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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht München
Urteil verkündet am 23.06.2005
Aktenzeichen: 1 U 1915/05
Rechtsgebiete: ZPO


Vorschriften:

ZPO § 538
1. Das Gericht muss die Parteien, wenn es von einer ihnen mitgeteilten Rechtsauffassung abweichen will, vor einer Entscheidung darüber unterrichten und ihnen Gelegenheit zur Stellungnahme geben.

2. Die zur Räum- und Streupflicht der öffentlichen Hand entwickelten Grundsätze sind nicht ohne weiteres eins zu eins auf die Verkehrssicherungspflicht eines Gewerbetreibenden gegenüber seinen Kunden übertragbar. Es gilt tendenziell gegenüber der Verkehrssicherungspflicht der öffentlichen Hand ein verschärfter Sorgfaltsmaßstab.


IM NAMEN DES VOLKES

URTEIL

Aktenzeichen: 1 U 1915/05

Verkündet am 23.06.2005

In dem Rechtsstreit

wegen Forderung

erlässt der 1. Zivilsenat des Oberlandesgerichts München durch die Richter am Oberlandesgericht S., N. und R. aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 28.04.2005 folgendes

ENDURTEIL:

Tenor:

I. Auf die Berufung des Klägers hin wird das Urteil des Landgerichts München I vom 03.01.2005 in Ziffer I. und im Kostenpunkt aufgehoben und der Rechtsstreit insoweit zur weiteren Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht München I zurückverwiesen.

II. Die Gerichtskosten des Berufungsverfahrens werden niedergeschlagen.

III. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger verlangt von der Beklagten Schmerzensgeld wegen eines Glatteisunfalls vom 09.02.2003.

Am 07.05.2004 erging ein klageabweisendes Versäumnisurteil.

Der Kläger hat im ersten Rechtszug nach Einspruch gegen das Versäumnisurteil und Klageerweiterung zuletzt beantragt:

I. Das Versäumnisurteil vom 07.05.2004 wird aufgehoben.

Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger ein angemessenes Schmerzensgeld, das hier nicht näher beziffert wird, mindestens aber 10.000,-- € betragen soll, zu bezahlen.

II. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 7.158,-- € (Verdienstausfall für 2003) zu bezahlen, soweit die Ansprüche nicht schon auf Sozialversicherungsträger wie die Allgemeine Ortskrankenkasse Bayern, die Berufsgenossenschaft für die Verwaltung und die Künstlersozialkasse übergegangen sind. Es wird festgestellt, dass die Beklagte Verdienstausfall für das Jahr 2004, sofern die Ansprüche nicht schon auf die Sozialversicherungsträger wie Allgemeine Ortskrankenkasse Bayern, Verwaltungsberufsgenossenschaft und Künstlersozialkasse übergegangen sind, bezahlen muss.

III. Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, sämtliche künftige Schäden aus dem Unfallereignis vom 09.02.2003 17:00 Uhr vor der G.straße 8 auf dem Weg vor der Gaststätte S. F. B. dem Kläger zu ersetzen, sofern diese nicht auf Sozialversicherungsträger übergegangen sind.

Die Beklagte hat im ersten Rechtszug beantragt,

das Versäumnisurteil vom 07.05.2004 aufrechtzuerhalten und die Klage im Übrigen abzuweisen.

Mit Urteil vom 03.01.2005 hat das Landgericht München I das Versäumnisurteil vom 07.05.2004 aufrechterhalten und die weitere Klage abgewiesen. Wegen der Einzelheiten wird auf das Urteil vom 03.01.2005 verwiesen.

Gegen das dem Klägervertreter am 14.01.2005 zugestellte Urteil legte der Kläger am 09.02.2005 Berufung ein, die er nach Fristverlängerung am 29.03.2005 begründet hat.

Der Kläger beantragt:

Auf die Berufung des Klägers hin wird die Beklagte verurteilt, an den Kläger ein angemessenes Schmerzensgeld, das hier nicht näher beziffert wird, mindestens aber 10.000,-- € betragen soll, zu bezahlen. Das Urteil des Landgerichts München I vom 03.01.2005, Az. 23 O 21777/03, wird insoweit aufgehoben.

Die Beklagte und die Nebenintervenienten beantragen,

die Berufung des Klägers zurückzuweisen.

Im Übrigen wird von der Darstellung des Tatbestandes gemäß §§ 540 Abs. 2, 313 a Abs. 1 Satz 1 ZPO abgesehen.

Der Senat geht von den vom Landgericht getroffenen tatsächlichen Feststellungen aus (§ 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO).

Entscheidungsgründe:

Auf die zulässige Berufung des Klägers hin wird das Endurteil des Landgerichts München I vom 03.01.2005 in Ziffer I. aufgehoben und der Rechtsstreit insoweit gemäß § 538 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO zur weiteren Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht München I zurückverwiesen.

Der Kläger und die Beklagte haben (hilfsweise) die Zurückverweisung beantragt.

1. a) Das Landgericht hat eine unzulässige Überraschungsentscheidung (Zöller, 25. Aufl., Rn. 21 zu § 538 ZPO) getroffen.

Im Termin vom 22.10.2004 unterbreitete das Gericht den Parteien einen Vergleichsvorschlag dahingehend, dass die Beklagte an den Kläger zur Abgeltung sämtlicher streitgegenständlicher Ansprüche einen Betrag von 3.500,-- € bezahlt. Zur Begründung führte das Gericht laut Sitzungsprotokoll aus, "dass nach dem gegenwärtigen Sach- und Streitstand davon auszugehen ist, dass der Kläger am Tattag gestürzt sein dürfte. Eine Haftung dem Grunde nach liegt daher durchaus nahe. Es wäre im Rahmen einer umfangreichen Beweisaufnahme aufzuklären, wo genau sich der Unfallort befunden hat und ob zur Unfallzeit dort ausreichend gestreut war".

Mit Urteil vom 03.01.2005, das im schriftlichen Verfahren erging - die Parteien hatten im Termin vom 22.10.2004 ihr Einverständnis mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren erklärt, Schriftsätze konnten bis zum 06.12.2004 eingereicht werden - wies das Landgericht die Klage mit der Begründung ab, dass an der vom Kläger bezeichneten Unfallstelle keine Räum- und Streupflicht bestanden habe. Der Kläger hatte, wovon auch das Landgericht auf Seite 6 oben des Urteils vom 03.01.2005 ausgeht, die Unfallstelle bereits mit Schriftsatz vom 15.06.2004, also lange vor der mündlichen Verhandlung vom 22.10.2004 - nicht erst mit Schriftsatz vom 06.12.2004, dort wurde das wesentliche Vorbringen aus dem Schriftsatz vom 15.06.2004 nur wiederholt - mit einem Abstand von 4 m vom Straßenrand bezeichnet. Das Landgericht hat folglich dem Urteil vom 03.01.2005 eine bisher von ihm nicht dargelegte und insbesondere auch von der vom Gericht noch im Termin vom 22.10.2004 dargelegten Rechtsauffassung wesentlich abweichende Bewertung des Rechtsstreits zugrunde gelegt. Zwar ist das Gericht an eine einmal von ihm geäußerte Rechtsauffassung nicht gebunden. Es muss jedoch, wenn es von einer den Parteien mitgeteilten Rechtsauffassung in einem zentralen Punkt abweichen will, die Parteien vor einer Entscheidung darüber unterrichten, um diesen die Möglichkeit zu geben, sich auf die geänderte Rechtsauffassung des Gerichts einzustellen, insbesondere sich zu dieser zu äußern und gegebenenfalls neue Tatsachen vorzutragen und Beweisanträge zu stellen.

b) Wer einen Gewerbebetrieb unterhält, ist für den sicheren Zugang der Kundschaft zu diesem verantwortlich. Die zur Räum- und Streupflicht der öffentlichen Hand entwickelten Grundsätze sind nicht ohne weiteres eins zu eins anwendbar. Vielmehr gilt tendenziell ein verschärfter Sorgfaltsmaßstab.

c) Das Landgericht hat im Termin vom 22.10.2004 zutreffend ausgeführt, dass noch eine umfangreiche und aufwändige Beweisaufnahme erforderlich ist. Insbesondere sind der Unfallhergang, der Unfallort, die Straßen- und Wegeverhältnisse, der Einfluss parkender Kraftfahrzeuge und die Frage, ob und gegebenenfalls inwieweit die Verkehrssicherungspflicht für den streitgegenständlichen Weg von der Beklagten wirksam auf die Nebenintervenienten zu 2) und 3) übergegangen ist, klärungsbedürftig. Gegebenenfalls wäre auch zu klären, mit wessen Wissen und Billigung Kraftfahrzeuge von wem in unfallursächlicher Weise abgestellt wurden.

2. Auf die Berufung des Klägers hin war neben der Kostenentscheidung nur Ziffer I. des Urteils des Landgerichts vom 03.01.2005 aufzuheben. Der Kläger verfolgt im Berufungsrechtszug nur noch den Schmerzensgeldanspruch weiter. Mit diesem beschäftigt sich, wie auf Seite 4 des Urteils ausgeführt, Ziffer I. des Urteils.

Das Versäumnisurteil vom 07.05.2004 war nicht mit aufzuheben, da die Entscheidung gemäß § 343 ZPO noch nicht getroffen werden kann.

3. Die Gerichtskosten des Berufungsverfahrens werden gemäß § 21 Abs. 1 Satz 1 GKG niedergeschlagen. Die Entscheidung über die sonstigen Kosten einschließlich der außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens ist dem Landgericht in seiner Schlussentscheidung vorbehalten (Zöller, a. a. O., Rn. 58 zu § 538 ZPO).

4. Das Urteil war für vorläufig vollstreckbar zu erklären (§ 708 Nr. 10 ZPO). Dies gilt auch für aufhebende und zurückverweisende Urteile (Zöller, a. a. O., Rn. 59 zu § 538 ZPO).

5. Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision gemäß § 543 Abs. 2 ZPO sind nicht gegeben.



Ende der Entscheidung

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