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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht München
Beschluss verkündet am 04.07.2005
Aktenzeichen: 1 W 1010/05
Rechtsgebiete: ZPO


Vorschriften:

ZPO § 406
Mehrere Tatsachen, die für sich betrachtet die Besorgnis der Befangenheit eines Sachverständigen (noch) nicht rechtfertigen, können bei der Gesamtschau Anlass geben, an seiner Unvoreingenommenheit zu zweifeln (hier: mehrere Ungenauigkeiten bei der Sachverhaltsfeststellung zu Lasten einer Partei und moralische Wertungen, die sich aus der Diktion ergeben).
Beschluss

des 1. Zivilsenats des Oberlandesgerichts München

vom 04.07.2005

Aktenzeichen: 1 W 1010/05

In dem Rechtsstreit

wegen Schmerzensgeld u. a.

hier: Ablehnung des Sachverständigen

Tenor:

1. Auf die sofortige Beschwerde des Beklagten werden der Beschluss des Landgerichts Landshut vom 17.01.2005 und der Nichtabhilfebeschluss vom 16.02.2005 insoweit aufgehoben, als sie die Ablehnung des Sachverständigen Dr. S. wegen der Besorgnis der Befangenheit betreffen.

Der Ablehnungsantrag des Beklagten gegen den Sachverständigen Dr. S. wird für begründet erklärt.

2. Die weitergehende Beschwerde wird zurückgewiesen.

3. Von den Kosten des Beschwerdeverfahrens tragen die Klägerin 2/5 und der Beklagte 3/5.

4. Der Wert des Beschwerdeverfahrens beträgt 5.439,01 €.

Gründe:

1.

Die Klägerin macht gegenüber dem Beklagten, einem Zahnarzt, vor dem Landgericht Landshut Schadenersatz- und Schmerzensgeldansprüche geltend.

Das Landgericht beauftragte den Zahnarzt Dr. Rüdiger S. mit der Erstellung eines Sachverständigengutachtens.

Am 12.11.2004 erstellte Dr. S. ein vierunddreißigseitiges Gutachten (Bl. 67/100 d. A.), das dem Beklagtenvertreter am 19.11.2004 zugestellt wurde.

Mit Schriftsatz vom 03.12.2004 (Bl. 102/114 d. A.), auf den der Senat wegen der Einzelheiten Bezug nimmt, lehnte der Beklagte den Sachverständigen Dr. S. wegen Besorgnis der Befangenheit ab und beantragte, ihn nicht zu entschädigen. Nach der Meinung des Beklagten hätte er oder sein Anwalt zum Untersuchungstermin geladen werden müssen. Der Sachverständige habe streitigen Sachvortrag der Klägerin als wahr unterstellt. Zudem deute die Diktion von Dr. S. auf Voreingenommenheit gegenüber ihm hin.

Mit Beschluss vom 17.01.2005, dem Beklagten zugestellt am 20.01.2005, wies das Landgericht Landshut den Befangenheitsantrag zurück. Es führte aus, die ärztliche Untersuchung durch den Sachverständigen sei nicht parteiöffentlich. Eine unzulässige Beweiswürdigung durch den Sachverständigen liege nicht vor. Soweit der Sachverständige Angaben der Klägerin verwerte, sei dies im Gutachten erkennbar. Die behauptete fehlende Kompetenz des Sachverständigen stelle keinen Ablehnungsgrund dar.

Mit Schriftsatz vom 03.02.2005 legte der Beklagte gegen den Beschluss vom 17.01.2005 sofortige Beschwerde ein. Der Beklagte brachte vor, der Sachverständige sei befangen, weil er streitigen Sachvortrag der Klägerin der Begutachtung zugrunde gelegt habe.

Der Sachverständige äußerte sich in einem "Ergänzungsgutachten" vom 14.02.2005 zum Ablehnungsantrag (Bl. 131/146 d. A.).

Die Klägerin beantragt, die sofortige Beschwerde zurückzuweisen.

Das Landgericht half der sofortigen Beschwerde nicht ab (Beschluss vom 16.02.2005).

Der Senat sandte dem Sachverständigen Dr. S. am 19.04.2005 eine Zusammenstellung von ihm als klärungsbedürftig angesehener Punkte mit der Bitte um Beantwortung binnen vier Wochen zu (Bl. 149 d. A.). Eine Reaktion des Sachverständigen erfolgte nicht.

2.

Die zulässige sofortige Beschwerde hat hinsichtlich des Ablehnungsantrags Erfolg, weil Umstände vorliegen, die geeignet sind, beim Beklagten Misstrauen gegen die Unparteilichkeit des Sachverständigen zu rechtfertigen. Dies ergibt sich aus verschiedenen, unter c) und d) angeführten Tatsachen, die jede für sich betrachtet die Besorgnis der Befangenheit noch nicht rechtfertigen würden. Bei einer Gesamtschau besteht jedoch aus der Sicht einer ruhig und vernünftig denkenden Partei Anlass, an der Unvoreingenommenheit des Sachverständigen zu zweifeln.

Darauf, ob der Sachverständige wirklich befangen ist, kommt es nicht an.

a) Die Rügen, die der Beklagte im Zusammenhang mit der Untersuchung der Klägerin und der Darstellung von deren Vorbringen erhebt, rechtfertigen den Anschein der Befangenheit allerdings nicht.

aa) Die unterlassene Verständigung des Beklagtenvertreters zur (zahn-)ärztlichen Untersuchung stellt nach der ständigen Rechtsprechung des Senats keinen Ablehnungsgrund dar (so auch die übereinstimmende Rechtsprechung anderer Oberlandesgerichte, siehe zum Beispiel Zöller/Greger, 25. Aufl., § 406 ZPO Randnr. 9 m. w. N.).

bb) Dass der Sachverständige bestrittene Behauptungen der Klägerin teilweise nicht unter dem Gliederungspunkt "Klagen der Patientin", sondern unter "Vorgeschichte" wiedergibt, ist unbedenklich, soweit klar zu erkennen ist, dass es sich um einseitiges Vorbringen handelt. Die Distanz des Sachverständigen zu den Schmerzbekundungen der Klägerin wird dabei verschiedentlich im Gutachten erkennbar (zum Beispiel S. 16/17: "Die starke Beeinträchtigung des Wohlbefindens durch das zahnärztliche Behandlungsergebnis wird mit ausgesprochen hohem Nachdruck vorgetragen").

b) Inhaltliche Einwendungen gegen das Gutachten müssten durch die ergänzende Befragung des Sachverständigen geklärt werden.

c) Der Beklagte weist jedoch zu Recht darauf hin, dass der Sachverständige in mehreren Fällen streitigen Sachvortrag der Klägerin als bewiesen angesehen hat.

aa) Der Sachverständige führt die Angaben der Klägerin in der "Anamnese" vom 07.03.2002 im Rahmen der Erhebung eines Funktionsstatus (Anlage B 1), dass sie seit drei Jahren manchmal Schmerzen im linken Kiefergelenk habe, nicht in seinem Gutachten auf. Die Klägerin hat die Anamnese und die "Vorgeschichte", in der sie "Schmerzen oder Beschwerden" in den Kiefergelenken ausdrücklich bejaht, selbst unterschrieben. Die Feststellung auf Seite 27 des Gutachtens, die Patientin sei vor Behandlungsbeginn beim Beklagten glaubhaft völlig schmerzfrei gewesen, lässt sich damit nicht vereinbaren. Der Sachverständige bringt in seiner Stellungnahme vom 14.02.2005 vor, die Wiedergabe der Dokumentation in der Karteikarte mit dem Hinweis auf das leicht druckdolente linke Kiefergelenk (Seite 8 des Gutachtens) genüge. Hinsichtlich der rechten Seite, um die es im Rechtsstreit gehe, würde sich aus den Unterlagen kein Hinweis auf eine Schmerzsituation ergeben. Dies ist aber nicht mit einer völligen Schmerzfreiheit gleichzusetzen.

bb) Hinsichtlich des Zeitpunkts, zu dem sich die Klägerin während der Behandlung erstmals über stärker werdende Schmerzen beklagte, geht der Sachverständige auf S. 27 seines Gutachtens als nachgewiesen davon aus, dies sei zum Zeitpunkt des Zementierens der Versorgung im Oberkiefer (also am 31.05.2002) gewesen. Das wurde vom Beklagten aber bestritten; seine Dokumentation (Anlage B 1) belegt das nicht. In seiner Stellungnahme zum Ablehnungsantrag geht der Sachverständige hierauf nicht konkret ein.

cc) Auf Seite 27 des Gutachtens spricht der Sachverständige davon, die Klägerin habe den Beklagten nach dem provisorischen Eingliedern der Kronen und Brücken, darauf hingewiesen, sie beiße "linksseitig auf Luft". Dies hat der Beklagte seit Beginn des Prozesses bestritten. Ein Hinweis hierauf findet sich auch nicht in seiner Dokumentation. Der Sachverständige hat sich zu diesem Vorwurf in seiner Stellungnahme nicht geäußert.

dd) Auf Seite 27 des Gutachtens schreibt der Sachverständige ferner, es sei nicht nachvollziehbar, dass der Beklagte die Versorgungen im rechten und linken Oberkiefer gegen den Willen der Klägerin definitiv zementiert habe. Der Beklagte hat bestritten, Behandlungsschritte gegen den Willen der Klägerin vorgenommen zu haben. Auch in der Dokumentation des Beklagten findet die Aussage des Sachverständigen keine Stütze.

ee) Aus S. 29 des Gutachtens führt der Sachverständige aus, es sei fachlich nicht nachvollziehbar, warum der Beklagte die massive Schwellung im rechten Kiefergelenksbereich ignoriert habe.

Das eine Schwellung vorlag, stellt eine Behauptung der Klägerin dar, die sie nach Aktenlage erstmals bei der Untersuchung durch den Sachverständigen aufstellte. Der Sachverständige geht in seiner Stellungnahme vom 14.02.2005 auf diesen Punkt nicht ein.

d) Das Gutachten vom 12.11.2004 enthält in der vom Sachverständigen gebrauchten Diktion für den Beklagten nachteilige Wertungen, die über eine fachliche Aussage hinausgehen.

Der Sachverständige schreibt, der "Leidensweg der Patientin" habe mit der Neuversorgung durch den Beklagten begonnen; auf ihre Beschwerden hin sei sie "vertröstet" worden (Seite 27 des Gutachtens). Die Dokumentationsweise des Beklagten bezeichnet er als "verwunderlich" (Seite 29 des Gutachtens), Schließlich wirft er ihm einen Verstoß gegen die "ärztliche Ethik" vor (Seite 31 des Gutachtens).

Der Senat fordert von medizinischen Sachverständigen keine äußerste Zurückhaltung bei der Wortwahl. Die klare Bezeichnung eines Behandlungsfehlers statt verklausulierter Distanzierungen ist erwünscht.

Die Häufung der moralisch abwertenden Urteile über das Verhalten des Beklagten muss aus dessen Sicht jedoch im Zusammenhang mit zweifelhaften Feststellungen des Sachverständigen zum äußeren Ablauf (siehe oben c) gesehen werden. Insgesamt entsteht in der Tat der Eindruck der Voreingenommenheit.

3.

Hinsichtlich des Sachverständigenhonorars hat die Beschwerde keinen Erfolg.

Der Entschädigungsanspruch des wegen des Inhalts seines Gutachtens erfolgreich abgelehnten Sachverständigen entfällt nur bei vorsätzlicher oder grob fahrlässiger Pflichtverletzung (Thomas/Reichold, 26. Aufl., § 413 ZPO Randnr. 1 m. w. N.). Diese Voraussetzung sieht der Senat nicht als nachgewiesen an.

4.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 92 Abs. 1, 97 Abs. 1 ZPO.

Der Wert des Beschwerdeverfahrens setzt sich aus der Summe der beiden Anträge zusammen. Das Interesse des Beklagten an der Ablehnung des Sachverständigen bewertet der Senat nach § 3 ZPO mit 1/4 des Streitwerts der Hauptsache von 8.350,-- €, das sind 2087,50 €. Das Sachverständigenhonorar beträgt 3.351,51 €.



Ende der Entscheidung

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