenheit im konkreten Fall nicht begründet, selbst wenn sich der Sachverständige etwas unglücklich ausgedrückt haben mag.
Ein medizinischer Sachverständiger ist kein Experte des Arzthaftungs- oder Ablehnungsrechts, der vor der Erstattung seines Gutachtens jedes Wort überprüft und an den Beweisregeln des Zivilprozesses misst. Die Mitarbeitern der Klägerin und ihr Anwalt wissen das. Sie betreiben den Rechtsstreit anders als eine Naturalpartei professionell. Prof. Dr. R. ist dem Senat als Sachverständiger bekannt, der offene Worte nicht scheut, aber auch bereit ist, auf begründete Einwände einzugehen und sich gegebenenfalls zu korrigieren. Der Sachverständige hat von sich aus dargelegt, dass und warum er die Schilderungen in den Klageerwiderung des Beklagten zu 3) bei seiner Bewertung ergänzend zum knappen Operationsbericht herangezogen hat. Diese Offenheit spricht eher für als gegen die Absicht, den Prozessausgang zu Gunsten der Beklagten zu beeinflussen. Dazu wäre die schlichte Aussage, dass sich aus dem Operationsbericht kein Behandlungsfehler ergibt, viel geeigneter gewesen.
Keiner der einzelnen Vorwürfe rechtfertigt die Besorgnis der Befangenheit. Dies gilt auch für eine Gesamtschau.
a) Die Feststellung des Sachverständigen, dass der Klägerin und ihren Rechtsanwälten "jede Objektivität" fehle, bezieht sich, wie sich aus der Verwendung des Begriffs "naturgegeben" ergibt, auf deren fehlende persönliche Kenntnis des Operationsverlaufes. Dies hat Prof. Dr. R. in seiner Stellungnahme vom 24.10.2005 bekräftigt. In diesem Zusammenhang handelt es sich um eine etwas unglückliche Wortwahl für eine inhaltlich richtige Wertung.
b) Soweit die Klägerin dem Sachverständigen in der Beschwerdebegründung sein Vorgehen im ersten Gutachten vom 21.04.2005 zur Last legt, kann dies nach § 406 Abs. 2 S. 2 ZPO mit dem Ablehnungsantrag nicht mehr geltend gemacht werden. Prof. Dr. R. hat bereits dort klargestellt, dass er bei seiner Wertung des Operationsverlaufs die Schilderung im Schriftsatz vom 07.01.2005 einbezieht.
c) Dass sich die Verwendung eines Elektrokauters und das Einsetzen des Hautspreitzers aus dem Operationsbericht ergibt, führt der Sachverständige entgegen der Behauptung der Klägerin in ihrer Beschwerdebegründung auf S. 3 des Ergänzungsgutachtens vom 18.07.2005 nicht aus.
d) Die einzelnen Rügen auf S. 3 - 5 des Ablehnungschriftsatzes vom 26.09.2005 hat der Sachverständige in seiner Stellungnahme behandelt und entkräftet. Soweit sie sich auf das Erstgutachten beziehen, vermögen sie sowieso keinen zulässigen Befangenheitsantrag zu begründen (vgl. b). Die Schlussfolgerungen, die die Klägerin aus dem Operationsbericht hinsichtlich des genauen Zeitpunkts und Umfangs der Blutungen zieht, sind für den Senat jedenfalls nicht zwingend, da der Operationsbericht gerade keine präzisen Angaben macht. An anderer Stelle wird das von der Klägerin gerade gerügt. Damit lässt sich ein Widerspruch der Feststellungen des Sachverständigen zum Operationsbericht nicht belegen. Ein Unterschied zwischen "unter Kontrolle bringen" und "kontrollierbar" ist nicht ersichtlich
e) Dass der medizinische Sachverständige das Vorbringen der Ärzte im Prozess zur Entwicklung der Blutung und ihre Reaktion hierauf auf seine Plausibilität überprüft, ist, anders als die Klägerin meint, wünschenswert. Dies gilt nicht nur, wenn die entsprechenden Angaben im Operationsbericht enthalten sind. Es gibt keine Beweisregel des Arzthaftungsrechts, nach der alle im Operationsbericht nicht protokollierte Ereignisse nicht stattgefunden haben beziehungsweise nicht angeführte ärztliche Maßnahmen nicht erfolgt sind. Diese Regel gilt nur, soweit aus ärztlicher Sicht eine Dokumentationspflicht besteht (Steffen/Dressler, Arzthaftpflichtrecht, 8. Aufl., Randnr. 465 m. w. N.). Zudem kann der Arzt den Vorwurf, eine bestimmte Maßnahme sei unterblieben, noch im Prozess entkräften (Steffen/Dressler a. a. O. Randnr. 469 m. w. N.). Deshalb stellt die Frage, wie nachvollziehbar das Vorbringen der Beklagten ist, einen wesentlichen Aspekt des Verfahrens dar.
Der Ausgang des Rechtsstreits hängt möglicherweise davon ab, in welchem Umfang das (mengenmäßige?) Ausmaß von Blutungen exakt beschrieben und zeitlich den einzelnen Handlungen der Operateure und des Anästhesisten zugeordnet werden muss. Dies ist noch zu klären, worauf das Landgericht in der Nichtabhilfeentscheidung bereits zu Recht hingewiesen hat. Die Frage der Zumutbarkeit eines derartigen Dokumentationsaufwandes dürfte eine Rolle spielen.
f) Aus den Stellungnahmen von Prof. Dr. R. ergibt sich nicht, dass er den Aussagen von Ärzten im Prozess generell einen Vertrauensvorschuss einräumt. Vielmehr hat er begründet, warum er die Angaben des Beklagten zu 3) mit hoher Wahrscheinlichkeit als richtig ansieht.
g) Die Frage, ob der Sachverständige Prof. Dr. R. geeignet ist, die Beweisfrage zu beantworten, spielt für die Ablehnungsentscheidung keine Rolle. Ob das Landgericht nach § 412 ZPO einen weiteren Gutachter einschaltet, hat der Senat nicht zu entscheiden. Wenn Prof. Dr. R. die Beweisfragen nicht entscheiden kann, heißt das noch nicht, dass dies einem anderen Sachverständigen gelingen müsste. Eher ist die gegenteilige Prognose angebracht.
Die Ausführungen von Prof. Dr. R. stehen jedenfalls nicht im Widerspruch zu den sehr eingehenden Stellungnahmen eines neurochirurgischen und eines anästhesiologischen Sachverständigen in einem ähnlichen Fall (schwerste Blutung bei der Operation eines Bandscheibenvorfalls), den der Senat verhandelt hat.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 ZPO.
Den Beschwerdewert schätzt der Senat auf 1/3 der Hauptsache.
Ende der Entscheidung
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