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Gericht: Oberlandesgericht München
Beschluss verkündet am 10.10.2006
Aktenzeichen: 4St RR 193/06
Rechtsgebiete: StPO
Vorschriften:
StPO § 329 Abs. 1 Satz 1 |
2. Legt der Angeklagte dem Berufungsgericht lediglich eine Bestätigung vor, wonach er sich stationär in einem Krankenhaus befinde, erklärt aber der behandelnde Arzt auf Anfrage des Gerichts, es sei fraglich, ob der Angeklagte überhaupt krank sei, in jedem Fall sei er verhandlungsfähig, so besteht kein Anlass zur weiteren Aufklärung, ob der Angeklagte sich subjektiv für entschuldigt halten durfte.
Tatbestand:
1. Das Amtsgericht hat den Angeklagten am 12.4.2005 wegen dreier sachlich zusammentreffender Vergehen des Betruges in Tatmehrheit mit 11 sachlich zusammentreffenden Vergehen der Untreue in Tatmehrheit mit vier sachlich zusammentreffenden Vergehen der falschen Angaben in Tatmehrheit mit zwei sachlich zusammentreffenden Vergehen des vorsätzlichen Bankrotts zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und vier Monaten verurteilt. Die auf die Rechtsfolgen beschränkte Berufung des Angeklagten hiergegen hat das Landgericht mit Urteil vom 23.6.2006 gemäß § 329 StPO ohne Verhandlung zur Sache verworfen. Das Landgericht hat sein Urteil wie folgt begründet:
Der Angeklagte hat gegen das Urteil des Amtsgerichts vom 12.4.2005 am 13.4.2005 form- und fristgerecht Berufung eingelegt.
In der auf heute anberaumten Berufungshauptverhandlung ist der Angeklagte nicht erschienen. In dem Ladungsschreiben ist darauf hingewiesen, dass die Berufung gegen den Angeklagten verworfen wird, falls der Angeklagte bis zum Beginn der Hauptverhandlung nicht erscheint, und sein Ausbleiben nicht genügend entschuldigt ist. Der Angeklagte ist zur Hauptverhandlung nicht erschienen; das Ausbleiben nicht ausreichend entschuldigt.
Eine Nachfrage beim behandelnden Arzt durch das Gericht hat ergeben, dass nach Auffassung des behandelnden Arztes eine Verhandlungsunfähigkeit eindeutig nicht vorliegt; darüber hinaus nach Auffassung des behandelnden Arztes fraglich ist, ob überhaupt eine Erkrankung des Angeklagten besteht. Gemäß § 329 StPO war daraufhin die Berufung mit der Kostenfolge aus § 473 StPO sofort zu verwerfen.
Einen Antrag auf Wiedereinsetzung hat das Landgericht mit Beschluss vom 3.7.2006 gemäß § 342 Abs. 3 StPO verworfen, weil der Antrag nicht zugleich mit der Revision eingegangen sei.
2. Mit der Revision rügte der Angeklagte die Verletzung formellen und sachlichen Rechts. Die Sachrüge wurde in allgemeiner Form erhoben. Mit der Verfahrensrüge wurden Verstöße gegen § 34 StPO und gegen § 329 StPO beanstandet. Die schriftlichen Gründe des angefochtenen Urteils seien lückenhaft und würden daher dem Begründungserfordernis des § 34 StPO nicht gerecht. Denn dem Revisionsgericht sei eine Nachprüfung der Verfahrensvoraussetzungen für eine Entscheidung nach § 329 StPO nicht möglich. Ein Verstoß gegen § 329 StPO liege vor, weil das Landgericht die Frage, ob der Angeklagte genügend entschuldigt war, fehlerhaft entschieden habe.
Die gemäß § 333 StPO statthafte Revision erwies sich als zulässig, § 341 Abs. 1, § 344, 345 StPO. Sie hatte jedoch in der Sache keinen Erfolg, weil die Nachprüfung des Urteils keine durchgreifenden rechtlichen Mängel ergeben hat.
Gründe:
1. Die Sachrüge führt bei einem Urteil, das - wie hier - auf § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO beruht, nur zur Nachprüfung von Verfahrenshindernissen (BGHSt 21, 242/243). Der erkennende Senat sieht auch im Hinblick auf die von der Revision zitierte anderweitige Auffassung einzelner Oberlandesgerichte keinen Anlass, seine bisherige, mit der zitierten Entscheidung des Bundesgerichtshofes übereinstimmende Rechtsprechung zu ändern. Für Verfahrenshindernisse sind vorliegend keine Anhaltspunkte erkennbar.
2. Die Rüge der Verletzung von § 329 StPO genügt den Formerfordernissen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO. Auf die Frage, ob der Beschwerdeführer eine Verletzung des § 329 StPO auch mit der Sachrüge angreifen kann, kommt es daher vorliegend nicht an. Die Verfahrensrüge hat allerdings keinen Erfolg.
a) Ein Verstoß gegen § 329 Abs. 1 StPO liegt nicht vor.
aa. Nach dieser Vorschrift kommt es nicht darauf an - worauf der Revisionsführer zu Recht hinweist -, ob der Angeklagte sich genügend entschuldigt hat, sondern ob er genügend entschuldigt ist (vgl. hierzu Meyer-Goßner StPO 49. Aufl. § 329 Rn. 18 mit zahlreichen Nachweisen aus der Rechtsprechung). Allerdings kann das Berufungsgericht naturgemäß bei seiner Entscheidung nur solche Tatsachen berücksichtigen, die ihm bekannt geworden sind. Das Revisionsgericht ist an die insoweit festgestellten Tatsachen gebunden und kann sie nicht ergänzen oder gar im Wege des Freibeweises korrigieren (BayObLGSt 1996, 90/93; BayObLG StV 2001, 338; BGHSt 28, 384). Denn der Prüfung des Revisionsgericht unterliegt nur die Frage, ob das Berufungsgericht in der Anwendung von § 329 Abs. 1 StPO fehlerhaft gehandelt hat, insbesondere ob es den Rechtsbegriff der genügenden Entschuldigung verkannt hat oder nicht. Entschuldigungsgründe, die das Gericht nicht gekannt hat und die es auch nicht kennen musste - was die Ausschöpfung seiner Aufklärungspflicht voraussetzt - können hingegen im Revisionsverfahren keine Berücksichtigung finden. Sie können nur Gegenstand eines Wiedereinsetzungsverfahrens sein. Der Revisionsführer kann daher nicht mit dem Hinweis auf ein ärztliches Attest vom 27.6.2006 gehört werden, weil dieses dem Berufungsgericht zum Zeitpunkt des Urteils am 23.6.2006 nicht bekannt sein konnte.
bb. Aufgrund der zulässigerweise erhobenen Verfahrensrüge kann der erkennende Senat bei der revisionsrechtlichen Überprüfung des angefochtenen Urteils den Inhalt der Akten heranziehen. Aus dem Protokoll der Berufungshauptverhandlung und den vom Landgericht festgestellten Tatsachen ergibt sich, dass Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten bei der Anwendung von § 329 Abs. 1 StPO nicht erkennbar sind.
Hat das Berufungsgericht Anhaltspunkte dafür, dass das Ausbleiben eines Angeklagten entschuldigt sein kann, so muss es ihnen durch Ermittlungen im Freibeweis nachgehen (BayObLGSt 1997, 145). Solche Anhaltspunkte ergaben sich vorliegend aus der am 22.6.2006 dem Gericht übersandten "Bescheinigung zur stationären Behandlung" des Jüdischen Krankenhauses Berlin. Das Berufungsgericht ist seiner hieraus folgenden Aufklärungspflicht insoweit nachgekommen, als der Vorsitzende am selben Tag telefonisch den Inhalt dieser Bescheinigung überprüft hat. Diese Überprüfung beim behandelnden Arzt ergab, dass eine Verhandlungsunfähigkeit nicht vorlag und nach Auffassung des behandelnden Arztes fraglich war, ob überhaupt eine Erkrankung des Angeklagten bestand. Zu weiteren Ermittlungen musste sich das Landgericht nicht veranlasst sehen. Denn aus der dem Gericht am 22.6.2006 übersandten Bescheinigung zur stationären Behandlung ergab sich weder ein Grund für die stationäre Aufnahme des Angeklagten, insbesondere ergab sich hieraus keine Diagnose, noch kann dieser Bescheinigung die ärztliche Einschätzung entnommen werden, der Angeklagte sei verhandlungsunfähig. Entgegen der Auffassung des Revisionsführers bestand daher aus Sicht des Berufungsgerichts kein Widerspruch zwischen der vorgelegten Bescheinigung und den telefonisch eingeholten Auskünften der behandelnden Ärzte. Da ein solcher Widerspruch nicht bestand, mussten sich für das Landgericht auch keine Zweifel an den telefonisch eingeholten Auskünften ergeben, so dass weitere Ermittlungen, insbesondere die Einschaltung eines Amtsarztes vor Ort, nicht veranlasst waren.
cc. Der sich aus den gebotenen und vom Landgericht durchgeführten Ermittlungen ergebende Sachverhalt berechtigte das Landgericht zur Annahme, der Angeklagte sei unentschuldigt nicht erschienen. Der Begriff der genügenden Entschuldigung darf nicht eng ausgelegt werden. Denn § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO enthält eine Ausnahme von dem Grundsatz, dass ohne den Angeklagten nicht verhandelt werden darf (§ 230 Abs. 1 StPO). Die Regelung birgt nicht nur die Gefahr eines sachlich unrichtigen Urteils in sich, sondern auch, dass dem Angeklagten das ihm nach Art. 103 Abs. 1 GG zustehende rechtliche Gehör entzogen wird. Deshalb ist bei der Prüfung der vorgebrachten oder vorliegenden Entschuldigungsgründe eine weite Auslegung zugunsten des Angeklagten geboten. Bloße Zweifel an der Richtigkeit des tatsächlichen Vorbringens des Angeklagten und an der Beweiskraft der vorgelegten Urkunden rechtfertigen die Verwerfung nicht (Meyer-Goßner aaO Rn. 22 m.w.N.).
Vorliegend ist jedoch nicht ersichtlich, dass das Landgericht Zweifel an der Richtigkeit der erlangten telefonischen Auskünfte hatte. Solche Zweifel mussten sich dem Landgericht aufgrund des eindeutigen Inhalts der telefonischen Auskunft auch nicht aufdrängen.
dd. Der Revisionsführer weist zwar zutreffend darauf hin, dass die unentschuldigte Säumnis eine Pflichtverletzung auch in subjektiver Hinsicht voraussetzt. Es werden jedoch keinerlei Tatsachen vorgetragen, die auch für das Landgericht erkennbar ein Vertrauen des Angeklagten auf eine ausreichende Entschuldigung rechtfertigen würden. Grundsätzlich kann das Nichterscheinen einem Angeklagten nicht vorgeworfen werden, wenn er im berechtigten Vertrauen auf die Richtigkeit einer ärztlichen Diagnose und gegebenenfalls eines ärztlichen Rates davon ausgeht, aus gesundheitlichen Gründen einen Gerichtstermin nicht wahrnehmen zu können oder zu müssen und zudem annehmen kann, die vorgebrachte Entschuldigung reiche aus (OLG Düsseldorf NJW 1985, 2207; OLG Köln VRS 97, 362; OLG Hamm StV 1993, 7). Die vorgelegte Bescheinigung des Krankenhauses enthält jedoch gerade nicht die Feststellung, der Angeklagte sei verhandlungs- oder reiseunfähig. Auf dieses Schreiben konnte der Angeklagte daher seinen Glauben, ausreichend entschuldigt zu sein, nicht stützen. Auch im Übrigen sind keine Anhaltspunkte ersichtlich, die den Angeklagten zu einer entsprechenden subjektiven Vorstellung berechtigten. Denn die telefonische Auskunft des behandelnden Arztes am Tag vor der Hauptverhandlung ist eindeutig.
b) Auch die Rüge einer Verletzung von § 34 StPO hat keinen Erfolg.
Es kann dahinstehen, ob ein nach § 329 Abs. 1 StPO erlassenes Urteil nur mit der Rüge der Verletzung dieser Vorschrift angegriffen werden kann (so Meyer-Goßner a.a.O. § 329 Rn. 48; BayObLGSt 1999, 70), oder ob daneben die Verletzung der Begründungspflicht nach § 34 StPO gerügt werden kann. Denn das Landgericht ist vorliegend seiner Begründungspflicht in noch ausreichendem Maße nachgekommen. Ein Verwerfungsurteil nach § 329 Abs. 1 StPO muss so begründet werden, dass der Angeklagte die maßgebenden Erwägungen erkennen, und das Revisionsgericht sie prüfen kann. Dabei muss sich das Urteil mit allen geltend gemachten und sonstigen als Entschuldigung in Betracht kommenden Tatsachen auseinandersetzen (Meyer-Goßner aaO § 329 Rn. 33 m.w.N.). Diesen Anforderungen wird das angefochtene Urteil noch gerecht. Denn aus den Urteilsgründen ist erkennbar, dass das Gericht sich mit einer krankheitsbedingten Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten befasst und diese geprüft hat. Die Urteilsgründe stützen sich auf die entscheidende Auskunft des behandelnden Arztes des Angeklagten. Es wäre zwar zweckdienlich, wenn sich die Urteilsgründe auch mit der am Vortag bei Gericht eingegangenen Bescheinigung über die stationäre Behandlung des Angeklagten befassen und die telefonisch gegenüber dem Vorsitzenden der Strafkammer erteilten Auskünfte detailliert darlegen würden; unbedingt notwendig ist dies jedoch nicht. Indem das Landgericht das Ergebnis der Ermittlungen zur Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten in den Urteilsgründen mitteilt, wird erkennbar, dass ein Anlass für diese Ermittlungen bestand. Das Ergebnis dieser Ermittlungen war indes so eindeutig, dass eine lückenlose Wiedergabe der die Notwendigkeit der Ermittlungen begründenden Umstände hier entbehrlich war. Der vorliegende Fall unterscheidet sich von den vom Revisionsführer zitierten Fällen aus der Rechtsprechung dadurch, dass die Bescheinigung über die stationäre Behandlung des Angeklagten kein ärztliches Attest über den Gesundheitszustand des Angeklagten darstellt, sondern völlig offen lässt, ob der Angeklagte überhaupt erkrankt war.
Im Übrigen kann das angefochtene Urteil - worauf zutreffend die Staatsanwaltschaft bei dem Revisionsgericht in ihrer Antragsschrift vom 13.9.2006 hinweist - auf einem unterstellten Begründungsmangel nicht beruhen. Der Senat kann bei einer Gesamtschau der Urteilsgründe und der sich aus dem Hauptverhandlungsprotokoll ergebenden Tatsachen ausschließen, dass die Strafkammer bei ausführlicherer Begründung des Verwerfungsurteils und bei kompletter Wiedergabe des Wortlauts der ärztlichen Bescheinigung zu einer anderen Beurteilung hinsichtlich der fehlenden Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten gekommen wäre, § 337 Abs. 1 StPO.
III.
Die Revision des Angeklagten war daher mit der Kostenfolge des § 473 Abs. 1 Satz 1 StPO zu verwerfen.
Der Senat entscheidet einstimmig gemäß § 349 Abs. 2 StPO.
Ende der Entscheidung
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