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Gericht: Oberlandesgericht München
Urteil verkündet am 24.02.2005
Aktenzeichen: 1 U 4624/03
Rechtsgebiete: BGB, SGB X
Vorschriften:
BGB § 278 | |
SGB X § 116 |
2. Ein ärztlicher Sachverständiger muss nicht zwingend zum Zeitpunkt des zu beurteilenden, lange zurückliegenden Eingriffs schon als Arzt tätig gewesen sein.
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
Aktenzeichen: 1 U 4624/03
Verkündet am 24.02.2005
In dem Rechtsstreit
wegen Arzthaftung
erlässt der 1. Zivilsenat des Oberlandesgerichts München durch die Vorsitzende Richterin am Oberlandesgericht K. und die Richter am Oberlandesgericht N. und R. aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 16.12.2004 folgendes
ENDURTEIL:
Tenor:
I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Landgerichts Passau vom 21.08.2003 wird zurückgewiesen.
II. Die Beklagten tragen die Kosten des Berufungsverfahrens.
III. Das Urteil ist für die Klägerinnen vorläufig vollstreckbar. Die Beklagten können die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages abwenden, falls die Klägerinnen nicht zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leisten.
IV. Die Revision zum Bundesgerichtshof wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Klägerin zu 1) ist die gesetzliche Krankenversicherung, die Klägerin zu 2) die gesetzliche Pflegeversicherung von Frau Katharina S., geboren am 14.03.1929, gestorben am 28.02.1999. Die Klägerinnen fordern von den Beklagten den Ersatz von für Frau S. aufgewandten Behandlungskosten.
Die Beklagten, die eine Gemeinschaftspraxis betreiben, waren im Jahr 1985 die einzigen Belegärzte des Krankenhauses Obernzell. Dieses verfügte damals über ein Intensivzimmer mit zwei Betten. Durchschnittlich war das Krankenhaus mit insgesamt 50 Patienten belegt, um die sich tagsüber zwei und ab 20.00 Uhr eine Krankenschwester beziehungsweise -pfleger kümmerten. Die Assistenzärzte des Krankenhauses wurden von den Beklagten eingestellt. Der jeweils zum Bereitschaftsdienst eingeteilte Assistenzarzt übernachtete zumeist in der Klinik. Die beiden Beklagten versahen abwechselnd den Hintergrunddienst.
Der Beklagte zu 1) nahm bei Frau S. am 01.04.1985 eine Strumaresektion (Kropfoperation) vor.
In seinem Operationsbericht hielt er fest: "Bei Extubation Paramedianstellung beider Stimmbänder. Zu einer Phonation ist die Pat. in der Aufwachphase nicht zu bewegen. Sie verlässt bei stabilen Kreislaufverhältnissen den Operationssaal."
Frau S. wurde in das Intensivzimmer gebracht. Für 18.00 Uhr, 18.20 Uhr, 18.30 Uhr, 18.40 Uhr, 18.50 Uhr und 19.00 Uhr sind im Wachbogen von 240/120 auf 170/80 sinkende Blutdruckwerte vermerkt, für die letzten drei Zeitpunkte auch der Puls (zwischen 118 und 121). Um 18.00 Uhr ist die Gabe von 500 ml Eleomel und 5mg Valium und möglicherweise weiteren 5 mg Valium, um 20.00 Uhr die Gabe von 2 ml Thalamonal i. m. notiert. Für die im selben Zimmer liegende, mittlerweile verstorbene Mitpatientin enthält der Wachbogen um 19.30 Uhr die Eintragung "Urin: 1000 ml" und "1A Mucosolvan".
Um 20.30 trat bei Frau S. ein Kammerflimmern auf. Sie war blass und ohne Spontanatmung. Dem herbeigerufenen Assistenzarzt Dr. P. gelang die Reanimation der Patientin. Er vermerkte hierzu im Wachbogen: "Von Nachtwache nach Ruf von Nachbarin aufgefunden in Apnoe, Kammerflimmern (niederfrequent, hochamplitudig) und blass. Sofortiger Intubationsversuch schlug fehl, da der Larynx nicht zu passieren ging." An dieser Stelle machte Dr. P. eine Zeichnung der Stimmlippen.
In einem Arztbericht vom 16.04.1985 an das weiterbehandelnde Bezirkskrankenhaus, den der Oberarzt G. diktierte und der Beklagte zu 1) unterschrieb, heißt es zum Verlauf: "Bei Extubation fand sich eine Paramedianstellung beider Stimmbänder. Die Pat. war in der Aufwachphase zu einer Phonation nicht zu bewegen. Sie verließ aber bei stabilen Kreislaufverhältnissen den Operationssaal. In den folgenden Stunden war sie gut ansprechbar. Eine stimmhafte Phonation war jedoch weiterhin nicht möglich, so dass zusammen mit dem gegen Operationsende erhobenen Stimmbandbefund der Verdacht auf eine Posticus-Parese bestand. Da die Pat zum Teil auch leicht dysnopisch war, wurde sie vorsorglich auf unser Wachzimmer verlegt. Bereits vorher hatten wir jeweils 5 mg Valium i. m. und i. v. gegeben. Der Blutdruck war im Unterschied zu Normalwerten während der Operation kurzfristig auf 240/120 angestiegen. Bei engmaschigen Kontrollen lagen die Werte dann um 170/80 bei einer Frequenz um 120/Min. Wegen Schmerzen hatte die Pat. um 20.00 Uhr nochmals 2 ml Thalomonal i. m. bekommen. Um 20.30 Uhr wurde der diensthabende Arzt von der Schwester gerufen, die ihrerseits von einer ebenfalls auf dem Überwachungszimmer liegenden anderen Patientin verständigt worden war. ..."
Bis zu ihrem Tod erwachte Frau S. nicht mehr aus dem Koma.
In der Berufungsinstanz wurde unstreitig, dass die Klägerin zu 1) für die Behandlung von Frau S. vom 10.04.1985 bis 31.12.1985 Kosten in Höhe von 24.104,85 EUR im Krankenhaus O. und der Neurologischen Klinik des Bezirkskrankenhauses M. und die Klägerin zu 2) für Pflege in der Zeit vom 01.04.1997 bis 28.02.1999 Kosten in Höhe von 15.287,63 EUR aufwandten.
Die Klägerinnen haben vorgebracht, die postoperative Überwachung von Frau S. nach der Strumaresektion sei völlig unzureichend gewesen. Die eingetretenen Atemstörungen mit Dyspnoe hätten differentialdiagnostisch abgeklärt werden müssen. Bei ordnungsgemäßer Überwachung von Frau S. und bei frühzeitiger differentialdiagnostischer Abklärung der Atemstörungen mit Dyspnoe wäre das Mittelhirnsyndrom Grad III bis IV vermeidbar gewesen.
Die Klägerinnen haben beantragt:
1. Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin zu 1) 24.104,85 EUR nebst 5 % Zinsen über dem jeweiligen Basiszinssatz der Europäischen Zentralbank p. a. seit Klagezustellung zu zahlen.
2. Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin zu 2) 15.287,63 EUR nebst 5 % Zinsen über dem jeweiligen Basiszinssatz der Europäischen Zentralbank p. a. seit Klagezustellung zu zahlen.
Die Beklagten haben Klageabweisung beantragt.
Sie haben vorgebracht, der Beklagte zu 2) sei nicht passiv legitimiert, da er nicht operiert habe. Die Ansprüche seien verjährt. Die Operation und die Nachbehandlung seien ordnungsgemäß. Das Koma sei Folge eines schicksalhaften Verlaufs.
Das Landgericht Passau gab der Klage mit Endurteil vom 21.08.2003 nach der Erholung von Gutachten des Anästhesisten Prof. Dr. T. und des Chirurgen Prof. Dr. A. sowie der Vernehmung der Zeugen Geißler, Dr. F. und Dr. O. statt. Es bejahte eine mangelhafte postoperative Überwachung der Frau S., die eine Risikopatientin gewesen sei. Eine Übergabe an den diensthabenden Arzt sei nicht erfolgt. Ab 17.20 Uhr hätte die Patientin in kurzen Abständen ein Arzt anschauen müssen, um zu entscheiden, ob beatmet werden müsse. Dies sei nicht geschehen. Für einen Herzinfarkt gebe es keinen Anhaltspunkt. Zudem liege ein schwerer Behandlungsfehler vor. Hinsichtlich der Einzelheiten der Begründung wird auf das Urteil Bezug genommen.
Die Beklagten verfolgen ihren Klageabweisungsantrag mit der Berufung weiter.
Die Beklagten bringen vor, es habe sich um ein schicksalhaftes, auch in der Intensivstation eines Großklinikums nicht abwendbares Ereignis gehandelt.
Das Landgericht habe ohne irgendwelche Anhaltspunkte dafür zu haben, eine Übergabe zwischen den Ärzten verneint. Diese sei bei Schichtwechsel eine Selbstverständlichkeit gewesen.
Der Standard des Wachzimmers in Obernzell sei demjenigen vergleichbarer Krankenhäuser bei weitem überlegen gewesen.
Nach einer Operation wären Patienten seinerzeit routinemäßig in das Wachzimmer verlegt worden.
Die vom Beklagten zu 1) nach der Operation festgestellte Paramedianstellung der Stimmbänder bedeute, dass die Luftzufuhr ausreichend gewesen sei. Eine beidseitige Rekurrensparese habe nicht vorgelegen.
Frau S. sei an den Monitor angeschlossen worden, was sich aus den Wachbögen ergebe. Aus den ab 18.00 Uhr festgehaltenen Werten ergebe sich, dass Frau S. keine Risikopatientin gewesen sei.
Alle dokumentationspflichtigen Werte seien festgehalten.
Die Prämedikation mit 75 mg Dolantin i.m. um 15.00 Uhr habe bis zur erneuten Opiatgabe um 20.00 Uhr ausgereicht.
Die Beurteilung der Gabe von Thalamonal sei Aufgabe eines anästhesistischen Sachverständigen. Prof. Dr. T. habe ausgeführt, dass die Gabe vermutlich keine Atemdepression, die zu einem Kammerflimmern führte, ausgelöst habe.
Einen größeren Blutverlust bei der Operation habe es nicht gegeben, sondern nur eine technisch schwer zu stillende Blutung. Dies sei bei der Beurteilung der Infusionsmenge zu berücksichtigen.
Ein Pulsoxymeter sei 1985 in der Klinik nicht vorhanden gewesen. Erst 1993 sei ein Atemgasmonitor angeschafft worden. Die gegenteilige Aussage des Beklagten zu 1) im Termin vom 29.01.2004 beruhe auf einem Irrtum. Ein Pulsoxymeter hätte 1985 in der Klinik auch nicht vorhanden sein müssen.
Zwischen 19.00 und 20.00 Uhr habe sich eine Pflegeperson im Intensivzimmer aufgehalten. Dies ergebe sich aus der Dokumentation der Ausscheidung der Mitpatientin um 19.30 Uhr. Die Ausscheidungskontrolle sei stets mit "Waschen und Betten" verbunden. Es sei davon auszugehen, dass dies Maßnahme bis mindestens 20.00 Uhr gedauert habe und Frau S. im Anschluss daran pflegerisch versorgt worden sei. Ganz offensichtlich seien ihre Vitalparameter in diesem Zeitraum unauffällig gewesen, sonst wären sie dokumentiert worden.
Die Gabe von Thalamonal um 20.00 Uhr sei für das Kammerflimmern nicht kausal gewesen, wie der anästhesistische Sachverständige Prof. Dr. T. ausgeführt habe. Ein Hals-Nasen-Ohrenarzt wie der Sachverständige Dr. W. sei für diese Frage nicht kompetent.
Da um 19.00 Uhr kein Stridor vorgelegen habe, habe nach Prof. Dr. A. kein Anlass mehr für eine engmaschige Kontrolle von Frau S. bestanden.
Ein Stridor sei bei Frau S. niemals aufgetreten , wie durch den Sachverständigen Dr. W. belegt werde. Die von Prof. Dr. A. geforderte Überwachung im Abstand von fünf Minuten sei daher nicht geboten gewesen. Das von Dr. F. um 20.30 Uhr festgestellte blasse Hautkolorit spreche gegen zunehmende Atemnot, die immer mit einer Zyanose verbunden sei. Aus seinem klinischen Befund ergebe sich, dass ein Stridor nicht vorgelegen habe. Seine Zeichnung beweise, dass nur eine einseitige Lähmung links vorgelegen habe. Das Einführen des Beamtungsschlauchs sei nicht sehr schwierig gewesen.
Nehme man wie Dr. W. eine Hyperkapnie (Erhöhung des arteriellen Kohlendioxid-Partialdrucks) als Ursache des Atemstillstands an, hätte man die Entwicklung ohne Pulsoxymeter nicht erkennen können.
Der Sachverständige Prof. Dr. A. sei aufgrund seines Alters mit der 1985 üblichen Dokumentation nicht vertraut. Der noch jüngere Sachverständige Dr. W. könne die damaligen Verhältnisse nicht sachgerecht beurteilen.
Für die Dokumentation seien der Krankenhausträger, nicht die Beklagten verantwortlich. Dies gelte auch für eine mangelhafte Überwachung von Frau S. durch das Pflegepersonal.
Als Ursache des Atemstillstands komme auch ein Herzinfarkt in Betracht.
Der Schaden habe bereits durch die länger dauernde Reanimation ausgelöst werden können.
Ein Risiko für die Patientin hätte auch auf einer Intensivstation bestanden, wie der Sachverständige Prof. Dr. A. dargelegt habe.
Die Beklagten beantragen:
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Landgerichts Passau vom 21.08.2003 aufgehoben und die Klage abgewiesen.
Die Klägerinnen beantragen die Zurückweisung der Berufung.
Sie bringen vor, die postoperativ festgehaltene Paramedianstellung der Stimmlippen entspreche einer beidseitigen Rekurrensparese. Bei Frau S. habe es sich deshalb um eine Risikopatientin gehandelt, deren engmaschige intensivmedizinische Überwachung erforderlich gewesen sei.
Es sei davon auszugehen, dass sich bei der Patientin bis 19.00 Uhr ein Stridor entwickelt habe.
Das Fehlen einer engmaschigen Überwachung nach 19.00 Uhr stelle auch 1985 einen groben Behandlungsfehler dar. Dies gelte zumal in Verbindung mit der Gabe eines Präparats mit atemdepressiver Wirkung, Thalomonal, um 20.00 Uhr.
Die Probleme im Kehlkopfbereich würden durch die Schwierigkeiten bei der Reanimation um 20.30 Uhr, bei der nur eine forcierte Intubation mit einem kleinen Tubus möglich gewesen sei, belegt.
Eine Haftung der Beklagten ergebe sich zudem nach den vom Bundesgerichtshof aufgestellten Regeln über die unterlassene Befunderhebung. Die engmaschige Kontrolle sei nicht dokumentiert. Daraus sei bis zum Beweis des Gegenteils zu schließen, dass es sie nicht gegeben habe. Die Aussagen der vernommenen Zeugen seien ungenau. Eine klinisch relevante Atemnot der Beklagten hätte zu Maßnahmen führen müssen. Diese hätte mit hinreichender Wahrscheinlichkeit früher, nach dem Sachverständigen Dr. W. 10 bis 15 Minuten vor dem kritischen Ereignis festgestellt werden können. Das Unterlassen einer Reaktion wäre grob fehlerhaft.
Die Frage der Dauer der Reanimation sei daher haftungsrechtlich ohne Bedeutung.
Die Anwesenheit nur einer Schwester auf der gesamten Station ab 20.00 Uhr sei ungenügend. Eine Intensivüberwachung setze die dauernde Anwesenheit von Personal im Zimmer voraus. Die Verantwortung für diesen Mangel liege bei den Beklagten.
Für eine Konkurrenzursache für den Atemstillstand wie zum Beispiel Herzinfarkt gebe es keinerlei Hinweise.
Die Feststellung des Sachverständigen Dr. W., dass das Eintreten des Kammerflimmerns durch die Aufrechterhaltung einer entsprechend engmaschigen Überwachung verhindert hätte werden können, reiche nach § 287 ZPO zum Schadensnachweis aus.
Hinsichtlich des weiteren Vorbringens der Parteien im Berufungsverfahren wird verwiesen auf die Schriftsätze der Beklagten vom 15.12.2003 (Bl. 192/193 d. A.), 28.04.2004 (Bl. 239/243 d. A.), 21.05.2004 (Bl. 247/248 d. A.), 14.06.2004 (Bl. 253/254 d. A.), 19.11.2004 (Bl. 316/322 d. A.) und 26.01.2005 (Bl. 336/343 d. A.) sowie der Klägerinnen vom 08.01.2004 (Bl. 200/210 d. A.), 28.04.2004 (Bl. 236/238 d. A.), 07.06.2004 (Bl. 249/250 d. A.), 19.11.2004 (Bl. 313/315 d. A.) und 26.01.2005 (Bl. 344/346 d. A.).
Der Senat erhob Beweis durch die Erholung eines schriftlichen Ergänzungsgutachtens des chirurgischen Sachverständigen Prof. Dr. A. vom 16.12.2003 (Bl. 194/197 d. A.) und dessen mündliche Anhörung am 29.01.2004 (Sitzungsniederschrift Bl. 222/227 d. A.). In diesem Termin wurde zudem der Zeuge Dr. F. nochmals vernommen (Bl. 218/221 d. A.).
Anschließend erstellten die Hals-Nasen-Ohrenärzte Prof. Dr. I. und Oberarzt Dr. W. im Auftrag des Senats am 05.08.2004 eine weiteres schriftliches Gutachten (Bl. 269/307 d. A.). Der Sachverständige Dr. W. wurde am 16.12.2004 mündlich angehört (Sitzungsniederschrift Bl. 325/334 d. A.).
Der Beklagte zu 1) wurde im Termin vom 29.01.2004 persönlich informatorisch angehört (Bl. 214/218 d. A.).
Entscheidungsgründe:
Die Berufung der Beklagten ist nicht begründet. Das Landgericht hat einen Anspruch der Klägerinnen gegen die Beklagten wegen positiver Verletzung ihres Behandlungsvertrags mit Frau S. in Verbindung mit § 116 SGB X im Ergebnis zu Recht bejaht.
Die Beklagten haften für die durch den Hirnschaden und das damit verbundene apallische Syndrom entstandenen Behandlungskosten, weil Frau S. als Risikopatientin zwischen 19.00 Uhr und 20.30 Uhr nicht ordnungsgemäß überwacht wurde. Hinsichtlich der Kausalität kommen den Klägerinnen Beweiserleichterungen zu Gute, weil bei engmaschiger Überwachung der sich aufbauende Sauerstoffmangel beziehungsweise die Hyperkapnie wahrscheinlich entdeckt worden und das Unterlassen einer Reaktion hierauf grob fehlerhaft gewesen wäre.
Eine weitere Klärung, ob Frau S. nach der Operation sofort auf das Wach- oder erst in ein normales Krankenzimmer gebracht wurde und ob eine Übergabe erfolgte, war im Berufungsverfahren nicht möglich. Darauf kommt es jedoch nicht an, da nach der Darstellung aller Sachverständigen bis 19.00 Uhr keine lebensbedrohliche Situation bestand.
1) Bei Frau S. handelte es sich postoperativ um eine Risikopatientin.
a) Als Komplikation der Operation war eine beidseitige Rekurrensparese aufgetreten.
Der Beklagte zu 1) gab bei seiner Anhörung durch den Senat zwar - erstmals - an, mit der Beschreibung einer Paramedianstellung im Operationsbericht habe er beschreiben wollen, dass die Patientin genügend Luft bekomme, den Begriff aber nicht synonym für eine beidseitige Rekurrensparese verwendet.
Die Beklagten müssen sich nach Auffassung des Senats jedoch an ihrer medizinisch eindeutigen Dokumentation festhalten lassen.
Der Sachverständige Prof. Dr. A. führte in seiner Anhörung durch den Senat aus, der im Operationsbericht verwendete Begriff Paramedianstellung stehe für eine beidseitige Rekurrensparese. Zudem zeige die Zeichnung von Dr. F. eine Paramedianstellung beider Stimmbänder (Gutachten vom 16.12.2003).
Ebenso interpretierte schon der Sachverständige Prof. Dr. T. in seinem Gutachten vom 17.10.2002 die Beschreibung im Operationsbericht als Rekurrensparese. Eindeutig erschien dies zudem den Sachverständigen Prof. Dr. I. und Dr. W. in ihrem Gutachten vom 05.08.2004. Eine Konkurrenzursache für die Paramedianstellung sei nicht ersichtlich (hinsichtlich der Einzelheiten vgl. S. 15/19 ihres Gutachtens Bl. 283/287 d. A.).
Nur in diesem Sinne kann auch der Arztbericht vom 16.04.1985 verstanden werden, den der Beklagte zu 1) selbst unterzeichnete. In diesem ist ausdrücklich von dem postoperativen Verdacht einer Posticusparese die Rede.
b) Die beidseitige Rekurrensparese bildete ein besonderes Risiko für die Atmung der Patientin.
Der Sachverständige Dr. A. führte aus, der Atemweg werde durch die beidseitige Stimmbandlähmung hochgradig beeinträchtigt, woraus sich für den Kliniker die Notwendigkeit ergebe, die Patientin besonders engmaschig zu untersuchen und zu überwachen. Dies ermögliche, bei sich entwickelnden Atembeschwerden rechtzeitig und unter geplanten Umständen die Intubation vornehmen zu können. Die notfallmäßige Intubation könne in einem derartigen Fall wegen der Enge der Stimmritze mit erheblichen technischen Problemen und damit Fehlversuchen verbunden sein, wodurch die Phase des Sauerstoffmangels prolongiert werde.
Zunehmende Atembeschwerden seien deshalb zu erwarten, weil nach der postoperativen Intubation die Stimmbänder anschwellen könnten.
Diese Bewertung entspricht den Ausführungen der Sachverständigen Prof. Dr. I. und Dr. W., der eine HNO-Intensivstation leitet, in ihrem Gutachten vom 05.08.2004. Sie wiesen zudem darauf hin, dass an der Engstelle zwischen den beiden Stimmlippen eine erhöhte Atemarbeit erforderlich sei, so dass im zeitlichen Verlauf eine Erschöpfungssymptomatik eintreten könne, selbst wenn anfangs noch eine suffiziente Ruheatmung möglich sei.
Der Sachverständige Prof. Dr. T. äußerte sich in seinem Gutachten vom 17.10.2002 aus anästhesiologischer Sicht zur Voraussehbarkeit einer Gefährdung von Frau S. zwar zurückhaltender. Hinsichtlich der Folgen der Rekurrensparese verwies er jedoch auf die Einschätzung aus der Sicht des Hals-Nasen-Ohrenarztes.
Als auffällig bewerten alle Sachverständige die postoperativ erhöhten Blutdruckwerte, wobei jedoch der Rückgang zwischen 18.00 Uhr und 19.00 Uhr auch mit der Entwicklung des Wundschmerzes zusammenhängen kann.
c) Die Anordnung der Überwachung war Sache des Beklagten zu 1) als verantwortlichem Operateur. Die Beklagten müssten sich aber nach § 278 BGB auch Unterlassungen des zuständigen Assistenzarztes als Angestellten der Beklagten, der zudem in ihrem Aufgabenbereich tätig war, zurechnen lassen. Die Bewertung der Gefährlichkeit einer derartigen Operationskomplikation und die Festlegung der Art und Dichte der postoperativen Überwachung ist jedenfalls keine Angelegenheit des Pflegepersonals. Dessen Haftung käme nur in Betracht, wenn es insoweit gegen ärztliche Anweisungen verstoßen hätte (vgl. Steffen/Dressler, Arzthaftungsrecht, 8. Aufl. Randnr. 84 m. w. N.). Diese sind nicht ersichtlich.
2) Eine ständige Überwachung von Frau S. erfolgte nicht. Allerdings geht der Senat davon aus, dass der Monitor, der ihre Herzfrequenz maß, eingeschaltet war. Die Benachrichtigung des Pflegepersonals erfolgte jedoch nicht durch den Alarm des Monitors, sondern durch den Hilferuf der Bettnachbarin.
a) Ab 19.00 Uhr sind die Vitalparameter nicht mehr dokumentiert. Zudem ist davon auszugehen, dass zwischen 20.00 Uhr und 20.30 Uhr niemand nach der Patientin geschaut hat.
Bis 19.00 Uhr sind Kontrollen in den im Tatbestand angegebenen Abständen dokumentiert. Um 19.30 sind für die im selben Zimmer liegende Mitpatientin 1000ml Urin und eine Medikation mit einer Ampulle Mucosolvan vermerkt. Um 20.00 Uhr gab eine Krankenschwester Frau S. Thalamonal. Ob und wie lange sich sonst Pflegepersonal oder Ärzte zwischen 19.00 Uhr und 20.30 Uhr im Wachzimmer aufgehalten und nach Frau S. geschaut haben, lässt sich angesichts fehlender Dokumentation und aufgrund des Zeitablaufs verständlicherweise unergiebiger Zeugenaussagen nicht mehr klären. Dies gilt für die Abendvisite (laut Beklagtem zu 1) in seiner Anhörung vom 29.01.2004 "gegen 18.30 Uhr oder 19.00 Uhr") ebenso wie das "Waschen und Betten". Dass letzteres, wie von den Beklagten behauptet, im Wachzimmer von 19.30 Uhr bis mindestens 20.00 Uhr dauerte, erscheint nicht plausibel, wenn hierfür und alle anderen Aufgaben im gesamten Krankenhaus nur zwei Schwestern zur Verfügung standen, und ab 20.00 Uhr die Nachtschwester allein war.
Dafür, dass jemand zwischen 20.00 Uhr und 20.30 Uhr nach Frau S. schaute, gibt es keine Anhaltspunkte.
Die Beweislast dafür, dass in diesem Zeitraum eine Kontrolle erfolgte, liegt bei den Beklagten. Die Sachverständigen Prof. Dr. T., Prof. Dr. A., Prof. Dr. I. und Dr. W. haben übereinstimmend gemessen am Standard 1985 insoweit die fehlende Dokumentation gerügt. Die Vitalparameter hätten in regelmäßigen Abständen festgehalten werden müssen. Die Nichtdokumentation von aufzeichnungspflichtigen Maßnahmen indiziert ihr Unterlassen (Steffen/Dressler, Arzthaftungsrecht, 8. Aufl., Randnr. 465 m. w. N.).
b) Der Monitor, der die Herzfrequenz aufzeichnete, war in diesem Zeitraum allerdings eingeschaltet. Dies ergibt sich aus der Notiz von Dr. F. im Wachbogen in Verbindung mit seiner nachvollziehbaren Aussage, dass er im Notfall keine wertvolle Zeit damit verloren hätte, den Monitor anzuschließen, um zu sehen was er anzeigte.
c) Angesichts der eindeutigen Dokumentation im Wachbogen, dem Arztbrief vom 16.04.1985 und den Angaben des Zeugen Dr. F. vor dem Senat steht fest, dass die Nachtschwester von der Mitpatientin gerufen wurde und nicht auf einen Alarm des Monitors reagierte. Dieser wurde damals noch nicht in das Stationszimmer weitergeleitet. Dr. F. korrigierte insoweit glaubhaft seine Aussage vor dem Landgericht.
Was die Zimmernachbarin zu ihrem Hilferuf bewegt hatte, lässt sich nicht mehr klären. Es kann ein Aussetzen des Atmens bei Frau S. oder sonst ein beunruhigendes Verhalten ebenso gewesen sein wie das Alarmgeräusch des Monitors. Dokumentiert hierzu ist nichts. Eine Vernehmung war nicht mehr möglich. Weitere Zeugen aus dem pflegerischen Bereich wurden nicht angeboten.
3) Die Überwachung von Frau S. zwischen 19.00 Uhr und 20.30 Uhr, insbesondere im entscheidenden Zeitraum zwischen 20.00 Uhr und 20.30 Uhr war unzureichend.
Weder die postoperative Gabe von Valium noch der damalige Ausstattungsstandard des Krankenhauses Obernzell begründen für sich einen Behandlungsfehlervorwurf. Hinsichtlich der Verabreichung von Thalamonal um 20.00 Uhr bestehen Meinungsunterschiede zwischen den Sachverständigen. Sie wirkte jedenfalls risikoerhöhend und hätte erst recht zu einer engmaschigen Kontrolle veranlassen müssen. Die feststellbare Überwachung von Frau S. zwischen 19.00 Uhr und 20.30 Uhr genügte nicht den Anforderungen.
a) Das Krankenhaus Obernzell besaß im Jahr 1985 keinen Pulsoxymeter. Das Fehlen des Geräts stellte damals noch keinen vorwerfbaren Mangel dar.
Die Aussage des Beklagten zu 1) im Termin vom 29.01.2004, nach dem Vorfall sei Frau S. an einen Pulsoxymeter angeschlossen worden, beruhte nachvollziehbar auf einem Irrtum. Das Krankenhaus Obernzell verfügte im Jahr 1985 noch über keinen Pulsoxymeter, wie die Beklagten anhand der Bestandslisten (vgl. Anlage zum Schriftsatz vom 19.11.2004) später klarstellten. Auch die Zeugen Geißler und Dr. F. verneinten bei ihrer Vernehmung durch das Landgericht das Vorhandensein eins Pulsoxymeters zum Zeitpunkt der Operation von Frau S..
Das Fehlen dieses Geräts war damals für ein kleines Krankenhaus kein vorwerfbarer Ausstattungsmangel, wie die Sachverständigen Prof. Dr. A., Prof. Dr. I. und Dr. W. übereinstimmend ausführten. Konkrete Einwendungen hiergegen haben die Klägerinnen nicht erhoben.
b) Die Gabe von Valium um 18.00 Uhr beanstandete der Sachverständige Prof. Dr. T. aus anästhesiologischer Sicht nicht. Er führte aus, 5 mg Valium könnten das Kammerflimmern nicht ausgelöst haben. Prof. Dr. I. und Dr. W. bezeichneten die Medikation in ihrem schriftlichen Gutachten als fragwürdig, da der Wirkstoff Diazepam den Muskeltonus negativ beeinflusse. Die eindeutige Bejahung eines Behandlungsfehlers lässt sich dieser Aussage aber nicht entnehmen.
c) Das um 20.00 Uhr intramuskulär verabreichte Thalamonal - ein mittlerweile nicht mehr vertriebenes Präparat - enthielt unter anderem 0,1 mg Fentanyl, ein starkes Opioid mit nach der Aussage aller Sachverständigen atemdepressiver Wirkung.
Der anästhesistische Sachverständige Prof. Dr. T. führte in seinem Gutachten vom 17.10.2002 aus, ein bedeutsamer Effekt des Medikaments auf die Atmung sei angesichts der niedrigen Dosierung auszuschließen. Prof. Dr. A. erklärte bei seiner Anhörung durch den Senat, die Indikation für Thalamonal sei wegen seiner narkotisierenden Wirkung kritisch zu sehen, andererseits sei es in geringer Dosis und intramuskulär gegeben worden.
Die Sachverständigen Prof. Dr. I. und Dr. W. legten in ihrem Gutachten vom 05.08.2004 dar, die atemdepressive Wirkung des im Präparat enthaltenen Fentanyls könne zu einem kritischen Abfall des Blutdrucks mit Atemdepression geführt haben. Die Verabreichung des Präparats ohne vorherige Kontrolle von Herzfrequenz und Blutdruck sei behandlungsfehlerhaft. Anlässlich der Anhörung von Dr. W. wurde diese Problematik mit dem Beklagten zu 1) weiter diskutiert.
Da Prof. Dr. I. und Dr. W. weder die Kausalität dieser Medikation für eine lebensbedrohliche Atemdepression als nachgewiesen ansehen, noch von einem groben Fehler sprechen, kann die Frage des Behandlungsfehlers letztlich offenbleiben. Eine Rolle spielt die Wirkung des Präparats aber hinsichtlich der Überwachung der Patientin.
d) Frau S. wurde zwischen 19.00 Uhr und 20.30 Uhr unzureichend überwacht. In diesem Zeitraum hätte sie regelmäßig untersucht und hättendie Vitalwerte gemessen werden müssen. Dies ist unterblieben.
Trotz gewisser Nuancen zwischen dem chirurgischen Sachverständigen Prof. Dr. A. einerseits und den HNO-Sachverständigen Prof. Dr. I. und Oberarzt Dr. W. andererseits hinsichtlich des Vorliegens und der Bedeutung eines Stridors belegen die Gutachten aus beiden Fachrichtungen ein Überwachungsdefizit.
aa) Der Sachverständige Prof. Dr. A. führte in seinem ersten Gutachten vom 23.01.2003 aus, aufgrund fehlender ausreichender Dokumentation sei es sehr fraglich, ob die unmittelbare intensivmedizinische Überwachung der Patientin lückenlos und adäquat gewesen und der beidseitigen Rekurrensparese und den damit verbundenen Risiken gerecht geworden sei.
Bei einer Stimmbandnervenlähmung beidseits seien eine engmaschige klinische Kontrolle sowie eine Monitorüberwachung im Aufwachraum oder sogar auf einer Intensiveinheit absolut indiziert.
Bei seiner Anhörung durch das Landgericht gab Prof. Dr. A. an, aus seiner Sicht hätte Frau S. zwingend mindestens alle 30 Minuten von einem Arzt kontrolliert werden müssen. Vor dem Senat ergänzte er seine Aussage dahingehend, dass zusätzlich alle fünf Minuten eine fachkundige Person die Patientin hätte untersuchen müssen. Wenn allerdings bis 19.00 Uhr kein Stridor aufgetreten sei, wäre eine Überwachung im Fünfminutenabstand nicht mehr erforderlich gewesen, da die Stimmbänder bis dahin Zeit gehabt hätten, anzuschwellen.
bb) Die Sachverständigen Prof. Dr. I. und Dr. W. forderten in ihrem Gutachten vom 05.08.2004 bei beidseitiger Rekurrensparese eine ununterbrochene Überwachung der Patientin unter den Bedingungen einer Intensivüberwachungs- beziehungsweise Intensivbehandlungsstation. Eine kontinuierliche Überwachung der Vitalfunktionen hinsichtlich Herzfunktion, Kreislauf und vor allem Atmung sowie die ununterbrochene Anwesenheit geschulten Pflegepersonals müsse gewährleistet sein. Beurteilungskriterien seien neben der subjektiven Atemnot die Wahrnehmung eines Stenoseatmungsgeräusches im Sinne eines Stridors. Der Anstieg der Herzfrequenz und/oder des arteriellen Blutdrucks sei ein Hinweis auf zunehmenden Stress als Folge der vermehrten Atemarbeit.
Das Fehlen einer Dokumentation der Vitalparameter zwischen 19.00 Uhr und 20.00 Uhr sowie 20.00 Uhr und 20.30 Uhr deute auf einen eklatanten Mangel der an sich gebotenen Überwachung hin. Die anhaltend tachykarde Herzaktion und der grenzwertig hohe Blutdruck hätten eine Fortsetzung der Überwachung über 19.00 Uhr hinaus zwingend indiziert. Die Verabreichung eines Neurolept-Analgetikums um 20.00 Uhr hätte eine vorherige sowie eine wiederholte nachfolgende Kontrolle der Vitalparameter erforderlich gemacht.
Im Anhörungstermin vom 16.12.2004 bestätigte der Sachverständige Dr. W. diese Anforderungen.
cc) Ob sich nach 19.00 Uhr ein Stridor entwickelte, steht nicht fest. Die bekannten Tatsachen sprechen aus der Sicht der Hals-Nasen-Ohrenheilkunde eher dagegen.
Prof. Dr. A. erklärte in seiner Anhörung durch den Senat zwar, dem endolaryngealen Befund von Dr. F. entnehme er, dass um 20.30 Uhr ein Stridor vorgelegen habe. Zur Abklärung wäre aber das Gutachten eines HNO-Arztes sinnvoll.
Die Sachverständigen Prof. Dr. I. und Dr. W. gaben an, dass sich aus dem Befund zum Zeitpunkt des Atemstillstands zwar auf eine enge Stimmritze, nicht aber auf einen Stridor schließen lasse. Auf einen relevanten Stridor zwischen 18.00 Uhr und 19.00 Uhr hätte man sicher reagiert, so dass davon auszugehen sei, dass er zu diesem Zeitpunkt nicht vorgelegen habe.
Der Sachverständige Prof. Dr. A. führte bei seiner Anhörung vor dem Senat aus, aus seiner klinischen Erfahrung hätte ein Stridor schon um 20.00 Uhr auftreten müssen, wenn er um 20.30 Uhr bestand. Den Zeitraum vom Beginn des Stridors bis zur kritischen Hypoxie schätze er auf ein bis zwei Stunden.
Dr. W. bestätigte bei seiner Anhörung, dass ein Stridor vor dem Atemstillstand sich länger hingezogen haben müsste und andererseits sehr auffällig sei.
Dies deutet darauf hin, dass er die Mitpatientin zu einem früheren Alarm veranlasst haben würde und von der Schwester bei der Gabe des Schmerzmittels um 20.00 Uhr bemerkt hätte werden müssen.
Das dokumentierte blasse Aussehen der Frau S. um 20.30 Uhr entspricht zudem nicht der von den Sachverständigen beschriebenen Zyanose nach einem langandauernden Stridor.
dd) Der Senat schließt sich der umfassend begründeten Auffassung der Sachverständigen Prof. Dr. I. und Dr. W. an, dass unabhängig von der Entwicklung eines Stridors nach 19.00 Uhr und insbesondere nach der Verabreichung von Thalamonal eine laufende Überwachung von Frau S. erforderlich war.
Ein Widerspruch zu den Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. A. liegt bei einer Wertung von dessen Ausführungen in der Anhörung vom 29.01.2004 im Gesamtzusammenhang nicht vor. Dass eine kurzfristige Kontrolle -wenn auch vielleicht nicht in einem Abstand von fünf Minuten - selbst bei dem Nichtauftreten eines Stridors um 19.00 Uhr weiter angezeigt war, ergibt sich aus Professor Dr. A.s Antworten auf die Frage nach der Indikation für eine Schutzintubation aus S. 14 und nach einem groben Fehler auf S. 15 des Protokollls. Zudem weist auch er kritisch auf die Gabe von Thalamonal um 20.00 Uhr hin.
Es ist nicht ersichtlich, dass überhaupt eine weitere Kontrolle geplant war. Wenn die Mitpatientin nicht gerufen hätte, ist unklar, wann die Nachtschwester wieder nach Frau S. geschaut hätte. Geht man im konkreten Fall von einem Kontrollabstand von 10 oder 20 Minuten aus, hätte die Schwester um 20.10 Uhr und 20.20 Uhr beziehungsweise 20.20 Uhr nach der Patientin schauen und die Vitalparameter kontrollieren müssen.
ee) Durch das Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. T. werden die angeführten Stellungnahmen aus den Gebieten der Chirurgie beziehungsweise Hals-Nasen-Ohrenheilkunde nicht entkräftet.
Der Sachverständige Prof. Dr. T. führte in seinem Gutachten vom 17.10.2002 zwar aus, aus anästhesiologischer Sicht gebe es keine Belege dafür, dass bei der postoperativen Überwachung Fehler gemacht wurden, die zu der hypoxischen Hirnschädigung führten. Er fügte jedoch hinzu, allerdings seien die Ereignisse in der halben Stunde vor dem Zwischenfall nicht belegt. Mangels detaillierter Dokumentation müsse offen bleiben, ob die Bewältigung des Notfalls den anerkannten Regeln ärztlichen Handelns in allen Belangen entsprochen habe. Hinsichtlich der Behandlung der Stimmlippenlähmung hat Prof. Dr. T. selbst auf die Stellungnahme eines Hals-Nasen-Ohrenarztes verwiesen.
Der Hinweis von Prof. Dr. T., die Patientin hätte auf eine relevante Atemnot aufmerksam machen können, wird dadurch relativiert, dass sie nicht sprechen konnte und keine dauernde Überwachung erfolgte.
ff) Die Sachverständigen haben sich jeweils auf den medizinischen Stand im Jahr 1985 bezogen und die damals aktuelle Literatur berücksichtigt. Zwar ist richtig, dass Dr. W. zu diesem Zeitpunkt noch nicht medizinisch tätig war, während Prof. Dr. A. und Prof. Dr. I. erst am Anfang ihrer ärztlichen Laufbahn standen. Der Senat hat jedoch keinen Anhaltspunkt dafür, dass die Sachverständigen geprägt durch den heutigen Standard in großen Kliniken überhöhte Anforderungen an die ärztliche Sorgfalt in einem kleinen Krankenhaus vor knapp zwanzig Jahren gestellt haben. Die dementsprechenden Einwände der Beklagten blieben allgemein. Eine konkrete, durch Literatur belegte Darstellung eines niedrigeren als des von den Sachverständigen geforderten Überwachungsstandards bei einer Rekurrensparese zum Operationszeitpunkt liegt nicht vor, obwohl sie den Beklagten leicht hätte möglich sein müssen.
e) Den Nachweis eines groben Fehlers sieht der Senat als nicht erbracht an.
Prof. Dr. A. erklärte bei seiner Anhörung am 29.01.2004, wenn der Patient bei der Abendvisite keinen Stridor hatte und ordnungsgemäß an den Monitor angeschlossen war, könne er nicht von einem groben Fehler ausgehen.
In ihrem schriftlichen Gutachten erörterten die Sachverständigen Prof. Dr. I. und Dr. W. zwar die Frage, beantworten sie für 1985 aber nicht, während sie gemessen am Stand 2004 einen groben Fehler durch mangelhafte Überwachung eindeutig bejahen.
Bei seiner mündlichen Anhörung erklärte Dr. W., wegen der beidseitigen Rekurrensparese und den vorher schon nicht normalen Werten, wäre das Unterlassen einer Überwachung der Patientin zwischen 19.00 Uhr und 20.30 Uhr etwas, was einem gewissenhaften Arzt nicht unterlaufen dürfe.
Angesichts der Tatsache, dass angenommen werden kann, dass während der Versorgung der Bettnachbarin um 19.30 Uhr und um 20.00 Uhr eine Pflegekraft nach Frau S. schaute und offenkundig keine besorgniserregenden Feststellungen traf, vermochte sich der Senat vom Vorliegen eines groben Fehlers bei der Überwachung nicht zu überzeugen.
f) Die laufende Erhebung der Vitalparameter und die Beobachtung der Patientin auf Hinweise auf Atemschwierigkeiten stellt die Erhebung von Befunden dar, deren Erhebung ärztlicherseits geschuldet war, um eine Gefährdung der Frau S., um deren Eintritt im Prozess gestritten wird, zu verhindern.
4) Bei einer dauernden Überwachung der Patientin, aber auch bei einer Kontrolle im Abstand von fünf, zehn Minuten und im konkreten Fall auch 20 Minuten (20.20 Uhr!) hätte sich mit hinreichender Wahrscheinlichkeit vor dem Eintritt des Kammerflimmerns ein reaktionspflichtiger positiver Befund ergeben.
Der Senat geht aufgrund der eingeholten Gutachten davon aus, dass bei einer regelmäßigen Nachschau bei Frau S. eine Sauerstoffmangelversorgung mit überwiegender Wahrscheinlichkeit erkennt worden wäre. Beim Auftreten eines Stridors oder bei einem sonst sichtbaren Ringen nach Luft liegt das ebenso wie bei einer Blauverfärbung der Patientin auf der Hand. Aber auch eine kritische Verschlechterung des Atemantriebs aufgrund einer Hyperkapnie, die sich nicht in einer Zyanose auswirkt, hätte laut Dr. W. an der verminderten Atmung der Patientin wahrscheinlich erkannt werden können. Dies entspricht den Erfahrungen des Senats aus Parallelfällen, in denen Schläfrigkeit beziehungsweise Bewusstseinsstörungen das medizinisch geschulte Personal auf die Verschlechterung der Blutgaswerte hinwiesen.
Die kritische Verschlechterung hätte sich nach der Darstellung von Dr. W. 10 bis 15 Minuten vor dem Eintritt des Kammerflimmerns gezeigt. Da letzteres um 20.30 Uhr bereits vorlag, spricht die überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür, dass die dramatische Entwicklung bei einer Kontrolle um 20.20 Uhr erkannt worden wäre.
Die hinreichende Wahrscheinlichkeit eines reaktionspflichtigen Befundergebnisses ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes unabhängig von der Kausalitätsfrage zu beurteilen. Sie darf insbesondere nicht mit der Begründung verneint werden, der Gesundheitsschaden könne im Ergebnis auch infolge eines völlig anderen Kausalverlaufs - hier eines Herzinfarkts - eingetreten sein. In den Fällen, in denen der Arzt gegen seine Pflicht zur Befunderhebung verstoßen hat, kommen nämlich wegen des Fehlens der sonst als Beweismittel zur Verfügung stehenden Untersuchungsergebnisse typischerweise verschiedene Schadensursachen in Betracht. Von welcher dieser möglichen Ursachen auszugehen ist, ist Gegenstand des Kausalitätsbeweises, der bei Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen der Behandlungsseite auferlegt wird (BGH NJW 2004, 1871).
Bei Erkennen einer bedrohlichen Einschränkung der Atmung hätte zwingend intubiert werden müssen, wie der Sachverständige Dr. W. bestätigte. Dies entspricht dem Kenntnisstand des Senats aus zahlreichen anderen Verfahren. Alles andere wäre ein grober Fehler.
5) Die Beklagten müssen nach den von der Rechtsprechung zum Befunderhebungsfehler entwickelten Grundsätzen für die Folgen der Hirnschädigung von Frau S. einstehen, obwohl die Klägerinnen einen Kausalitätsnachweis nicht führen können.
Die Ursache des Kammerflimmerns hat sich nicht klären lassen. Damit bleibt offen, ob eine Sauerstoffmangelversorgung (oder ein Kohlendioxidüberschuss) dessen Auslöser oder Folge bildete.
a) Nach der Meinung aller Sachverständigen ist ein Herzinfarkt unwahrscheinlich.
Die vorliegenden Elektrokardiogramme ergeben keinen Hinweis auf einen Herzinfarkt, wie Prof. Dr. T. in seinem Gutachten vom 17.10.2002 unter Hinweis auf den Kardiologen Prof. Dr. H. darlegte. Die Veränderung der Enzyme GOT, LDH, CK und CK-MB weise zwar auf eine Schädigung von Herzmuskelzellen hin, doch könne dieser Schaden auch Resultat des Kammerflimmerns und einer möglicherweise durchgeführten Herzdruckmassage sein. Der Sachverständige Prof. Dr. A. erklärte bei seiner Anhörung durch das Landgericht, er habe keinen Hinweis auf eine koronare Herzkrankheit gefunden.
Die Sachverständigen Prof. Dr. I. und Dr. W. führten in ihrem Gutachten vom 05.08.2004 aus, der geringfügige Anstieg der Herzenzyme könne durch die Reanimationsmaßnahmen erklärt werden. In der Dokumentation fehlten zudem Hinweise auf Behandlungsmaßnahmen unter der Annahme eines akuten Myokardininfarkts.
b) Wahrscheinlicher als auf einen Herzinfarkt ist das Kammerflimmern auf einen Atemstillstand zurückzuführen.
Die Sachverständigen Prof. Dr. I. und Dr. W. führten aus, die durch die Stimmlippenlähmung bestehende Einschränkung der Atmung könne sich verstärkt haben. Eine denkbare Hypovolämie durch die vergleichsweise geringe Infusionsmenge sowie die Verabreichung von Thalomonal könne zu einer Dekompensation in Gestalt eines unverhältnismäßigen Blutdruckabfalls und einer Ateminsuffizienz geführt haben, die schließlich in das Kammerflimmern mündete.
Der Sachverständige Prof. Dr. A. erklärte, Sauerstoffmangel könne die Rhythmusstörungen des Herzens ausgelöst haben.
Ausgeschlossen wird dies auch nicht von Prof. Dr. T..
c) Eine Umkehr der Beweislast hinsichtlich der Kausalität des Befunderhebungsfehlers für den eingetretenen Gesundheitsschaden erfolgt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes, wenn sich bei Abklärung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein reaktionspflichtiges positives Ergebnis gezeigt hätte und sich die Verkennung dieses Befundes als fundamental oder die Nichtreaktion hierauf als grob fehlerhaft darstellen würde (BGH NJW 2004, 1871). Diese Voraussetzungen liegen vor, wie oben unter 4) dargelegt wurde.
Davon ausgehend müssten die Beklagten zudem beweisen, dass die Ursache des Atemstillstandes nicht auf einer sich operationsbedingt entwickelnden Atemnot beruhte (BGH a. a. O.). Dieser Nachweis ist - wie dargelegt - nicht möglich.
d) Die von den Beklagten angestellten Betrachtungen über die Gefahren einer Reanimation vermögen ihre Haftung nicht auszuschließen.
Laut Prof. Dr. A. besteht auch bei ordnungsgemäßer Überwachung des Patienten auf der Intensivstation aufgrund des engen Zeitkorridors und der im konkreten Fall erschwerten Intubation die Möglichkeit eines bleibenden Schadens (Anhörung vom 29.01.2004). Bei einer geplanten Intubation könne man aber den Eintritt des Kammerflimmerns verhindern, wenn es Folge der Hypoxie und nicht Ausdruck eines Herzinfarkts sei.
Auch der Sachverständige Dr. W. hat den Eintritt eines Hirnschadens allein aufgrund einer längeren Reanimation als möglich angesehen.
Der Zweck der engmaschigen Kontrolle besteht gerade darin, bei sich steigernden Atembeschwerden sofort eingreifen zu können. Die Möglichkeit, dass bei einem früheren Eingreifen die Reanimation so lange gedauert hätte, dass dennoch ein Hirnschaden eingetreten wäre, lässt sich nicht ausschließen, bewegt sich jedoch im Bereich der Spekulation.
Da es sich um einen völlig anderen Geschehensablauf handelt, ist der Senat der Auffassung, dass eine derartige Entwicklung von den Beklagten bewiesen werden müsste. Letztlich kommt es aber darauf aufgrund des Befunderhebungsfehlers und der damit verbundenen Beweislastumkehr hinsichtlich der Kausalität nicht an.
6) Dass der Beklagte zu 2) neben dem Beklagten zu 1) haftet und der Anspruch nicht verjährt ist, hat das Landgericht mit zutreffender Begründung festgestellt. Einwendungen hiergegen wurden in der Berufung nicht erhoben.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 97 Abs. 1 ZPO.
Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf den §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
Der Senat lässt die Revision der Beklagten gemäß § 543 Abs. 2 Nr. 1 ZPO wegen grundsätzlicher Bedeutung zu. Die Frage, ob ein Befunderhebungsfehler mit den sich daraus ergebenden Beweiserleichterungen in einem Fall angenommen werden kann, in dem es nicht um eine einzelne Untersuchung, sondern die Gestaltung einer postoperativen Überwachung durch eine Serie von Einzelkontrollen geht, bedarf der Klärung durch den Bundesgerichtshof. Es handelt sich nicht um einen Einzelfall, sondern eine Konstellation, die gerade im Bereich der Intensivmedizin ständig auftreten kann. Angesichts der sehr weitreichenden Beweiserleichterung, die nach BGH NJW 2004, 1871 bei Annahme eines Befunderhebungsfehlers selbst in dem Falle eingreifen würde, dass ein Herzinfarkt die wahrscheinlichere Ursache des Kammerflimmerns dargestellt hätte, sind die Grenzen dieser Rechtsfigur für die Rechtsprechung von großer Bedeutung.
Ende der Entscheidung
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