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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht München
Urteil verkündet am 30.06.2005
Aktenzeichen: 1 U 1597/05
Rechtsgebiete: DÜG, ZPO


Vorschriften:

DÜG § 1
ZPO § 411
Die Frage, ob einem Orthopäden ein Behandlungsfehler unterlaufen ist, unterliegt uneingeschränkt der Bewertung durch den orthopädischen Sachverständigen. Zur Beurteilung des Ursachenzusammenhanges zwischen einem Behandlungsfehler des Orthopäden und einem neurologischen Gesundheitsschaden des Patienten ist in der Regel die Erholung eines neurologischen Sachverständigengutachtens erforderlich.
Aktenzeichen: 1 U 1597/05

Verkündet am 30.06.2005

IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

In dem Rechtsstreit

wegen Schadensersatz

erlässt der 1. Zivilsenat des Oberlandesgerichts München durch die Vorsitzende Richterin am Oberlandesgericht K. und die Richter am Oberlandesgericht S. und R. aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 12.05.2005 folgendes

Endurteil:

Tenor:

I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Landgerichts München I vom 01.12.2004 wird zurückgewiesen.

II. Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.

III. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, sofern die Beklagte nicht vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt Schadensersatz und Schmerzensgeld wegen behaupteter ärztlicher Behandlungsfehler.

Bei dem am 18.12.1970 geborenen Kläger wurde am 17.01.1996 im Behandlungszentrum V. wegen einer Spondylolisthesis L 5 Grad Meyerding I eine Laminektomie L 5 mit Dekompression der Wurzeln L 5 beidseits sowie eine dorsale Stabilisierung mit einem Fixateur interne L5/S1 und eine Interbodyfusion mit autologem Knochen sowie zusätzlicher postero-lateraler Spondylodese mit autologem Knochen vorgenommen.

Am 14.01.1998 wurde der Kläger in das städtische Krankenhaus M.B., dessen Träger die Beklagte ist - der Kläger litt erneut an Rückenbeschwerden - stationär aufgenommen. Zu diesem Zeitpunkt empfand der Kläger ziehende Schmerzen im gesamten linken Oberschenkel, die in den linken Unterschenkel ausstrahlten. Am 30.01.1998 wurde der Kläger im Krankenhaus M.B. erneut operiert. Zunächst wurde das Narbengewebe im Bereich der Operation vom 17.01.1996 entfernt. Sodann wurde der Bandscheibenraum L 5/S 1 ausgeräumt. Anschließend wurde der mit Spongiosa aus dem hinteren Beckenkamm aufgefüllte Cage unter Durchleuchtungskontrolle in den Bandscheibenraum eingebracht. Dieser Vorgang wurde zunächst rechts und dann in gleicher Weise links vorgenommen. Anschließend setzte der Operateur die Pedikelschrauben bei L 5. Im Operationsbericht ist diesbezüglich bemerkt, dass, da die Anatomie auf Grund der Voroperation nicht mehr sichtbar gewesen ist, durch die gleichen Löcher wie bei der Voroperation eingegangen wurde. Des Weiteren ist im Operationsbericht ausgeführt, dass die Schrauben unter Durchleuchtungskontrolle eingedreht wurden und exzellent sitzen.

In der Folgezeit litt der Kläger weiterhin unter Beschwerden, die am 25.04.2001 zu einer Operation in der Zentralklinik Bad Berka führten.

Der Kläger hat im ersten Rechtszug vorgebracht, dass bei der Operation vom 30.01.1998 zwei Schrauben im Kreuzbeinbereich fehlerhaft positioniert worden seien. Hinzu komme, dass diesbezüglich ein massiver Dokumentationsmangel vorliege. Es sei auch behandlungsfehlerhaft, dass es bei der Operation zu einer sensiblen Läsion der Wurzel S 1 rechts gekommen sei.

Der Kläger hat erstinstanzlich die Auffassung vertreten, dass ihm ein Schmerzensgeld von 100.000,00 € und eine monatliche Schmerzensgeldrente in Höhe von 300,00 € zuständen. Darüber hinaus seien ihm Einkünfte in Höhe von 45.676,38 € entgangen.

Der Kläger hat im ersten Rechtszug beantragt:

1. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger ein Schmerzensgeld, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, neben Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz nach § 1 des Diskontsatzüberleitungsgesetzes vom 09.06.1998 hieraus seit dem 28.05.2002 zu zahlen.

2. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger eine monatliche Schmerzensgeldrente, deren Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, zum 01. eines jeden Monats, erstmals ab 01.01.2003 zu zahlen.

3. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 45.676,38 € nebst 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz nach § 1 des Diskontsatzüberleitungsgesetzes vom 09.06.1998 (BGBl I, 1242) seit 28.05.2002 zu zahlen.

4. Es wird festgestellt, dass die Beklagte den künftigen materiellen und immateriellen Schaden des Klägers, soweit er nicht auf Sozialversicherungsträger übergegangen ist, zu ersetzen hat.

Die Beklagte hat im ersten Rechtszug

Klageabweisung

beantragt.

Die Beklagte hat die Auffassung vertreten, dass der Kläger im Krankenhaus M.B. kunstgerecht behandelt worden sei. Weder seien bei der Operation vom 30.01.1998 Schrauben im Kreuzbeinbereich fehlerhaft positioniert worden noch seien Dokumentationsfehler vorgekommen.

Das Landgericht hat Beweis erhoben durch Erholung eines schriftlichen Gutachtens des Sachverständigen Prof. Dr. G. vom 25.02.2004.

Mit dem Prozessbevollmächtigten des Klägers am 13.12.2004 zugestelltem Urteil vom 01.12.2004, auf das wegen der weiteren Einzelheiten Bezug genommen wird, hat das Landgericht München I die Klage abgewiesen. Hiergegen richtet sich die am 11.01.2005 eingegangene und nach Fristverlängerung am 11.03.2005 begründete Berufung des Klägers.

Der Kläger macht geltend, dass das Landgericht seinen auf Anhörung des Sachverständigen Prof. Dr. G. gerichteten Antrag vom 13.09.2004 verfahrensfehlerhaft übergangen habe. Darüber hinaus wäre das Landgericht verpflichtet gewesen, über das orthopädische Fachgutachten hinaus auch ein neurologisches Gutachten zu erholen. Den behandelnden Ärzten im Klinikum der Beklagten seien Behandlungs- und Dokumentationsfehler unterlaufen.

Der Kläger beantragt:

1. Auf die Berufung des Klägers hin wird das Urteil des LG München vom 01.12.2004 aufgehoben.

2. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger ein Schmerzensgeld, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz nach § 1 des Diskontsatzüberleitungsgesetzes vom 09.06.1998 hieraus seit dem 28.05.2002 zu bezahlen.

3. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger eine monatliche Schmerzensgeldrente, deren Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, zum 01. eines jeden Monats, erstmals ab 01.01.2003 zu bezahlen.

4. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 45.676,38 € nebst 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz nach § 1 des Diskontsatzüberleitungsgesetzes vom 09.06.1998 (BGBl I, 1242) seit 28.05.2002 zu zahlen.

5. Es wird festgestellt, dass die Beklagte den künftigen materiellen und immateriellen Schaden des Klägers, soweit er nicht auf Sozialversicherungsträger übergegangen ist, zu ersetzen hat.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte bringt vor, dass den behandelnden Ärzten keine Behandlungsfehler unterlaufen seien. Auch Dokumentationsfehler im Rechtssinne seien nicht gegeben. Allenfalls seien Dokumentationsirrtümer, die zwischenzeitlich aufgeklärt und berichtigt seien, vorgekommen.

Der Senat hat im Termin vom 12.05.2005 den Sachverständigen Prof. Dr. G. angehört.

Im Übrigen wird bezüglich des Parteivorbringens in der Berufungsinstanz auf die Schriftsätze des Klägers vom 10.03. und 31.05.2005 sowie auf den Schriftsatz der Beklagten vom 18.04.2005 verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung des Klägers ist unbegründet.

A

Der Beklagten fällt kein schadensersatzpflichtiger Behandlungsfehler zur Last.

1. Die Operation vom 30.01.1998 war indiziert. Sie wurde auch kunstgerecht durchgeführt. Soweit Schrauben zu weit kaudal platziert wurden, lässt sich daraus, wie der Sachverständige überzeugend erläutert hat, kein Behandlungsfehler herleiten. Die Schraubenplatzierung war wegen der von der Voroperation vom 17.01.1996 herrührenden Narbenbildung, die zu unübersichtlichen Verhältnissen im Operationsgebiet führte, außerordentlich schwierig. Eine Fehlplatzierung liegt folglich im Risikobereich derartiger Eingriffe. Die Schrauben wurden intraoperativ unter Durchleuchtungskontrolle eingesetzt. Auf den intraoperativen Aufnahmen war die Fehlplatzierung nicht erkennbar.

2. Es kann dahingestellt bleiben, ob ein Behandlungsfehler darin liegen könnte, dass die Fehlplatzierung der Schrauben erst anlässlich einer Nachuntersuchung am 02.03.1998 mittels der dabei gefertigten Aufnahmen festgestellt wurde. Möglicherweise hätte bereits Anfang Februar 1998 - auf den intraoperativen Aufnahmen und den zunächst gefertigten Röntgenbildern war die Fehlstellung der Schrauben, wie erwähnt, nicht erkennbar - eine kernspintomographische oder computertomographische Untersuchung veranlasst werden sollen. Diese hätte bereits zu diesem Zeitpunkt, d.h. einen Monat früher, zur Feststellung der Fehlplatzierung der Schrauben geführt. Da die weitere Operation in Bad B. erst am 25.04.2001 erfolgte, ist nicht im Entferntesten ersichtlich, dass eine geringfügig frühere Feststellung der Fehlplatzierung der Schrauben am weiteren Behandlungsgeschehen auch nur das Geringste geändert hätte.

3. Die behandelnden Ärzte im Klinikum M.B. hatten keinen Anlass, dem Kläger nach Feststellung der Fehlplatzierung der Schrauben zu einer sofortigen Korrekturoperation zu raten. Der Sachverständige hat dem Senat erläutert, dass sich Fehlstellungen von Schrauben bei derartigen Operationen recht häufig einstellen, diese jedoch nur in seltenen Fällen negative Auswirkungen auf das Nervensystem zeitigen. Die durchaus riskante Korrekturoperation ist deshalb nur dann indiziert, wenn davon auszugehen ist, dass therapiebedürftige und konservativ nicht therapierbare Beschwerden auf die Fehlstellung der Schrauben zurückgehen.

Der Sachverständige Prof. Dr. G. hat dem Senat erläutert, dass die erhobenen neurologischen Befunde keinen hinreichenden Anhaltspunkt im vorgenannten Sinn abgeben. Derartige Beschwerden waren auch nicht der Grund für die Operation vom 25.04.2001 in Bad B.. Die dortige Operation erfolgte, wie der Sachverständige im Gutachten vom 25.02.2004 ausgeführt hat, nicht wegen einer Wurzelirritation S 1 rechts, sondern wegen einer Pseudoarthrose im Bereich des versteiften Segments L 5/S 1.

Der Sachverständige hat auch den Arztbericht vom 16.04.1998 insoweit ausdrücklich für in Ordnung befunden und darauf hingewiesen, dass auch in der BG Klinik in F., wo der Kläger vom 03.03. bis 18.03.1998 stationär behandelt wurde, kein Anlass gesehen wurde, die Fehlpositionierung der Schrauben chirurgisch zu korrigieren.

Der Senat schließt sich der überzeugenden Auffassung des Sachverständigen an, dass die behandelnden Ärzte in der Klinik der Beklagten keinen Anlass hatten, dem Kläger eine operative Korrektur der Schraubenfehlstellung zu empfehlen. Da es um einen Behandlungsfehler - therapeutische Aufklärung - der behandelnden Orthopäden geht, fällt die Fragestellung zentral in die Fachkompetenz des Sachverständigen, der Facharzt für Orthopädie ist. Eine spezifisch neurologische Fragestellung ergibt sich, anders als zur Kausalität, hier nicht. Ob ein Orthopäde den Facharztstandard verletzt hat, hat in erster Linie der orthopädische Gutachter zu bewerten.

4. Dokumentationsfehler sind für sich genommen keine "Anspruchsgrundlage". Sie können allerdings zu Beweiserleichterungen für den Patienten führen.

a. Insofern ist es ohne Belang, dass im Operationsbericht die Lage der Schrauben unzutreffend dargestellt ist. Die tatsächliche Lage der Schrauben wurde zwischenzeitlich festgestellt. Sie ist zwischen den Parteien unstreitig. Für Beweiserleichterung ist folglich kein Bedarf.

b. Entsprechendes gilt, soweit im Entlassungsbericht postoperative Beschwerden unvollständig dargestellt sind. Auch insoweit kommen weder ein ersatzpflichtiger Behandlungsfehler noch Beweiserleichterungen in Betracht.

5. Der Sachverständige hat im schriftlichen Gutachten und bei der Anhörung durch den Senat dargelegt, dass eine Zuordnung der neurologischen Beschwerden des Klägers zur Fehlplatzierung der Schrauben nicht möglich ist. Es bestehen deshalb erhebliche Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger auch die Schadensursächlichkeit der von ihm behaupteten Behandlungsfehler nicht beweisen könnte. Diese Frage kann jedoch abschließend nicht ohne Erholung eines neurologischen Gutachtens geklärt werden. Der Sachverständige verfügt als Orthopäde nicht in jeder Hinsicht über die erforderliche Sachkunde für die Bewertung eines neurologischen Ursachenzusammenhanges. Da, wie ausgeführt, der Beklagten kein Behandlungsfehler zur Last fällt, hat der Senat mangels Entscheidungserheblichkeit von der Erholung eines neurologischen Gutachtens abgesehen.

6. Das Landgericht hat den Antrag des Klägers vom 13.09.2004, den Sachverständigen Prof. Dr. G. gemäß § 411 ZPO anzuhören, verfahrensfehlerhaft übergangen. Der Kläger rügt in der Berufungsbegründung vom 10.03.2005 zu Recht, dass im Schriftsatz vom 13.09.2004 primär die Erholung eines neurologischen Gutachtens und hilfsweise, sofern das Gericht kein neurologisches Gutachten erholt, die Anhörung des orthopädischen Sachverständigen Prof. Dr. G. beantragt worden war. Das Landgericht führt auf Seite 10/11 des Urteils vom 01.12.2004 aus, dass der Kläger im Schriftsatz vom 13.09.2004 den "Antrag auf mündliche Anhörung des Sachverständigen ausdrücklich unter der Bedingung stellt, dass der Meinung des Klägers zu folgen ist, eine neurologische Begutachtung durchzuführen." Der Kläger rügt zu Recht, dass diese Interpretation seines Antrages durch das Landgericht "sich nicht nachvollziehen lässt". Der Senat hat von einer Zurückverweisung abgesehen und hat die vom Landgericht übergangene Anhörung des Sachverständigen Prof. Dr. G. nachgeholt.

7. Der Sachverständige Prof. Dr. G. hat seine Ausführungen nach sorgfältiger Auswertung aller Befunde und unter Zugrundelegung zutreffender Anknüpfungstatsachen nachvollziehbar, widerspruchsfrei, alle vorgetragenen Argumente gewissenhaft abwägend und in jeder Hinsicht überzeugend begründet. Der Senat macht sich deshalb die Ausführungen des Sachverständigen zu eigen.

B

1. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 97 Abs. 1 ZPO.

2. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

3. Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision gemäß § 543 Abs. 2 ZPO sind nicht gegeben.

Ende der Entscheidung

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