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Gericht: Oberlandesgericht München
Beschluss verkündet am 18.01.2006
Aktenzeichen: 4 St RR 252/05
Rechtsgebiete: StPO
Vorschriften:
StPO § 251 Abs. 1 Nr. 2 | |
StPO § 251 Abs. 2 Nr. 1 | |
StPO § 261 |
2. Eine mögliche Betäubungsmittelabhängigkeit zumal in jugendlichem Alter ist grundsätzlich ein Umstand, der das Aussageverhalten eines Zeugen beeinflussen kann. Ob dies in Verbindung mit einem attestierten psychopathologischen Befund Anlass für eine sachverständige Beratung hinsichtlich der Aussagetüchtigkeit und Glaubwürdigkeit des Zeugen bietet, ist im Einzelfall vom Tatgericht zu beurteilen.
Tatbestand:
1. Das Amtsgericht verurteilte den Angeklagten wegen vorsätzlichen unerlaubten Erwerbs von Betäubungsmitteln in zwei Fällen, in einem Fall in Tateinheit mit unerlaubter Abgabe von Betäubungsmitteln als Person über 21 Jahre an eine Person unter 18 Jahren und in einem Fall in Tateinheit mit Bestimmen einer Person unter 18 Jahren als Person über 21 Jahre, mit Betäubungsmitteln unerlaubt Handel zu treiben, zur Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und acht Monaten. Hiergegen legten der Angeklagte ohne Beschränkung und die Staatsanwaltschaft beschränkt auf den Rechtsfolgenausspruch Berufung ein.
Nachdem die Berufungsverhandlung am 9.5.2005 im Hinblick auf Beweisanträge des Verteidigers ausgesetzt worden war, wurden die Berufungen des Angeklagten und der Staatsanwaltschaft durch Urteil des Landgerichts vom 21.9.2005 verworfen. Der Entscheidung liegen u. a. folgende Feststellungen zugrunde:
1. Zu einem nicht mehr genau feststellbaren Zeitpunkt im Jahr 2003 kaufte und übernahm der Angeklagte von zwei mit einem dunklen PKW angereisten männlichen Personen im Stadtgebiet von F. ca. 5 g Heroin guter Qualität (Wirkstoffgehalt über 10 %) zum Preis von 300 EUR. Hiervon verkaufte und übergab er ca. 1,4 g für 70 EUR der Zeugin D, geboren 1987, deren Alter er kannte.
Die Zeugin D konsumierte bereits vorher verschiedene Betäubungsmittel, seit Ende 2002 auch Heroin.
2. Zu einem nicht mehr genau feststellbaren Zeitpunkt im September/Oktober 2003 erteilte der Angeklagte der Zeugin D den Auftrag, für ihn in A. 5 g Heroin zum Preis von 210 EUR zu erwerben. Auftragsgemäß begab sich die Zeugin D sodann nach A. und erwarb dort die vom Angeklagten angegebene Heroinmenge durchschnittlicher Qualität (ca. 10 % Wirkstoffgehalt). Nach ihrer Rückkehr nach F. konsumierten beide im Wald etwas von dem Heroin. Ca. die Hälfte überließ der Angeklagte der Zeugin D zum Zweck des gewinnbringenden Weiterverkaufs für ihn.
Die Zeugin konsumierte jedoch auch hiervon etwas für sich, streckte den Rest unsachgemäß mit Backpulver auf, so dass er unbrauchbar wurde. Zu einem tatsächlichen Weiterverkauf kam es daher nicht. Es sollte ein Erlös von ca. 200 EUR erzielt werden.
...
Hinsichtlich der Qualität des Heroins geht das Gericht hinsichtlich der in A. erworbenen Ware von einem Reinheitsgehalt von mindestens 10 % aus.
2. Mit der Revision rügte der Verteidiger die Verletzung formellen und materiellen Rechts. In verfahrensrechtlicher Hinsicht wendet er sich gegen die Verlesung der Niederschrift über die Aussage, die die Zeugin D vor dem Amtsgericht in erster Instanz gemacht hat. Das Berufungsgericht sei zu Unrecht davon ausgegangen, dass dem Erscheinen der Zeugin in der Hauptverhandlung ein Hindernis entgegengestanden habe. Ferner erhebt der Verteidiger die Aufklärungsrüge, da der Hilfsbeweisantrag auf Einholung eines psychiatrischen Gutachtens zur Glaubwürdigkeit der Zeugin D nicht hätte abgelehnt werden dürfen. Auch der Beweisantrag auf Verlesung der Listen, die die Arbeitgeberin des Angeklagten über dessen Anwesenheit am Arbeitsplatz im März/April 2003 erstellt habe, sei rechtsfehlerhaft abgelehnt worden. Die gemäß §§ 333, 341 Abs. 1, §§ 344, 345 StPO zulässige Revision erwies sich als begründet.
Gründe:
1. Die Revision hat Erfolg, soweit sie sich mit der Verfahrensrüge gegen die Verlesung der Niederschrift über die Aussage der Zeugin D, die diese vor dem Amtsgericht in erster Instanz gemacht hat, wendet.
Das Berufungsgericht hat die Verlesung auf § 251 Abs. 1 Nr. 2 StPO gestützt. Danach kann die Vernehmung durch die Verlesung einer Niederschrift über eine Vernehmung ersetzt werden, wenn der Zeuge verstorben ist oder aus einem anderen Grund in absehbarer Zeit gerichtlich nicht vernommen werden kann. Daneben lässt § 251 Abs. 2 Nr. 1 StPO, dessen Anwendung hier ebenfalls in Betracht zu ziehen ist, die Verlesung der Niederschrift über eine frühere richterliche Vernehmung zu, wenn dem Erscheinen des Zeugen in der Hauptverhandlung für eine längere oder ungewisse Zeit Krankheit, Gebrechlichkeit oder andere nicht zu beseitigende Hindernisse entgegenstehen. Da die in Abs. 2 Nr. 1 genannten Hinderungsgründe aber - wie vom Landgericht angenommen - bereits nach Abs. 1 Nr. 2 die Verlesung ermöglichen, läuft Abs. 2 Nr. 1 weithin leer (Meyer-Goßner StPO 48. Aufl. § 251 Rn. 20).
a) Das Berufungsgericht hat einen Hinderungsgrund für die Vernehmung der Zeugin in der Hauptverhandlung darin gesehen, dass diese unter einer posttraumatischen Belastungsstörung leide und ihr wegen einer autoaggressiven Handlung mit Suizidgedanken anlässlich der Vernehmung in erster Instanz eine erneute Vernehmung derzeit nicht zumutbar sei. Eine Verlesung kann grundsätzlich auch dann in Betracht kommen, wenn der Krankheitszustand eines Zeugen sein Erscheinen vor dem erkennenden Gericht nicht schlechterdings unmöglich macht. Es genügt, wenn die Vernehmung in der Hauptverhandlung dem Zeugen aller Voraussicht nach eine erhebliche Verschlechterung eines ernstlichen Leidens zufügen würde; ob dies der Fall ist, entscheidet das Tatgericht nach freiem Ermessen (BGHSt 9, 297/300). Dass das Berufungsgericht hier gestützt auf das Attest der Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. U davon ausgegangen ist, dem Erscheinen der Zeugin in der Hauptverhandlung stehe ein Hinderungsgrund entgegen, lässt Rechtsfehler nicht erkennen.
b) § 251 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 1 StPO setzt aber weiter voraus, dass der Zeuge in absehbarer Zeit nicht gerichtlich vernommen werden kann bzw. dass eine Vernehmung in der Hauptverhandlung für eine längere oder ungewisse Zeit nicht möglich ist. Dafür, ob ein Zeuge in absehbarer Zeit gerichtlich nicht vernommen werden kann, gibt es keinen für alle Fälle gültigen Maßstab. Die dem Tatgericht obliegende Entscheidung, ob diese Voraussetzung gegeben ist, erfordert vielmehr eine Abwägung der Bedeutung der Sache und der Wichtigkeit der Zeugenaussage für die Wahrheitsfindung einerseits gegen das Interesse an einer reibungslosen und beschleunigten Durchführung des Verfahrens andererseits unter Berücksichtigung der Pflicht zur erschöpfenden Sachaufklärung, § 244 Abs. 2 StPO (BGHSt 22, 118/120; 32, 68/72 f.; BGH NStZ-RR 1997, 268; KK/ Diemer StPO 5. Aufl. § 251 Rn. 4; Alsberg/Nüse/Meyer Der Beweisantrag im Strafprozess 5. Aufl. S. 270).
Die Beurteilung durch das Tatgericht ist hier nicht frei von Rechtsfehlern. Die Angaben der Zeugin D, der einzigen unmittelbaren Belastungszeugin, waren für das Verfahren von großer Bedeutung. Dem Angeklagten drohten eine erhebliche Haftstrafe sowie der Widerruf einer Bewährung aus einer Vorverurteilung. Ferner ist zu berücksichtigen, dass es für eine Verurteilung des Angeklagten maßgeblich auf die Glaubwürdigkeit der Zeugin ankam. Im Hinblick auf die Drogenabhängigkeit der Zeugin und den von der Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie attestierten psychopathologischen Befund war es besonders wichtig, dass sich das Tatgericht im Interesse einer erschöpfenden Sachaufklärung nach Möglichkeit einen persönlichen Eindruck von der Zeugin verschafft. Es war auch nicht ungewiss, wann die Zeugin für eine Vernehmung in der Hauptverhandlung wieder zur Verfügung stehen würde. Nach dem ärztlichen Attest war zu erwarten, dass sich ihr Zustand so stabilisieren würde, dass sie ab April 2006 wieder in der Lage ist, sich mit der juristischen Problematik auseinander zu setzen, also in der Hauptverhandlung vernommen werden kann. Zwar hätte dies eine weitere Verfahrensverzögerung um ca. 1/2 Jahr bewirkt, nachdem die Hauptverhandlung wegen Beweisanträgen des Verteidigers bereits am 9.5.2005 ausgesetzt worden war. Angesichts der ausschlaggebenden Bedeutung der Angaben der Zeugin D für die der Urteilsfindung zugrunde liegenden schwerwiegenden Tatvorwürfe überwiegt hier jedoch das Interesse an einer erschöpfenden Sachaufklärung gegenüber dem Gebot der Verfahrensbeschleunigung, zumal der Angeklagte sich nicht in Untersuchungshaft befindet (BayObLG VRS 63, 211/212; OLG Schleswig StV 1982, 11; BGH NStZ 1982, 341; SK/ Schlüchter StPO § 251 Rn. 14). Ein Beruhen des Urteils auf dem Verfahrensfehler kann nicht ausgeschlossen werden (vgl. BGH NStZ-RR 1997, 268).
c) Für den Fall, dass im weiteren Verfahrensverlauf wiederum eine lang andauernde Verhinderung der Zeugin, vor Gericht zu erscheinen, attestiert werden sollte, wird das Berufungsgericht zu prüfen haben, ob eine ergänzende amtsgerichtsärztliche Begutachtung geboten erscheint.
2. Die Beurteilung der Glaubwürdigkeit der Zeugin D ist ebenfalls nicht frei von Rechtsfehlern.
a) Das Landgericht hat zur Glaubwürdigkeitsprüfung keine ausreichenden Feststellungen getroffen; insoweit ist die Sachrüge begründet. Steht - wie hier - Aussage gegen Aussage, sind die Angaben des Belastungszeugen einer besonders sorgfältigen Glaubwürdigkeitsprüfung zu unterziehen. Eine lückenlose Gesamtwürdigung der Indizien ist in einem solchen Fall besonders wichtig. Das Tatgericht hätte sich daher damit auseinander setzen müssen, ob die Zeugin D (auch) wegen der dem Angeklagten zur Last liegenden Sachverhalte angeklagt oder gar verurteilt wurde und ob ihr wegen der Angaben zum Nachteil des Angeklagten die Milderung des § 31 BtMG zugute gekommen ist. Dies ist für die Beurteilung, ob sie möglicherweise ein Motiv für eine Falschbelastung zum Nachteil des Angeklagten hatte, von maßgeblicher Bedeutung (BGH StV 2002, 470/471; OLG Köln StV 2004, 419).
b) Ob, wie vom Verteidiger beanstandet, eine sachverständige Begutachtung der Aussagetüchtigkeit und Glaubwürdigkeit der Zeugin erforderlich ist, kann hier nicht abschließend beurteilt werden.
Die Würdigung von Zeugenaussagen gehört zum Wesen richterlicher Rechtsfindung und ist daher grundsätzlich dem Tatgericht anvertraut. Die Hinzuziehung eines Sachverständigen ist aber dann geboten, wenn der Sachverhalt ausnahmsweise solche Besonderheiten aufweist, dass Zweifel daran aufkommen können, ob die Sachkunde des Gerichts auch zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit unter den gegebenen besonderen Umständen ausreicht (st. Rspr.; vgl. BayObLG StV 1996, 476; BGH StV 1993, 567; NStZ-RR 1997, 106). Den Urteilsfeststellungen ist zu entnehmen, dass die Zeugin eine der jüngsten Heroinkonsumentinnen war. Eine mögliche Betäubungsmittelabhängigkeit zumal in jugendlichem Alter ist grundsätzlich ein Umstand, der das Aussageverhalten eines Zeugen beeinflussen kann. Ob dies in Verbindung mit dem attestierten psychopathologischen Befund Anlass für eine sachverständige Beratung hinsichtlich der Aussagetüchtigkeit und Glaubwürdigkeit der Zeugin bietet (vgl. BGH NStZ-RR 2006, 18), wird das Tatgericht unter Einbeziehung des persönlichen Eindrucks von der Zeugin (erneut) zu beurteilen haben.
c) Dass eine Verlesung der Listen zur Anwesenheit des Angeklagten an seinem Arbeitsplatz unterblieben ist, ist im Ergebnis nicht zu beanstanden. Erkenntnisse zur Glaubwürdigkeit der Zeugin D waren hiervon nicht zu erwarten, da die Arbeitszeit des Angeklagten, worauf die Staatsanwaltschaft bei dem Revisionsgericht in ihrer Stellungnahme zutreffend hinweist, teilweise bereits mittags endete. Ein Besuch der Zeugin beim Angeklagten im März 2003 während der Mittagspause, wie dies die Zeugin in ihrer polizeilichen Vernehmung behauptet hat, war daher möglich, ohne dass dies den in den Listen aufgeführten Anwesenheitszeiten widerspricht.
Zum weiteren Verfahrensgang wird auf Folgendes hingewiesen:
In dem der Verurteilung zugrunde liegenden Fall 2 wird bei entsprechenden erneuten Feststellungen hinsichtlich des gemeinsamen Konsums von Betäubungsmitteln mit der Zeugin zu prüfen sein, ob auch eine Straftat nach § 29 a Abs. 1 Nr. 1 BtMG (Überlassen von Betäubungsmitteln als Person über 21 Jahre an eine Person unter 18 Jahren zum unmittelbaren Verbrauch) in Betracht kommt.
Ende der Entscheidung
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