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Gericht: Oberlandesgericht München
Beschluss verkündet am 18.09.2006
Aktenzeichen: 34 Wx 113/06
Rechtsgebiete: GG, FreihEntzG, AufenthG
Vorschriften:
GG Art. 104 Abs. 1 Satz 1 | |
FreihEntzG § 5 Abs. 3 | |
AufenthG § 62 Abs. 2 |
Gründe:
I.
Die Ausländerbehörde betreibt die Abschiebung des Betroffenen, eines türkischen Staatsangehörigen. Der Betroffene wurde mit bestandskräftigem Bescheid vom 10.4.2001 aus dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen und im Jahr 2003 abgeschoben. Nach seinen Angaben kehrte er im Sommer 2004 in die Bundesrepublik Deutschland zurück. Bis 10.2.2006 verbüßte er eine Restfreiheitsstrafe wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln. Die Ausländerbehörde bemühte sich sodann, den Betroffenen zur freiwilligen Ausreise zu bewegen. Am 27.3.2006 ordnete sie die Abschiebung des Betroffenen an. Über seinen Verfahrensbevollmächtigten ließ er erklären, nun freiwillig auszureisen, was schließlich am 5.5.2006 geschehen sein solle. Am 20.5.2006 wurde der Betroffene jedoch in N. aufgegriffen und aufgrund eines Haftbefehls vom selben Tag wegen Verdachts des Diebstahls u.a. in Untersuchungshaft genommen. Am 1.8.2006 verurteilte ihn das Amtsgericht zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Monaten, die nicht zur Bewährung ausgesetzt wurde. Der Haftbefehl blieb aufrechterhalten. Gegen das Urteil hat der Verteidiger des Betroffenen "Rechtsmittel" eingelegt.
Die Ausländerbehörde hat unter dem 25.7.2006 beim Amtsgericht beantragt, gegen den Betroffenen Abschiebungshaft im Anschluss an die bestehende Untersuchungshaft anzuordnen. Das Amtsgericht hat den Betroffenen am 28.7.2006 angehört. Dieser äußerte u.a., er habe hier in Deutschland seine Ehefrau, die er bereits seit elf Jahren kenne, und auch seine Kinder. Mit Beschluss vom gleichen Tage hat das Amtsgericht Abschiebungshaft bis zur möglichen Abschiebung, längstens jedoch bis zum 28.10.2006, und die sofortige Wirksamkeit seiner Entscheidung angeordnet. Eine Anhörung der Ehefrau hat nicht stattgefunden. Die sofortige Beschwerde des Betroffenen hat das Landgericht ohne erneute Anhörung des Betroffenen mit Beschluss vom 17.8.2006 zurückgewiesen. Eine Anhörung der Ehefrau unterblieb auch in diesem Rechtszug. Gegen die landgerichtliche Entscheidung richtet sich die sofortige weitere Beschwerde des Betroffenen.
II.
Das zulässige Rechtsmittel hat vorläufigen Erfolg.
1. Das Landgericht hat ausgeführt:
Das Amtsgericht habe zu Recht Sicherungshaft auf die Dauer von drei Monaten angeordnet. Der Betroffene sei im Jahr 2004 unerlaubt eingereist und schon deshalb vollziehbar ausreisepflichtig. Es bestehe der zwingende Haftgrund des § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG. Die Ausreisepflicht habe durchgängig bestanden und sei auch nicht durch die zwischenzeitliche Strafvollstreckung in Wegfall gekommen.
Ob die Ausweisungsverfügung vom 10.4.2001 rechtswidrig gewesen sei, weil ein etwaiges Aufenthaltsrecht des Betroffenen aus Art. 6 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrats EWG -Türkei vom 19.9.1980 (ARB) nicht hinreichend berücksichtigt oder gegen die auf türkische Arbeitnehmer anwendbare Norm des Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/ EWG verstoßen worden sei, könne dahinstehen. Die Ausweisungsverfügung sei bestandskräftig, so dass die Sperrwirkung des § 8 Abs. 2 AuslG (§ 11 Abs. 1 AufenthG) bestehe. Seine Einreise sei unerlaubt gewesen. Das gelte auch dann, falls die zu erteilende Aufenthaltsauferlaubnis nur deklaratorischen Charakter habe. Ob der Betroffene einen Anspruch auf Rücknahme der Ausweisungsverfügung besitze, habe nicht das Freiheitsentziehungsgericht zu prüfen. Im Übrigen lasse ein solcher Anspruch allein noch nicht die Sperrwirkung des § 8 Abs. 2 AuslG entfallen.
Es bestehe auch der Haftgrund des § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AufenthG. Der Betroffene sei in schwerwiegender Weise straffällig geworden. Das zeige dessen Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren. Er habe auch versucht, die Ausländerbehörde über seine Ausreiseabsichten zu täuschen, indem er habe vortragen lassen, er sei ausgereist, sich aber tatsächlich an einer der Behörde nicht bekannten Anschrift weiter in der Bundesrepublik Deutschland aufgehalten habe. Sein Verhalten lasse befürchten, er werde sich seiner Abschiebung in einer Weise entziehen, die nicht durch einfachen, keine Freiheitsentziehung darstellenden Zwang überwunden werden könne.
§ 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG stehe der Anordnung von Abschiebungshaft nicht entgegen. Zwar sei ungewiss, ob der Betroffene derzeit über einen gültigen, d.h. verlängerten Reisepass verfüge. Er behaupte dies allerdings selbst. Im Übrigen könnten für ihn aber Passersatzpapiere kurzfristig beschafft werden, da seine Identität nicht zweifelhaft sei. Auch das gegenwärtige Strafverfahren stehe einer Abschiebung nicht entgegen. Er wäre spätestens etwa fünf Wochen vor Ablauf der nun festgesetzten Abschiebungshaft zu entlassen, weil dann die erkannte Strafe, die zu seinen Ungunsten nicht mehr abgeändert werden könne, durch Anrechnung der Untersuchungshaft vollständig verbüßt wäre. Innerhalb des verbleibenden Zeitraums der bestehenden Abschiebungshaft könne der Betroffene durchaus abgeschoben werden.
Die Kammer habe ausnahmsweise ohne erneute persönliche Anhörung des Betroffenen entscheiden können, da dieser erst kurze Zeit vorher vom Amtsgericht angehört worden sei und hierbei Gelegenheit gehabt habe, dem Haftantrag entgegenzutreten. Weitere Erkenntnisse, die für das Beschwerdeverfahren von Bedeutung sein könnten, seien nicht zu erwarten; der Sachverhalt sei hinreichend aufgeklärt.
2. Der Beschluss des Landgerichts hat keinen Bestand, weil das Verfahren auf einer Rechtsverletzung beruht.
a) Rechtsfehlerfrei sind die Ausführungen des Landgerichts zum Vorliegen von Haftgründen nach § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und Nr. 5 AufenthG. Der Senat verweist auf die zutreffende landgerichtliche Begründung und macht sie sich zueigen. Ob der Betroffene dem Personenkreis zuzurechnen ist, der dem ARB 1/80 unterfällt, und aus europarechtlichen Gründen die Ausländerbehörde verpflichtet ist, das bestandskräftig abgeschlossene Ausweisungsverfahren wiederaufzugreifen oder die unbefristet ausgesprochene Ausweisungsverfügung nachträglich zu befristen (vgl. BVerwGE 124, 217), ist nicht im Verfahren vor den Haftgerichten (Zivilgerichten), sondern ausschließlich von der Verwaltungsgerichtsbarkeit zu klären (st. Rspr.; vgl. BayObLGZ 1993, 150; KG InfAuslR 2000, 230/232). Im Übrigen spricht der vom Senat erholte Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 9.8.2006 (19 C 06.1604) gegen die Rechtsansicht des Antragstellers, einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis oder zumindest auf Duldung zu besitzen.
b) Jedoch rügt der Betroffene zu Recht die unterbliebene Anhörung seiner Ehefrau. Nach § 5 Abs. 3 Satz 2 FreihEntzG ist, sofern die Ehegatten nicht dauernd getrennt leben, auch der Ehegatte des Betroffenen zu hören. Die Anhörung kann unterbleiben, wenn sie nicht ohne erhebliche Verzögerung oder nicht ohne unverhältnismäßige Kosten möglich ist. Kommt es in einem Abschiebungsverfahren auf die Art und die Intensität der familiären Bindungen an, ist die persönliche Anhörung des Ehepartners grundsätzlich unerlässlich (BayObLG InfAuslR 2001, 174). Die Anhörung hat mündlich stattzufinden und ist ein wesentlicher Bestandteil der dem Gericht obliegenden Sachaufklärungspflicht. Die Regelung des § 5 Abs. 3 FreihEntzG soll einen Mindeststandard der nach § 12 FGG gebotenen Sachaufklärung sicherstellen und gehört zu denjenigen Vorschriften, ohne deren Beachtung eine Freiheitsentziehung nicht zulässig ist (OLG Düsseldorf vom 3.6.1996, 3 Wx 191/96; OLG Düsseldorf AuAS 1996, 258). Eine ohne Anhörung des Ehegatten erfolgte richterliche Entscheidung über die Anordnung oder die Fortdauer der Auslieferungshaft wird jedenfalls dann, wenn Gründe für ein Absehen der Anhörung nach Maßgabe von § 5 Abs. 3 Satz 3 FreihEntzG nicht vorliegen, verfahrensfehlerhaft sein (OLG Celle InfAuslR 2005, 423 m.w.N.).
c) Das Verfahren des Tatrichters wird diesen Anforderungen nicht gerecht.
(1) Aus dem Antrag der Ausländerbehörde ergab sich bereits, dass der Betroffene am 6.12.2005 noch im Rahmen des Strafvollzugs eine namentlich bekannte deutsche Staatsangehörige heiratete und nach der Haftentlassung (am 10.2.2006) zu dieser gezogen ist. Vor dem Amtsgericht berief sich der Betroffene auch ausdrücklich auf seine ehelichen und familiären Bindungen.
Weder das Amtsgericht noch das Landgericht haben § 5 Abs. 3 Satz 2 FreihEntzG beachtet. Dass die Eheleute dauernd getrennt lebten, ist nicht festgestellt. Dafür sprechen insbesondere auch nicht zwangsläufig die aus den Akten ersichtlichen Umstände, nämlich dass der Betroffene etwa zwei Monate vor seiner Festnahme am 20.5.2006 sich nicht mehr in der ehelichen Wohnung aufgehalten habe, für die Ausländerbehörde unbekannten Aufenthalts gewesen sei und über seinen Rechtsanwalt den Anschein vermittelt habe, aus der Bundesrepublik Deutschland ausgereist zu sein.
(2) Nach § 5 Abs. 3 Satz 4 FreihEntzG kann die Anhörung nur unterbleiben, wenn sie nicht ohne erhebliche Verzögerung oder nicht ohne unverhältnismäßige Kosten möglich ist. Zu dieser Ausnahme fehlen gerichtliche Feststellungen. Die Ehefrau ist Deutsche, ihre Anschrift im Bereich des Landgerichtsbezirks ist bekannt. Es ist nicht ersichtlich, dass die Anhörung die Entscheidung wesentlich verzögert oder unverhältnismäßige Kosten verursacht hätte.
(3) Die Regelung in § 5 Abs. 3 FreihEntzG gehört zu denjenigen Vorschriften, ohne deren Beachtung nach Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG eine Freiheitsentziehung nicht zulässig ist (OLG Düsseldorf vom 3.6.1996, 3 Wx 191/96; OLG Düsseldorf AuAS 1996, 258; KG FGPrax 1995, 83/84 f.; OLG Celle InfAuslR 2005, 423). Auf die Frage der Erheblichkeit von Angaben des Ehegatten stellt § 5 Abs. 3 FreihEntzG nicht ab (OLG Celle aaO). Im Übrigen ist die Erheblichkeit der Anhörung gerade beim Haftgrund des § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG wegen § 62 Abs. 2 Satz 3 AufenthG nicht auszuschließen. Zudem muss der Haftrichter in jedem Einzelfall auch im Rahmen der übrigen Haftgründe die Vereinbarkeit der Haft mit dem Verhältnismäßigkeitsgebot sowie Art. 2 und Art. 6 GG prüfen (Renner Ausländerrecht 8. Aufl. § 62 Rn. 5 und 11). § 5 Abs. 3 Satz 2 FreihEntzG bietet zur Aufklärung dieser Umstände den formalen Rahmen.
3. Der Senat weist für das weitere Verfahren noch darauf hin, dass das Landgericht nach der (persönlichen) Anhörung der Ehefrau auch den Betroffenen gemäß § 5 Abs. 1 FreihEntzG noch wird mündlich hören müssen.
Ende der Entscheidung
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