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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht München
Beschluss verkündet am 09.01.2006
Aktenzeichen: 34 Wx 181/05
Rechtsgebiete: AufenthG, FreihEntzG


Vorschriften:

AufenthG § 62 Abs. 2
FreihEntzG § 5 Abs. 1
Hat der Haftrichter die Haftdauer auf einen nach Wochen oder Monaten bestimmten Zeitraum beschränkt und die Vollstreckung im Anschluss an eine bestehende Untersuchungshaft angeordnet, kann er auf Antrag der Ausländerbehörde nicht ohne erneute mündliche Anhörung des Betroffenen und ohne erneute Prüfung der allgemeinen Haftvoraussetzungen den ursprünglichen Beschluss dahin abändern, dass Abschiebungshaft nunmehr im Anschluss an die Strafhaft angeordnet wird.
Tatbestand:

Die Ausländerbehörde betreibt die Abschiebung des Betroffenen, eines afghanischen Staatsangehörigen. Der Betroffene reiste erstmals am 30.12.2001 in Begleitung seines Vaters ohne Ausweis und ohne Aufenthaltstitel in die Bundesrepublik Deutschland ein. Der am 23.1.2002 gestellte Asylantrag wurde am 14.7.2003 abgelehnt. Die Entscheidung des damaligen Bundesamts für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge ist seit 5.8.2003 bestandskräftig.

Der nun volljährige Betroffene befand sich seit 1.5.2005 wegen Verdachts des versuchten Raubs und anderem in Untersuchungshaft. Das Amtsgericht - Jugendschöffengericht - verurteilte ihn am 1.8.2005 wegen versuchten Raubs in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung in Tatmehrheit mit Bedrohung zu einer Jugendstrafe von neun Monaten. Eine Strafaussetzung zur Bewährung ordnete es nicht an. Das Urteil ist seit 24.11.2005 rechtskräftig. Die derzeit vollstreckte Jugendstrafe wird nach der aktuellen Haftzeitübersicht mit Ablauf des 27.1.2006 verbüßt sein.

Der Betroffene verfügte über keine Ausweispapiere. Seinen bis 9.8.2005 gültigen afghanischen Reisepass hatte er Ende 2004 verloren, jedoch seitdem keine Bemühungen unternommen, sich neue Papiere ausstellen zu lassen.

Auf Antrag der Ausländerbehörde hat das Amtsgericht nach Anhörung des Betroffenen mit Beschluss vom 29.9.2005 Abschiebungshaft bis zur möglichen Abschiebung, längstens jedoch auf die Dauer von einem Monat im Anschluss an die bestehende Untersuchungshaft und die sofortige Wirksamkeit seiner Entscheidung angeordnet. Hiergegen hat der nun anwaltlich vertretene Betroffene am 11.10.2005 sofortige Beschwerde eingelegt und diese nach erfolgter Akteneinsicht unter dem 28.11.2005 näher begründet.

Auf Antrag der Ausländerbehörde vom 28.11.2005 hat das Amtsgericht am 1.12.2005 ohne Anhörung des Betroffenen seinen Beschluss vom 29.9.2005 dahingehend abgeändert, dass die angeordnete Abschiebungshaft durch die Vollstreckung der Jugendstrafe gemäß Urteil des Amtsgerichts vom 1.8.2005 unterbrochen, der verbleibende Rest der Abschiebehaft sodann im Anschluss an die Strafhaft vollstreckt wird und die Unterbrechung mit Datum dieses Beschlusses erfolgt.

Das Landgericht hat mit Beschluss vom 12.12.2005, ebenfalls ohne Anhörung des Betroffenen, die sofortige Beschwerde zurückgewiesen. Hiergegen richtete sich die am 22.12.2005 eingelegte sofortige weitere Beschwerde des Betroffenen vom 21.12.2005. Das zulässige Rechtsmittel war erfolgreich.

Gründe:

Die bestehende Haftanordnung kann jedenfalls schon aus verfahrensrechtlichen Gründen keinen Bestand haben.

1. Das Landgericht hat ausgeführt:

Das zulässige Rechtsmittel sei nicht begründet. Der Betroffene sei seit 5.8.2003 vollziehbar ausreisepflichtig. Aus asylrechtlichen Gründen bestehe kein Aufenthaltsrecht. Ob die Ausweisung und Abschiebung zu Recht betrieben werde, sei im Verfahren über die Anordnung von Abschiebungshaft nicht zu prüfen. Es liege der Haftgrund des § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AufenthG vor. Der Verdacht, der Betroffene werde sich seiner Abschiebung entziehen, beruhe auf dem Umstand, dass er wiederholt erhebliche Straftaten begangen habe, die zuletzt eine nicht zur Bewährung ausgesetzte Jugendstrafe zur Folge gehabt hätten. Daraus könne entnommen werden, dass der Betroffene nicht gewillt sei, die geltende Rechtsordnung zu achten und für eine Abschiebung sich freiwillig bereit zu halten. Indiziell komme hinzu, dass der Betroffene nach Verlust seines Reisepasses es unterlassen habe, sich um eine Neuausstellung zu kümmern. Die Haftanordnung sei auch im Übrigen weder unzulässig noch unverhältnismäßig.

2. Die Entscheidung des Landgerichts hält der rechtlichen Nachprüfung gemäß § 106 Abs. 2 Satz 1 AufenthG, § 3 Satz 2 FreihEntzG, § 27 Abs.1 Satz 2 FGG, § 546 ZPO nicht stand. Zugleich aufzuheben ist der amtsgerichtliche Haftanordnungsbeschluss in seiner derzeitigen Fassung, weil er an einem erheblichen Verfahrensmangel leidet.

a) Gegenstand der Beschwerdeentscheidung ist die Haftanordnung des Amtsgerichts in der abgeänderten Fassung vom 1.12.2005. Diese hätte nicht ohne erneute mündliche Anhörung des Betroffenen (vgl. § 5 Abs. 1 FreihEntzG) ergehen dürfen. Die vorherige mündliche Anhörung gehört zu den wesentlichen Verfahrensgarantien gemäß Art. 104 GG, gewährleistet das rechtliche Gehör im Sinn von Art. 103 Abs. 1 GG (BVerfG InfAuslR 1996, 198) und dient der Sachaufklärung (vgl. § 12 FGG). Ob das Landgericht diesen Mangel des amtsgerichtlichen Verfahrens durch die Anhörung des Betroffenen in der Beschwerdeinstanz (§ 5 Abs. 1 FreihEntzG) noch hätte für die Zukunft (vgl. BVerfG InfAuslR 1996, 198/201) heilen und damit eine Grundlage für den Vollzug von Abschiebungshaft nach Verbüßung der Jugendstrafe hätte schaffen können, mag dahin stehen. Denn auch das Landgericht hat verfahrensfehlerhaft den Betroffenen nicht persönlich angehört.

Der Beschluss des Amtsgerichts vom 1.12.2005 gestaltete die ursprüngliche Haftanordnung entscheidend um. Nach der Anordnung vom 29.9.2005 war die Abschiebungshaft im Anschluss an die damals bestehende Untersuchungshaft zu vollstrecken. Diese Entscheidung stand formell im Einklang mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung (vgl. BGHZ 129, 98) und berücksichtigte den Umstand, dass Abschiebungshaft nicht auch bereits im Anschluss an eine möglicherweise zu erwartende, aber noch nicht verhängte (rechtskräftige) Strafhaft vorgesehen werden kann. Die Abschiebungshaft darf nur im Anschluss an eine solche Haft angeordnet werden, die der Haftrichter in seine Beurteilung, ob die Abschiebungshaft erforderlich ist, einbezogen hat (BayObLGZ 1991, 369/370). Einbeziehen kann der Haftrichter aber nur zum Zeitpunkt der Entscheidung bekannte Tatsachen. Eine erst nach Erlass der Abschiebungshaftanordnung möglicherweise verhängte Strafhaft kann im Hinblick auf das Erfordernis der Bestimmtheit der Haftanordnung nicht berücksichtigt werden (BGHZ 129, 383/385). Keine Rolle spielt es, dass im Zeitpunkt des ersten Beschlusses bereits ein Strafurteil vorlag. Dieses war nicht rechtskräftig und der Ausgang des Berufungsverfahrens ungewiss.

b) Durch den abändernden Beschluss des Amtsgerichts vom 1.12.2005 wird der Vollzugszeitpunkt für den noch verbliebenen Teil der Haftanordnung hinausgeschoben in den Zeitraum nach Vollstreckung der Jugendstrafe, also nach Aktenlage auf die Zeit ab 28.1.2006. Dauert die Untersuchungshaft nicht über den Zeitpunkt hinaus an, bis zu dem die Strafhaft vollstreckt wäre, hat die Anordnung des Amtsgerichts zur Folge, dass anstelle des zunächst festgelegten Haftendes im Nachhinein ein weiter hinausgeschobenes Haftende tritt. Dies kann richterlich nicht verfügt werden ohne die Durchführung eines förmlichen Verlängerungsverfahrens. Denn die ebenfalls grundsätzlich zulässige Anordnung der Sicherungshaft zum Zwecke der Abschiebung des Ausländers im Anschluss an eine verbüßte Strafhaft hängt von anderen Voraussetzungen ab, als wenn die Sicherungshaft im Anschluss an eine Untersuchungshaft angeordnet wird (KG FGPrax 1995, 83/84). Dazu lag zwar der notwendige Antrag der Ausländerbehörde vor. Der Tatrichter hat hierüber jedoch im förmlichen Verfahren nach erneuter mündlicher Anhörung und nach erneuter Verhältnismäßigkeitsprüfung zu entscheiden (BayObLGZ 1997, 304/306; vgl. auch OLG Hamm FGPrax 1995, 82; KG FGPrax 1995, 83). Dies wurde verfahrensfehlerhaft unterlassen.

c) Der Senat macht von der Möglichkeit Gebrauch, auch die Entscheidung des Amtsgerichts aufzuheben und die Sache unmittelbar an dieses statt an das Landgericht zurückzuverweisen, weil der maßgebliche Verfahrensfehler bereits im amtsgerichtlichen Verfahren liegt und die notwendigen Feststellungen zweckmäßigerweise dort zu treffen sind (vgl. KG FGPrax 1995, 83/85; Meyer-Holz in Keidel/Kuntze/Winkler FGG 15. Aufl. § 27 Rn. 61 m.w.N.).

d) Der Senat weist für das weitere Verfahren auf der Grundlage des Antrags der Ausländerbehörde vom 28.11.2005 noch auf Folgendes hin:

(1) Die Ausländerbehörde hat die Zeit, während der sich der Betroffene anderweitig in Haft befindet, zur Vorbereitung der Ausweisung zu nutzen und unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit diese mit der größtmöglichen Beschleunigung zu betreiben. Nach Aktenlage ist die Ausländerbehörde diesen Anforderungen nachgekommen. Das kann nun aber bedeuten, dass es eine Haftanordnung für die Dauer von längstens einem Monat nicht mehr bedarf, sondern ein kürzerer Zeitraum für den Vollzug der Abschiebung ausreichend ist. Wie der Senat ermittelt hat, sind die erforderlichen Dokumente inzwischen beschafft; die Abschiebung ist nunmehr verbindlich für den 1.2.2006 vorgesehen. Geht man davon aus, dass die Voraussetzungen für die Sicherungshaft im Übrigen vorliegen (siehe auch nachfolgend zu (2)), wird ein Zeitraum, der sich nicht wesentlich über den vorgesehenen Abschiebungszeitpunkt hinaus erstreckt, im Allgemeinen ausreichend bemessen sein.

(2) Das Amtsgericht wird aber auch zu prüfen haben, ob nunmehr noch der begründete Verdacht fortbesteht, dass sich der Betroffene der Abschiebung entziehen will (§ 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AufenthG). Straftaten einigen Gewichts können auf eine Missachtung der Rechtsordnung und eine darin zum Ausdruck kommende rechtsfeindliche Energie schließen lassen, somit auch den Verdacht begründen, der Betroffene werde sich der Abschiebung entziehen (BayObLGZ 1993, 265/266; 1997, 79/81). Ob das bei dem gerade 18-jährigen Betroffenen nach Verbüßung der Jugendstrafe der Fall ist, wäre im Rahmen der Sachaufklärung nach § 12 FGG zu prüfen. Jedoch wird in diesem Zusammenhang auch, zunächst von der Ausländerbehörde, zu erwägen sein, ob nicht ohnehin nunmehr ein Antrag auf Verhängung von Sicherungshaft nach § 62 Abs. 2 Satz 2 AufenthG ausreichend ist, in deren Rahmen es des Vorliegens der besonderen Haftgründe gemäß § 62 Abs. 2 Satz 1 AufenthG nicht bedarf (vgl. OLG Köln FGPrax 2005, 274/275).

Ende der Entscheidung

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