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Gericht: Oberlandesgericht München
Beschluss verkündet am 19.04.2005
Aktenzeichen: 5 St 1/05
Rechtsgebiete: StPO
Vorschriften:
StPO § 228 |
Tatbestand:
Dem Senat und den Verteidigern des Angeklagten wurden vom Generalbundesanwalt am 13. April 2005 insgesamt 16 Stehordner mit Teilen der Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft Stuttgart gegen den Angeklagten überbracht. Die in diesem Verfahren durchgeführten Ermittlungen - unter anderem umfangreiche Telefonüberwachungen - waren nach einer ersten Durchsicht zumindest teilweise nicht Bestandteil des beim OLG München anhängigen Verfahrens und konnten dementsprechend bislang auch nicht berücksichtigt werden. Der Senat setzte daher die am 19.4.2005 begonnene Hauptverhandlung auf Antrag des Generalbundesanwalts und der Verteidiger aus (§§ 228 Abs. 1 Satz 1, 229 Abs. 4 Satz 1 StPO), um es diesen und dem Angeklagten zu ermöglichen, die Verteidigung auf die infolge der übersandten Aktenteile veränderte Lage einzurichten (vgl. auch § 265 Abs. 4 StPO). Im Hinblick auf das dem Angeklagten zustehende Recht, sich bereits zu Beginn der Hauptverhandlung zur Sache äußern zu dürfen (§ 243 Abs. 4 Satz 2 StPO), und den Umfang der weniger als eine Woche vor Sitzungsbeginn übersandten Unterlagen ist es für eine ausreichende Vorbereitung und eine faire Verteidigung geboten, das Verfahren auszusetzen.
Gründe:
Der Senat hat bei seiner Entscheidung bedacht, ob die Verteidigungsinteressen des Angeklagten die Aussetzung des Verfahrens gebieten, obwohl in der vom Justizministerium Baden-Württemberg abgegebenen Erklärung vom 7. April 2005 (im Folgenden als "Sperrerklärung" bezeichnet) die Ansicht vertreten wird, die in dem Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Stuttgart überwachten Telefonate dürften nicht zum Nachteil des Angeklagten verwertet werden. Dem schließt sich der Senat jedoch nicht ohne weiteres an. Vielmehr hängt die Frage nach der unbeschränkten Verwertbarkeit der im Verfahren der Staatsanwaltschaft Stuttgart gewonnenen Erkenntnisse vom weiteren Gang des dort sowie des hier geführten Verfahrens ab.
1. Dem bei der Staatsanwaltschaft Stuttgart geführten Verfahren liegen nach der "Sperrerklärung" vom 7. April 2005 Mitteilungen zugrunde, die den Verdacht begründeten, "der Beschuldigte bereite einen Anschlag mit tödlichen Folgen in Deutschland vor" (Seite 3). Hierfür hätten sich im Verlauf des Verfahrens jedoch "keine weiteren Anhaltspunkte" ergeben (Seite 4). Die aufgezeichneten Telefonate belegen aber "seine (des Beschuldigte) hochrangige Stellung innerhalb dieser Gruppierung.
Infolge der "Sperrerklärung" dürfte - wie das Justizministerium Baden-Württembergs weiter ausführt - "dem Oberlandesgericht München die Überprüfung, ob den TKÜ-Anordnungen der Verdacht einer Katalogtat i. S. von § 100a StPO zugrunde lag, allerdings nicht möglich sein. Dies steht einer Verwertung der im Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Stuttgart überwachten und aufgezeichneten Telefonate entgegen.
2. Der Senat beabsichtigt, zunächst eine Erklärung des Generalbundesanwalts dazu zu erholen, ob er das bisher von der Staatsanwaltschaft Stuttgart gegen den Beschuldigten geführte Ermittlungsverfahren übernimmt, da eine solche Übernahme die Verschiebung der Zuständigkeit für die Sperrerklärung von der Landes- auf eine Bundesbehörde zur Folge hätte.
a) Für die Verfolgung von Staatsschutzdelikten besteht bereits nach dem Grundgesetz (Art. 30, 96 Abs. 5 Nr. 5 GG) bzw. von diesem vorausgesetzt eine zwingende Bundeszuständigkeit (BGHSt 46, 238/241 ff. [v.a. S. 243 f.]; Welp NStZ 2002, 1/5 f.).
Dementsprechend weist § 142 a Abs. 1 GVG die Verfolgungskompetenz im Bereich der in § 120 Abs. 1, 2 GVG aufgeführten Strafsachen, zu denen nach § 120 Abs. 1 Nr. 6 GVG auch die eine ausländische terroristische Vereinigung betreffenden Straftaten nach §§ 129 a, 129 b StGB zählen, allein dem Generalbundesanwalt zu, ohne den Ländern insofern ein Ermessen oder einen Handlungsspielraum einzuräumen (zur Zweckmäßigkeit dieser Zuständigkeitskonzentration bereits Rebmann NStZ 1986, 289/291).
Allein bei der Frage, ob Staatsanwaltschaften der Länder den Verdacht einer Straftat nach § 120 Abs. 1, 2 GVG bejahen und sie deshalb den Vorgang dem Generalbundesanwalt zur Prüfung der Übernahme vorlegen (müssen), steht ihnen ein Beurteilungsspielraum zu. Dieser ist jedoch in den Fällen des § 120 Abs. 1 GVG durch § 142 a Abs. 1 Satz 2 GVG und die dort geregelte Entscheidungsbefugnis des Generalbundesanwalts, die in der Zuständigkeit des Bundes für die Verfolgung von Staatsschutzdelikten ihre Rechtfertigung findet, in erheblichem Umfang eingeschränkt (vgl. auch Welp aaO S. 7).
b) Der Senat hat Zweifel daran, ob die ihm bisher bekannte Vorgehensweise der Behörden Baden-Württembergs in Bezug auf das dort gegen den Beschuldigten L A M geführte Verfahren den sich hieraus ergebenden Anforderungen gerecht wird.
aa) Auch wenn der Senat aufgrund der nur teilweisen Übersendung der Akte durch die Staatsanwaltschaft Stuttgart nicht abschließend beurteilen kann, ob der Verdacht, der Beschuldigte habe "einen Angriff mit tödlichen Folgen in Deutschland" vorbereitet, in Zusammenhang mit der hier erhobenen Anklage wegen Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung steht (vgl. § 129 a Abs. 1 Nr. 1 StGB), liegt - nach einer ersten Durchsicht und bei vorläufiger Bewertung der dem Senat zur Verfügung stehenden Unterlagen der Staatsanwaltschaft Stuttgart - auf der Hand, dass spätestens aufgrund der im August 2003 abgehörten Telefonate der die Ausweitung des bereits geführten Ermittlungsverfahrens begründende Verdacht einer Straftat nach §§ 129 a, 129 b StGB.
bb) Gleichwohl wurden die Akten dem Generalbundesanwalt von der Staatsanwaltschaft Stuttgart nicht zugeleitet (vgl. "Sperrerklärung" Seite 4, wonach aus den dieser Erklärung zugrunde liegenden Erwägungen hiervon "abgesehen" wurde); ihm wurden im April 2005 vielmehr lediglich die - auch dem Senat zur Verfügung stehenden - Aktenteile übersandt (Verfügung der Staatsanwaltschaft Stuttgart vom 7. April 2005).
cc) Die Geheimhaltungsinteressen, auf die sich die Behörden Baden-Württembergs gegenüber dem Generalbundesanwalt berufen, sind - soweit sie dem Senat bekannt sind - jedoch zumindest im vorliegenden Fall nicht geeignet, diese Vorgehensweise zu rechtfertigen.
Sie widerspricht nicht nur "der [oben ausgeführten] objektiven Kompetenzordnung des Grundgesetzes" (BGHSt 46, 238/245), die von den Ländern "zwingend" und "strikt zu respektieren" ist (BGH aaO S. 244). Sie lässt sich auch nicht aus § 96 StPO herleiten. Denn die "Sperrerklärung" verweist bezüglich der Geheimhaltungsinteressen ausschließlich auf das "Wohl des Bundes" (Seite 1) und einen drohenden "Schaden für die Bundesrepublik Deutschland" (Seite 4, vgl. auch Seite 3 unten). Beide Aspekte könnten jedoch bei einer Entscheidung einer Bundesbehörde in zumindest vergleichbarer Weise Berücksichtigung finden wie bei der eines Landes (vgl. ferner Nrn. 205 ff. der auch im Bund eingeführten RiStBV).
c) Unabhängig hiervon lässt die "Sperrerklärung" des Justizministeriums von Baden-Württemberg nicht hinreichend erkennen, aus welchen Gründen schon das Bekanntwerden des Inhalts der zurückgehaltenen Unterlagen beim Generalbundesanwalt dem "Wohl des Bundes Nachteile bereiten" würde, während gegen deren - zumindest teilweise - Übersendung an Ermittlungsrichter beim Amtsgericht Stuttgart, bei denen mehrere strafprozessuale Maßnahmen beantragt und auch erwirkt wurden, ersichtlich keine Bedenken bestanden.
Sollte dem zugrunde liegen, dass Akten der Strafverfolgungsbehörden nach Rechtsprechung und Schrifttum gegenüber einem erkennenden Gericht nur dann mittels einer Sperrerklärung nach § 96 StPO zurückgehalten werden können, wenn sie eine "andere Sache" betreffen (vgl. Meyer-Goßner StPO 47. Aufl. § 96 Rn. 3 m.w.N.), würde dies für eine Sperrklärung der obersten Dienstbehörde des Generalbundesanwalts ebenso gelten wie für eine solche der entsprechenden Landesbehörde.
3. Vorsorglich wird der Senat zudem Behörden des Landes Baden-Württemberg um Auskünfte und Maßnahmen ersuchen, um insbesondere die (unbeschränkte) Verwertbarkeit der in dem Verfahren der Staatsanwaltschaft Stuttgart gewonnenen Beweismittel prüfen zu können.
a) Der Senat hat aufgrund der aus dem verfassungsrechtlichen Rechtsstaatsgebot hergeleiteten und in § 244 Abs. 2 StPO verankerten Aufklärungspflicht den "wahren Sachverhalt" in Bezug auf die angeklagte Tat zu ermitteln und die hierzu geeigneten Beweise zu erheben. Diese - allerdings nicht grenzenlos bestehende - Pflicht bezieht sich sowohl auf den Angeklagten entlastende als auch auf diesen belastende Umstände.
b) Nach einer ersten Durchsicht der vom Generalbundesanwalt übersandten Teile der Akten der Staatsanwaltschaft Stuttgart besteht - bei vorläufiger Bewertung - zumindest die Möglichkeit, dass die dort gewonnenen Beweismittel im hiesigen Verfahren wesentliche - zumindest vorrangig aber zum Nachteil des Angeklagten wirkende - Bedeutung haben könnten.
Dabei erscheint es nicht von vorneherein als ausgeschlossen, dass die Voraussetzungen der dort nach §§ 100 a ff. StPO angeordneten Telefonüberwachung auch auf andere Weise als durch die Überlassung der gesperrten Aktenteile überprüft werden können, zumal der Senat nach der Rechtsprechung insbesondere dann die Begründung für die Anordnung einer Telefonüberwachung ergänzen oder auswechseln könnte, wenn "derselbe Lebenssachverhalt betroffen ist, auf den sich der Verdacht bezieht, und die Änderung der rechtlichen Grundlage für die Telefonüberwachung der damals bestehenden Ermittlungssituation nicht ein völlig anderes Gepräge geben würde" (BGHSt 48, 240/249 f.).
4. Dem Senat erscheint zweifelhaft, ob die aufgrund obiger Ausführungen einzuholenden Erklärungen innerhalb der gesetzlich zulässigen Unterbrechungsfristen vorliegen. Auch deshalb setzt er das Verfahren aus.
Ende der Entscheidung
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